«Dort, wo wir stehen, leben, arbeiten und wohnen, wollen wir die Gesellschaft ein Stück gerechter und rebellischer machen»
von Violetta Bock
Im Juli 2014 taten sich ein paar Menschen zusammen, um aus eigener Kraft die Rothe Ecke zu gründen und damit eine gemeinsame Vision umzusetzen.
Die Rothe Ecke ist ein Eckladen mit Schaufensterfronten zu beiden Seiten mitten im Stadtteil Rothenditmold in Kassel. Daher hat sie auch ihren Namen. Das Rot passt aber auch ganz gut zum Inhalt. Es ging eben nicht darum den xten linken Szeneladen aufzubauen, sondern einen Ort zu schaffen, an dem sich Nachbar:innen wohl fühlen und Infrastruktur vorhanden ist für gemeinsame Organisierung.
Das ist in Rothenditmold dringend nötig. Nicht umsonst ist in dem Stadtteil mit etwa 7000 Einwohner:innen die Wahlbeteiligung traditionell am niedrigsten. Bei der letzten Kommunalwahl schenkten gerade mal 23 Prozent ihr Kreuz einer Partei. Und da sind die 30 Prozent, die aufgrund nicht passender Staatsbürgerschaft von der Wahl ausgeschlossen sind, noch nicht mitgerechnet. Es gibt natürlich immer verschiedene Gründe, warum Menschen nicht wählen gehen, aber einer ist eben auch, dass es all die Jahre keinen großen Unterschied gemacht hat.
Im zweitjüngsten Stadtteil Kassels weiß man, was Armut bedeutet. Die Arbeitslosenquote liegt bei 17 Prozent, 36 Prozent der Familien sind alleinerziehend, 60 Prozent haben einen Migrationshintergrund, alles Faktoren, die zu einem erhöhten Armutsrisiko führen. Das führt nicht automatisch dazu, sich gegen das System aufzulehnen. Die Menschen leiden in der Regel eben nicht unter «dem System», sondern unter schlechten Löhnen, hohen Mieten, schlechter Luft. Hier setzt die Rothe Ecke an. Sie läuft komplett ehrenamtlich, ohne Stellen, ohne eine Organisation im Rücken, ohne staatliche Fördergelder.
Als vor sieben Jahren die Idee zur Gründung eines Stadtteilladens entstand ging es darum linke Blasen platzen zu lassen und rauszugehen in die Nachbarschaften und Betriebe, um Basisaufbau voranzutreiben. In der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung war das mal selbstverständlich. Heute ist vielen das Handwerkzeug und die Geduld und Beharrlichkeit dafür abhanden gekommen. Die Rothe Ecke ist also der bewusste Versuch dort Erfahrungen zu sammeln und Klassenpolitik zu betreiben. In den USA läuft das unter dem Stichwort Community Organizing, grob übersetzt: Nachbarschaftsorganisierung, weil es um mehr geht als in einem Stadtteil präsent zu sein. Es bedeutet, nach den Themen der Menschen zu suchen, sie zu bündeln, gemeinsam anzugehen und Ziele durchzusetzen, die die Lebenssituation direkt verbessern. Zu lernen, wie man sich gemeinsam wehren kann. Die Rothe Ecke hat dabei durchaus einiges vorzuweisen – sei es die gerettete Busverbindung, die Ausstellung von Eingangsbestätigungen beim Jobcenter, Öffentlichkeit für die katastrophale Situation beim Jobcenter in der Pandemie oder für die fehlenden Kitaplätze.
Gerade in Zeiten, in denen viele Jobs befristet und unsicher sind und Zeit ein knappes Gut ist, ist die Stadtteilebene der Ort, wo man niedrigschwellig und konstant Orte der Verbindung schaffen kann. Im Unterschied zu 2014 erleben wir heute mit Fridays for Future wieder Massenbewegungen, doch die Hinwendung zur Klasse ist noch am Anfang. Es gibt erfolgversprechende Pflänzchen – etwa wenn Klimaaktivisten und Gewerkschafterinnen bei Bus und Bahn zusammen kommen oder Tierrechtsaktivistinnen aus der Bewegung für eine Agrarwende mit den Arbeitern in der Tierindustrie. Deutsche Wohnen Enteignen ist im Moment eine der erfolgversprechendsten Massenbewegungen mit Verankerung in der Klasse. Aber nicht überall ist Berlin.
Um Menschen mit wenig Ressourcen politisches Engagement zu vereinfachen, ist die Rothe Ecke nicht nur ein Ort, wo sich Nahverkehrs- und Erwerbsloseninitiative treffen. Es geht auch darum, kollektive Ressource zu sein, sei es durch einen Kopierer, WLAN oder Foodsharing – also die Verteilung frischer Lebensmittel, die ansonsten im Müll landen. Und neben den konkreten Initiativen werden in der Bildungsreihe aktuelle Ereignisse und theoretische Fragen diskutiert, um größere Zusammenhänge herzustellen und zu verstehen, warum Ausbeutung, Unterdrückung und die Ausplünderung der Natur im Kapitalismus kein Ende finden werden.
Manchen scheint diese Arbeit kleinteilig. Und natürlich besteht bei so einem Fokus ebenso wie bei einem betrieblichen Schwerpunkt immer die Gefahr, das große Ganze aus den Augen zu verlieren. Die Rothe Ecke versucht, dem auf verschiedene Art entgegenzuwirken: Einerseits indem bewusst Verbindungen und Netzwerke hergestellt werden zu verschiedenen Bewegungen. Andererseits, indem bundesweit der Kontakt zu ähnlichen Ansätzen hergestellt wird. Wer Basisbewegungen für wichtig hält, sollte also wissen, dass genau so eine Arbeit ein wichtiger Teil davon ist. Alles andere wäre großspurig.
Aus: SOZ, Sozialistische Zeitung, Juli/August 2021 https://www.sozonline.de/2021/07/die-rothe-ecke-kleiner-raum-mit-grosser-mission/