von Ingo Schmidt

Weite Teile der Welt werden von Autokraten regiert. Putin ist der Schlimmste von allen, Xi nicht viel besser und sogar Amerika, der Hort der Freiheit, ist in die Hände eines Möchtegernkönigs gefallen. Nur das von unbeugsamen Demokraten bewohnte Europa leistet der Autokratie Widerstand. Angeführt von den Staats- bzw. Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens.

Ungefähr so lässt sich das Selbstverständnis zusammenfassen, das in den Reden und Interviews von Macron, Merz und Starmer durchklingt. Was der demokratische Widerstand ihrer Meinung nach braucht: Waffen und Wettbewerbsfähigkeit. Für Waffen braucht es Geld, für die Wettbewerbsfähigkeit solide Staatsfinanzen. Was solide ist, entscheiden die Finanzmärkte. Schulden für Waffen und Investitionsanreize, sprich: Steuersenkungen für Unternehmen und reiche Privathaushalte erhöhen die Nachfrage nach Staatsanleihen. Damit werden »gute Schulden« gemacht.

Steuern oder Schulden zu Finanzierung von öffentlichen Diensten und Sozialleistungen senken die Nachfrage, denn sie führen zu »schlechten Schulden«. Wenn die Nachfrage nach Staatspapieren sinkt, steigen die Zinsen bzw. die Finanzierungskosten des Staates. Werden Ausgaben, die mit schlechten Schulden finanziert werden, gesenkt, kann eine Haushaltskrise abgewehrt werden. Unterwerfen sich Regierungen den politischen Vorlieben der Finanzmärkte, können sie ihre Zahlungsfähigkeit retten. Auch wenn sie dadurch in Konflikt mit den Präferenzen ihrer Wählerschaft geraten.

Vom Marktpopulismus zum Kulturalismus

Macron und Starmer wissen vielleicht, dass die Reformprogramme ihrer Amtsvorgänger James Calla­ghan bzw. François Mitterrand den Unmut der Finanzwelt auf sich zogen. Nach massiven Verkäufen von Staatspapieren, steigenden Zinsen und Kapitalflucht gaben sie ihre Programme auf. Sie verprellten ihre Wählerschaft, konnten die Märkte aber »beruhigen«, wie es im Finanzsprech heißt. Callaghan musste seinen Job 1979 an Margaret Thatcher abgeben, Mitterrand verlor seinen kommunistischen Koalitionspartner und ernannte seinen sozialistischen Parteigenossen Fabius zum Premierminister oder besser: Sparkommissar.

Anders als heute ließen sich damals mit dem Versprechen, der austeritären Durststrecke werde Prosperität folgen, noch Wahlen gewinnen. Das war zu Gerhard Schröders Zeiten schon anders. Nach zwei Jahren Rezession, ausgelöst durch einen Investitionsstreik des industriellen Kapitals, schwenkte Schröder vom rot-grünen Minimalreformismus auf Sparlinie ein. Die Agenda 2010 kostete ihn zwar den Job, führte aber zu steigenden Investitionen und Profiten. Die Agenda vertiefte zudem die Kluft zwischen oberen und unteren Einkommen – ebenso wie die Kluft zwischen Regierenden als politischem Arm des Kapitals und der Wählerschaft.

Die Entfremdung zwischen Regierenden und Volk plagt auch Macron, Merz und Starmer. Dass soziale Reformprogramme mit einer, in Angela Merkels erfreulich offenen Worten, »marktkonformen Demokratie« unvereinbar sind, ist ihnen Gesetz. Dass niemand mehr an die Prosperität nach der Austerität glaubt, dürfte ihnen bekannt sein. Ihr Problem: Die Enttäuschung über die gebrochenen Wohlstandsversprechen des von Thatcher und Reagan propagierten Marktpopulismus hat einer neuen Rechten Auftrieb gegeben, die sie verunsichert.
Die völkische Rhetorik der neuen Rechten klingt in ihren Ohren zu sehr nach nationalem Sozialismus, nach einer Abkehr von der den Reichen in die Tasche wirtschaftenden Rationalität der Märkte. Das hindert sie nicht daran, den Rechten in Sachen Migration hinterherzulaufen. Aber so langsam lernen Macron & Co., auch den aggressiven Nationalismus und Rassismus der neuen Rechten zu schätzen – als ideologischen Rohstoff für die Konstruktion von Feindbildern, ohne die man nicht in den Krieg ziehen kann.

Die Wiederherstellung eines sozialen Konsenses durch Umverteilung scheitert am Widerspruch der Finanzmärkte. Macron & Co wissen jedoch, dass auch eine Marktgesellschaft einen Konsens braucht. Den versuchen sie, im Namen der Nation, des Liberalismus und der Demokratie – der westlichen Werte eben – herzustellen. Heraus kommt eine kulturalistische Alternative zum Biorassismus der neuen Rechten.

Die Unterordnung Europas

Die Ideologie des imperialen Universalismus begleitete zuletzt die Kriege gegen Irak und Afghanistan. Nachdem beide zu anhaltenden Bürgerkriegen statt zur Machtübernahme durch »west-freundliche« Regime geführt haben, und dann auch noch der Zusammenbruch der amerikanischen Immobilien- und Aktienbörsen die Weltwirtschaft in eine Krise stürzte, kam die Wende von der US-geführten Universalisierung westlicher Ideen und Geschäftspraktiken zum Kampf gegen die vermeintliche Bedrohung durch autokratische Großmächte.

Diese Wende verändert auch die Verhältnisse innerhalb des Westens. Die amerikanische Forderung, Europa müsse endlich aufrüsten, damit die Amerikaner, an der europäisch-russischen Front entlastet, sich ganz auf den Kampf gegen China konzentrieren können, ist für die Europäer ein Problem.
America First macht unverblümt klar, dass die Europäer nicht Partner im westlichen Bündnis, sondern Vasallen des US-Imperialismus sind. Macron & Co. versuchen, dies durch ihre Selbststilisierung zur letzten Bastion der liberalen Demokratie zu kaschieren.

Die amerikanische Forderung nach europäischer Aufrüstung verschärft aber auch ökonomische Probleme. Weltwirtschaftskrise und Corona-Rezession haben die Staatsverschuldung rund um den Globus sprunghaft in die Höhe getrieben. Die Corona-Pandemie weckte zudem Hoffnungen, dass die Unterwerfung der Staatsausgaben unter das Diktat der Finanzmärkte beendet würde. Dass in Zukunft Menschen vor Profiten kämen.

Die großen Konzerne wussten dies abzuwehren. Sie nutzten den Aufschwung nach den Corona-Lockdowns für massive Preissteigerungen. Der russische Einmarsch und die darauf folgende Umlenkung der Energienachfrage von Russland nach Amerika kam nicht nur lange geäußerten Wünschen amerikanischer Energiefirmen entgegen, er führte auch zu weiteren Preissteigerungen, weil die Förderung von Öl und Gas in den USA deutlich teurer ist als in Russland. Die gestiegenen Energiekosten wurden an die Endverbraucher weitergereicht. Mit einem Extraaufschlag.

Höhere Preise bedeuten sinkende Reallöhne. Hoffnungen auf eine nicht länger der Profitmaximierung unterworfene Wirtschaft waren fehl am Platze. Die Inflation wurde auch zu einem Auftrag an den Staat, die Verschuldung zurückzufahren. Die Zentralbanken beteiligten sich an der Weiterleitung dieses Auftrags: Zwecks Inflationsbekämpfung erhöhten sie die Zinsen und damit die Finanzierungskosten des Staates.
Damit war die Austerität, die für das Management von Weltfinanz- und Corona-Krise suspendiert worden war, wieder auf der Tagesordnung. Von den Finanzmärkten kam das klare Zeichen: Werden die Staatsschulden nicht gesenkt, muss über den Verkauf von Staatsanleihen eine Fiskalkrise ausgelöst und die jeweilige Regierung auf Linie gebracht werden.

Die Wiederkehr der Austerität

Austerität zulasten der Armen hat das Vertrauen in Regierungen als neutrale Mittler zwischen arm und reich schon in der Vergangenheit arg erschüttert. Jetzt müssen die Regierenden zusätzlich auch steigende Rüstungsausgaben verkaufen, also klar machen, weshalb Geld zur militärischen Bedrohung anderer Völker da ist, aber keins zur Linderung der Nöte des eigenen Volkes. Macron hat bei diesem Versuch bereits fünf Ministerpräsidenten verschlissen. Der letzte, Sébastien Lecornu, war nicht einmal vier Wochen im Amt.
Macrons Scheitern vor Augen, hat Starmer seine Sparpläne erstmal zurückgestellt. Damit allerdings für »Nervosität« an den Märkten für Staatsanleihen gesorgt. Die ist Merz bislang erspart geblieben, obwohl er bislang zwischen Ankündigung »harter Reformen« und Versuchen, einvernehmliche, etwas weniger harte Reformen mit seinem sozialdemokratischen Koalitionspartner auszuhandeln, hin und her schwankt.

Merz’ Zaudern ist auch Ausdruck von Richtungskämpfen in der Union. Zwischen denen, die am Selbstbild der Verteidiger der liberalen Demokratie festhalten, und denen, die es mal mit Alice Weidel versuchen wollen. Vor Trumps Wiedereinzug ins Weiße Haus haben Verteidiger der liberalen Demokratie darauf gesetzt, dass die Finanzmärkte fiskalischen Schlendrian und außenwirtschaftlichen Protektionismus abstrafen würden. Sie haben sich geirrt.

Die Märkte können gut mit den neuen Rechten. Europäische Staats- und Regierungschefs, die ihren Sparaufträgen nicht nachkommen, werden sie abstrafen. Bemühungen, diese Strafe durch Sparmaßnahmen zu vermeiden, leiten Wasser auf die Mühlen der neuen Rechten.

Macron, Merz und Starmer sind keine Verteidiger der liberalen Demokratie, sondern deren Nachhut. Wenn die Demokratie eine Zukunft haben soll, muss der Liberalismus aus den Fängen der Märkte befreit werden und mit der Idee einer sozialen Demokratie versöhnt werden.

Die politischen Kräfte, die diese Versöhnung im Rahmen kapitalistischer Produktionsverhältnisse versucht haben, sind ins Lager der Sparkommissare übergelaufen. Macron ist vor Jahren aus der Sozialistischen Partei ausgetreten. Starmer und Merz’ Finanzminister Klingbeil wandeln auf den Spuren von Blair und Schröder. Nennenswerte Kräfte für den Aufbau einer Demokratie jenseits kapitalistischer Produktionsverhältnisse gibt es nicht.

Ingo Schmidt ist marxistischer ­Ökonom und lebt in Kanada und Deutschland.

Der Artikel erschien in der SOZ, Sozialistische Zeitung Nov. 25