Definition und Leitlinien

dokumentiert

Wir, die Unterzeichnenden, legen die „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ vor. Sie ist das Ergebnis einer Initiative, die ihren Ursprung in Jerusalem hat. Zu den Unterzeichner:innen zählen internationale Wissenschaftler:innen, die in der Antisemitismusforschung und in verwandten Bereichen arbeiten, darunter Jüdische Studien, Holocaust-, Israel-, Palästina- sowie Nahoststudien.

Die Erklärung profitierte auch von der Ein-bindung von Rechtswissenschaftler:innen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft.
Im Geiste der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung von 1969, der Erklärung des Stockholmer Internationalen Forums über den Holocaust aus dem Jahr 2000 und des Beschlusses der Vereinten Nationen zum Gedenken an den Holocaust aus dem Jahr 2005 vertreten wir die Auffassung, dass Antisemitismus einige spezifische Besonderheiten aufweist, der Kampf gegen ihn jedoch untrennbar mit dem allgemeinen Kampf gegen alle Formen rassistischer, ethnischer, kultureller, religiöser und geschlechtsspezifischer Diskriminierung verbunden ist.

Im Wissen um die Verfolgung von Jüd:innen im Laufe der Geschichte und die universellen Lehren aus dem Holocaust und angesichts des besorgniserregenden Wiedererstarkens von Antisemitismus durch Grup-pierungen, die Hass und Gewalt in Politik, Gesellschaft und im Internet mobilisieren, legen wir eine anwendbare, prägnante und historisch fundierte Kerndefinition von Antisemitismus mit einer Reihe von Leitlinien für die Benutzung vor.

Die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus reagiert auf die „IHRA-Definition“, die 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) angenommen wurde. Da die IHRA-Definition in wichtigen Punkten unklar und für unterschiedlichste Interpretationen offen ist, hat sie Irritationen ausgelöst und zu Kontroversen geführt, die den Kampf gegen Antisemitismus geschwächt haben. In Anbetracht der Tatsache, dass sie sich selbst als „Arbeitsdefinition“ bezeichnet, haben wir uns um Verbesserungen bemüht, indem wir (a) eine präzisere Kerndefinition und (b) ein kohärentes Set von Leitlinien vorlegen. Wir hoffen, dass dies sowohl für das Monitoring und die Bekämpfung von Antisemitismus als auch für Bildungszwecke hilfreich sein wird. Wir empfehlen unsere nicht rechtsverbindliche Erklärung als Alternative zur IHRA-Definition. Institutionen, die die IHRA-Definition bereits übernommen haben, können unseren Text als Hilfsmittel zu ihrer Interpretation nutzen.

Die IHRA-Definition enthält elf „Beispiele“ für Antisemitismus, von denen sich sieben auf den Staat Israel beziehen. Dies legt zwar legt einen unangemessenen Schwerpunkt auf einen bestimmten Schauplatz; allerdings besteht wirklich ein großer Bedarf an Klarheit über die Grenzen legitimer politischer Äußerungen und Handlungen in Bezug auf Zionismus, Israel und Palästina. Wir verfolgen ein doppeltes Ziel: (1) den Kampf gegen Antisemitismus zu stärken, indem wir definieren, was Antisemitismus ist und wie er sich manifestiert, und (2) Räume für eine offene Debatte über die umstrittene Frage der Zukunft Israels/Palästinas zu wahren.

Wir sind nicht alle der gleichen politischen Meinung und wir verfolgen keine politische Parteinahme. Die Feststellung, dass eine kontro-verse Ansicht oder Handlung nicht antisemitisch ist, bedeutet weder, dass wir sie befürworten, noch dass wir sie ablehnen. Die Leitlinien, die sich auf Israel-Palästina beziehen (Nr. 6 bis 15), sollten als Ganzes betrachtet werden. Generell sollte bei der Anwendung der Leitlinien jede im Lichte der anderen und immer mit Blick auf den jeweiligen Kontext gelesen werden. Zum Kontext kann die Intention hinter einer Äußerung, ein Sprachmuster im Wandel der Zeit oder sogar die Identität des Sprechers oder der Sprecherin gehören, besonders wenn es um Israel oder den Zionismus geht. So könnte etwa Feindseligkeit gegenüber Israel Ausdruck eines antisemitischen Ressentiments sein, aber auch eine Reaktion auf eine Menschenrechtsverletzung oder eine Emotion, die eine palästinensische Person aufgrund ihrer Erfahrungen durch Handlungen seitens der staatlichen Institutionen Israels empfindet. Kurz: Bei der Anwendung dieser Leitlinien auf konkrete Situationen sind Urteilsvermögen und Sensibilität gefordert.

Definition

Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).

Leitlinien

A. Allgemein

  1. Es ist rassistisch, zu essentialisieren (eine Charaktereigenschaft als angeboren zu behandeln) oder pauschale negative Verallgemeinerun-gen über eine bestimmte Bevölkerung zu machen. Was für Rassismus im Allgemeinen gilt, gilt im Besonderen auch für Antisemitismus.
  2. Das Spezifikum des klassischen Antisemitismus ist die Vorstellung, Jüd:innen seien mit den Mächten des Bösen verbunden. Dies steht im Zentrum vieler antijüdischer Fantasien, wie etwa der Vorstellung einer jüdischen Verschwörung, in der „die Juden“ eine geheime Macht besäßen, die sie nutzen, um ihre eigene kollektive Agenda auf Kosten anderer Menschen durchzusetzen. Diese Verknüpfung zwischen Jüd:innen und dem Bösen setzt sich bis heute fort: in der Fantasie, dass „die Juden“ Regierungen mit einer „verborgenen Hand“ kontrollieren, dass sie die Banken besitzen, die Medien kontrollieren, als „Staat im Staat“ agieren und für die Verbreitung von Krankheiten (wie etwa Covid-19) verantwortlich sind. All diese Merkmale können für unterschiedliche (und sogar gegensätzliche) politische Ziele instrumentalisiert werden.
  3. Antisemitismus kann sich in Worten, Bildern und Handlungen mani-festieren. Beispiele für antisemitische Formulierungen sind Aussa-gen, dass alle Jüd:innen wohlhabend, von Natur aus geizig oder unpatriotisch seien. In antisemitischen Karikaturen werden Jüd:innen oft grotesk, mit großen Nasen und in Verbindung mit Reichtum dargestellt. Beispiele für antisemitische Taten sind: jemanden angreifen, weil sie oder er jüdisch ist, eine Synagoge angreifen, Hakenkreuze auf jüdische Gräber schmieren oder Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Judentum nicht einzustellen oder nicht zu befördern.
  4. Antisemitismus kann direkt oder indirekt, eindeutig oder verschlüsselt (‚kodiert‘) sein. Zum Beispiel ist „die Rothschilds kontrollieren die Welt“ eine kodierte Behauptung über die angebliche Macht „der Juden“ über Banken und die internationale Finanzwelt. In ähnlicher Weise kann die Darstellung Israels als das ultimative Böse oder die grobe Übertreibung seines tatsächlichen Einflusses eine kodierte Ausdrucksweise sein, Jüd:innen zu rassifizieren und zu stigmatisieren. In vielen Fällen ist die Identifizierung von kodierter Sprache eine Frage des jeweiligen Kontextes und der Abwägung, bei der diese Leitlinien zu berücksichtigen sind.
  5. Es ist antisemitisch, den Holocaust zu leugnen oder zu verharmlosen, indem man behauptet, der vorsätzliche Völkermord der Nazis an den Jüd:innen habe nicht stattgefunden, es habe keine Vernichtungslager oder Gaskammern gegeben oder die Zahl der Opfer bestehe nur in einem Bruchteil der tatsächlichen Anzahl.

B. Israel und Palästina: Beispiele, die als solche antisemitisch sind

  1. Die Symbole, Bilder und negativen Stereotypen des klassischen Anti-semitismus (siehe Leitlinien 2 und 3) auf den Staat Israel anzuwenden.
  2. Jüd:innen kollektiv für das Verhalten Israels verantwortlich zu machen oder sie, bloß weil sie jüdisch sind, als Agent:innen Israels zu behandeln.
  3. Menschen, weil sie jüdisch sind, aufzufordern, Israel oder den Zionis-mus öffentlich zu verurteilen (z.B. bei einer politischen Versammlung).
  4. Anzunehmen, dass nicht-israelische Jüd:innen, bloß weil sie jüdisch sind, zwangsläufig loyaler zu Israel stehen als zu ihren eigenen Ländern.
  5. Jüd:innen im Staat Israel das Recht abzusprechen, kollektiv und individuell gemäß dem Gleichheitsgrundsatz zu leben.

C. Israel und Palästina: Beispiele, die nicht per se antisemitisch sind (unabhängig davon, ob man die Ansicht oder Handlung gutheißt oder nicht)

  1. Unterstützung der palästinensischen Forderungen nach Gerechtigkeit und der vollen Gewährung ihrer politischen, nationalen, bürgerlichen und menschlichen Rechte, wie sie im Völkerrecht verankert sind.
  2. Kritik oder Ablehnung des Zionismus als eine Form von Nationalismus oder das Eintreten für diverse verfassungsrechtliche Lösungen für Juden und Palästinenser in dem Gebiet zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer. Es ist nicht per se antisemitisch, Regelungen zu unterstützen, die allen Bewohner:innen „zwischen dem Fluss und dem Meer“ volle Gleichberechtigung zugestehen, ob in zwei Staaten, einem binationalen Staat, einem einheitlichen demokratischen Staat, einem föderalen Staat oder in welcher Form auch immer.
  3. Faktenbasierte Kritik an Israel als Staat. Dazu gehören seine Institu-tionen und Gründungsprinzipien, seine Politik und Praktiken im In- und Ausland, wie beispielsweise das Verhalten Israels im Westjordanland und im Gazastreifen, die Rolle, die Israel in der Region spielt, und jede andere Art und Weise, in der es als Staat Vorgänge in der Welt beeinflusst. Es ist nicht per se antisemitisch, auf systematische rassistische Diskriminierung hinzuweisen. Im Allgemeinen gelten im Falle Israels und Palästinas dieselben Diskussionsnormen, die auch für andere Staaten und andere Konflikte um nationale Selbstbestimmung gelten. Daher ist der, wenngleich umstrittene, Vergleich Israels mit historischen Beispielen einschließlich Siedlerkolonialismus oder Apartheid nicht per se antisemitisch.
  4. Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Falle Israels sind sie nicht per se antisemitisch.
  5. Politische Äußerungen müssen nicht maßvoll, verhältnismäßig, gemäßigt oder vernünftig sein, um nach Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention und anderen Menschenrechtsabkommen geschützt zu sein. Kritik, die von manchen als übertrieben oder umstritten oder als Ausdruck „doppelter Standards“ betrachtet wird, ist nicht per se antisemitisch. Im Allgemeinen ist die Trennlinie zwischen antisemitischen und nicht antisemitischen Äußerungen eine andere als die Trennlinie zwischen unvernünftigen und vernünftigen Äußerungen.

März 2021

Die Jerusalemer Erklärung wurde von 211 renommierten jüdischen und nichtjüdischen Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur unterzeichnet. Hier eine Auswahl, mehrheitlich aus dem deutschsprachigen Raum:

(Die Erklärung im englischen Wortlaut und mit der ganzen Liste der Unterzeichneten findet sich heir: https://jerusalemdeclaration.org/

Wolfgang Benz, TU Berlin

Werner Bergmann, TU Berlin

Daniel Blatman, The Hebrew University of Jerusalem

Christina von Braun, Humboldt-Universität Berlin

Micha Brumlik, ehem. Direktor des Fritz-Bauer-Instituts, Frankfurt am Main

John Bunzl, Professor Dr., Österreichisches Institut für Internationale Politik

Sebastian Conrad, FU Berlin

Vincent Engel, Universität Löwen

David Enach, The Hebrew University of Jerusalem

Richard Falk, Princeton University; Queen Mary University, London

David Feldman, Direktor des Institute for the Study of Antisemitism, Birkbeck, Universität London

Ulrike Freitag, Direktor Leibnitz-Zentrum Moderner Orient, Berlin

Ute Frevert, Universität Zürich

Carlo Ginzburg, UCLA und Scuola Normale Superiore, Pisa

Amos Goldberg, The Hebrew University of Jerusalem

Harvey Goldberg, The Hebrew University of Jerusalem

Elizabeth Heineman, Professor of History and of Gender, Women´s and Sexuality Studies, University of Iowa

Klaus Holz, Generalsekretär der Evangelischen Akademie Berlin

Uffa Jensen, TU Berlin

Menachem Klein, Bar Ilan University

Claudia Koonz, Duke University

Gudrun Kraemer, FU Berlin

Cilly Kugelman, ehem. Programmdirektor des Jüdischen Musems, Berlin

Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, Österreich

Eva Menasse, Schriftstellerin, Berlin

Susan Neiman, Direktorin des Einstein-Forums, Potsdam

Andrea Petö, Zentraleuropäische Universität Wien; Demokratie-Institut, Budapeest

Göran Rosenberg, Schriftsteller und Journalist, Schweden

Philippe Sands, Univerity College London; Schriftsteller

Gisèle Sapiro, EHESS und CNRS, Paris

Peter Schäfer, ehem. Direktor des jüdischen Museums Berlin

Michael Stolleis, Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt am Main

Adam Sutcliffe, King`s College London

Peter Ullrich, TU Berlin

Ugur Ümit Üngör, Universität Amsterdam

Dominique Vidal, Journalist, Historiker und Essayist

Bernd Weisbrod, Universität Göttingen

Michael Wildt, HU Berlin

Lothar Zechlin, Universität Duisburg

Moshe Zimmermann, The Hebrew University of Jerusalem

Moseh Zuckermann, Universität Tel Aviv