Was bleibt, ist der Zusammenbruch nach dem (hoffentlichen) Ende der Kampfhandlungen

von Muhammad Shehada

Die Tinte unter den „Friedensvertrag“ war noch nicht getrocknet, da detonierten schon wieder die Bomben. Dabei ist ohnehin nicht mehr viel übrig vom Gazastreifen. Gleichzeitig schwankt die Unterstützung für die Hamas. Die Palästinenser sind mit einer brutalen Wahrheit konfrontiert: Die Welt hat den Völkermord nicht verhindert. Zwei Jahre nach dem 7.Oktober 2023 ist Palästina zu einem Friedhof gescheiterter Strategien geworden.

»Worte haben keine Bedeutung mehr.« Das ist eine der häufigsten Aussagen, die ich von meiner Familie, meinen Freunden und Kollegen höre, die noch in Gaza leben. Nach zwei Jahren unablässigen Völkermords durch Israel bleibt uns nicht nur eine Spur von Leichen und Trümmern, sondern auch der brutale Zusammenbruch überhaupt von Bedeutung.

Worte wie »Gräueltat«, »Belagerung«, »Widerstand« und sogar »Völkermord« haben durch ihre ständige Wiederholung ihre Bedeutung verloren und können das Ausmaß dessen, was die Palästinenser Tag für Tag, Nacht für Nacht erdulden müssen, nicht mehr beschreiben.

In den ersten Tagen nach dem 7.Oktober telefonierte ich so oft wie möglich mit meinen Lieben, da ich wusste, dass jedes Gespräch das letzte sein könnte, in dem ich ihre Stimmen hören würde. Wir sprachen meist über ihre Qualen, ihre Verzweiflung und ihre Angst, der Tod werde ihnen immer näher rücken. Einige schickten mir ihre letzten Wünsche oder ihr Testament, andere sehnten sich sogar nach dem Tod, um dieser endlosen Apokalypse zu entkommen.

Doch nach 24 Monaten ist die Stille eingezogen. Alles ist gesagt, jedes Gefühl wurde immer und immer wieder zum Ausdruck gebracht, bis es jeder Bedeutung entleert war. Bei denen, die noch immer in Gaza gefangen sind, ist ihr Schweigen gepaart mit der Scham, um Hilfe betteln zu müssen – um ein Zelt, Essen, Wasser oder Medikamente – und meiner noch größeren Scham, weil ich ihnen nichts davon beschaffen kann.

Meine Lieben sind zu Schatten ihrer selbst geworden. In 730 Tagen ununterbrochener Bombardierung, Hungersnot und Vertreibung wurden sie immer wieder gebrochen. Sie sind darauf reduziert, nach Nahrung und Unterkunft zu suchen, während sie überall, wo sie hinlaufen, angegriffen werden. Jeder einzelne Aspekt ihres Lebens ist zu einem qualvollen Kampf ums Überleben geworden.
Diejenigen, denen es gelingt, aus diesem Konzentrationslager zu fliehen, sind körperlich verändert. Kürzlich traf ich meine Cousine auf den Straßen von Kairo und erkannte sie nicht wieder. Einst eine große und gesunde Frau Ende 40, war sie nun nur noch Haut und Knochen, ihr Gesicht faltig und dunkel, ihre Augen eingefallen und blass. Auch meine 77-jährige Großmutter wurde zum Skelett und ist seitdem bettlägerig.

Dabei sind die psychologischen Folgen des Völkermords noch gar nicht berücksichtigt. Ihr ganzes Ausmaß wird erst sichtbar werden, wenn die Bombardierungen aufhören und die Überlebenden wieder die mentale Energie haben, Erinnerungen und Emotionen zu verarbeiten, die ihr Gehirn in der Zeit des Überlebens lange unterdrückt hat.

Das Erbe dieses Völkermords wird uns noch über Generationen hinweg begleiten, denn Israel hat jedem einzelnen Bewohner Gazas einen Grund zur persönlichen Rache geliefert.

Schwankende Unterstützung für Hamas

Es ist schwer vorherzusagen, wie das kollektive Trauma, das durch die Vernichtung Gazas entstanden ist, die Überzeugungen der Palästinenser langfristig prägen wird. In letzter Zeit haben sich jedoch zwei vorherrschende Trends herausgebildet, die scheinbar im Widerspruch zueinander stehen.

Einerseits wächst die Ablehnung gegenüber der Hamas wegen der Angriffe vom 7.Oktober, selbst unter den eigenen Mitgliedern und in der Führung der Organisation. Mehrere arabische Beamte berichteten mir, dass Khaled Meshaal, einer der Gründer der Hamas und langjähriger Vorsitzender ihres Politbüros, und andere Gleichgesinnte vom moderaten Flügel der Organisation, hinter verschlossenen Türen den Angriff als »rücksichtslos« und »Katastrophe« bezeichneten und das Vorgehen der Hamas im Krieg kritisierten.

In diesem Frühjahr gab es außerdem mehrere Tage lang im gesamten Gazastreifen spontane Proteste der Bevölkerung gegen die Hamas, bei denen gefordert wurde, dass die Gruppe den Krieg um jeden Preis beendet und dann von der Macht zurücktritt. Die Demonstrationen waren jedoch nur von kurzer Dauer, insbesondere als die israelische Regierung begann, sie zur Rechtfertigung ihrer anhaltenden Militäraktion und zur Ablenkung von den Gräueltaten vor Ort zu nutzen.

Gleichzeitig haben jedoch Völkermord und die unmittelbare Gefahr einer Massenvertreibung einige der entschiedensten Kritiker der Hamas zu ihren stärksten Befürwortern gemacht. Selbst unter den Kritikern des 7.Oktober ist die Angst weit verbreitet, dass Israel den Gazastreifen auf unbestimmte Zeit besetzen wird, wenn die Hamas zerschlagen wird. Dieser Ansicht nach kann nur ein fortgesetzter militärischer Aufstand die dauerhafte Übernahme und vollständige ethnische Säuberung des Gebiets durch Israel verhindern. […]

Diese Unterstützung für den bewaffneten Widerstand wird anhalten oder sogar zunehmen, wenn der Völkermord andauert oder wenn die israelische Armee nach einem Waffenstillstand in Gaza bleibt und den Wiederaufbau verhindert.

Wenn jedoch ein dauerhaftes Abkommen unterzeichnet wird, das den vollständigen Rückzug Israels, die Aufhebung der erstickenden Belagerung durch Israel und eine greifbare politische Perspektive beinhaltet, gäbe es für die Bewohner Gazas wenig Grund, am bewaffneten Kampf festzuhalten. Tatsächlich würden dann viele derer, die den Aufstand der Hamas unterstützen, die Gruppe als erste verurteilen, sobald der Krieg beendet ist.

›Der bewaffnete Widerstand hat nichts geändert‹

Was der Strategie des bewaffneten Widerstands der Hamas in den Augen der Palästinenser:innen die größte Glaubwürdigkeit verlieh, war nicht der Appell an Gewalt oder Opferbereitschaft, sondern vielmehr das Scheitern aller anderen Alternativen. Diplomatie, Verhandlungen, Fürsprache in internationalen Gremien und Gerichten, moralische Überzeugungsarbeit und gewaltfreier Widerstand stießen weltweit auf Schweigen, während Israel weiterhin Palästinenser tötet und vertreibt.

Vor dem Völkermord war die Antwort der Hamas-Führer auf meine Frage, warum die Organisation Israel nicht offiziell anerkennt und der Gewalt abschwört: »Abu Mazen [PA-Präsident Mahmoud Abbas] hat all das und noch mehr getan, er arbeitet mit Israel zusammen. Können Sie mir eine einzige gute Sache nennen, die sie ihm dafür gegeben haben?«

Jetzt, nach dem längsten Krieg in der Geschichte Palästinas, wird Hamas dieselbe Frage gestellt werden: Was habt ihr damit erreicht?

Jahre bevor er im Januar 2024 bei einem israelischen Angriff auf Beirut getötet wurde, räumte Saleh Al-Arouri, Gründungskommandeur der Kassam-Brigaden, in einem durchgesickerten Telefonat das Scheitern ein: »Offen gesagt hat der bewaffnete Widerstand keine Veränderungen bewirkt«, gab er zu. »Der Widerstand hat heldenhafte Beispiele geliefert und ehrenvolle Kriege geführt, aber die Blockade wurde nicht durchbrochen, die politische Realität hat sich nicht verändert, und kein Stück Land wurde befreit.« […]

Im Jahr 2021 begeisterten sich die Führer der Hamas für die Idee einer massiven Eskalation an mehreren Fronten, die Israel zwingen würde, den Forderungen der Palästinenser nachzukommen. Sie stellten sich einen Angriff aus dem Gazastreifen und eine Intifada im Westjordanland, in Ostjerusalem und innerhalb Israels vor, verbunden mit Angriffen aus Syrien, dem Libanon, dem Jemen, dem Irak und dem Iran, während gleichzeitig die arabische Bevölkerung in Jordanien und Ägypten aufbegehren und zu den Grenzen zu Israel marschieren würde – all dies würde die israelische Regierung in die Enge treiben.

Nach dem 7.Oktober brach auch diese Strategie zusammen. Was als begrenzte Konfrontation an mehreren Fronten begann, endete, als es Israel gelang, Waffenstillstände mit der Hisbollah und dem Iran zu erreichen, während die PA und Israel jedes Potenzial für einen Volksaufstand unterdrückten. Nun sind nur noch die Houthis im Jemen als letzte Front dieser ehemaligen »Achse des Widerstands« aktiv.

›Die Palästinenser können nichts tun‹

Es ist unwahrscheinlich, dass die Hamas in absehbarer Zukunft einen weiteren Angriff wie den vom 7.Oktober starten wird. Viele Analysten sind sich einig, dass der Angriff nur deshalb erfolgreich war, weil er Israel völlig unvorbereitet traf. Doch das Überraschungsmoment ist längst vorbei und ebenso die Wahrscheinlichkeit, dass Israel dieselben taktischen und nachrichtendienstlichen Fehler wiederholen würde.

Die Hamas ist sich dessen bewusst, weshalb sie in den Verhandlungen über Donald Trumps »Friedensplan« den Vermittlern ihre Bereitschaft signalisiert hat, »Offensivwaffen« wegzuräumen und nur noch leichte »Verteidigungswaffen« wie Gewehre und Panzerabwehrraketen zu behalten. Diese Waffen dienen der Selbstverteidigung, sollte Israel sich nicht aus dem Gazastreifen zurückziehen oder wie im Westjordanland regelmäßig Razzien durchführen.

Damit könnte die Hamas auch hoffen, die Zustimmung ihrer Mitglieder und anderer kleinerer, aber radikalerer Gruppen zu erhalten. Möglicherweise glaubt sie auch, dass eine vollständige Entwaffnung ein Sicherheitsvakuum im Gazastreifen schaffen könnte, das von salafistischen und jihadistischen Gruppen oder kriminellen Banden wie der von Israel unterstützten Abu-Shabab-Miliz gefüllt werden könnte. Und natürlich gibt es Angst vor Vergeltung, dass Menschen Hamas-Mitglieder auf der Straße angreifen könnten.

Doch selbst wenn es zu einem vollständigen Rückzug Israels kommt und Hamas »Verteidigungswaffen« behalten darf, liegt der bewaffnete Widerstand – einst die letzte Karte nach dem Scheitern von Verhandlungen, Diplomatie und moralischen Appellen angesehen – nun auf demselben Friedhof gescheiterter Strategien. Zwei Jahre nach Beginn des Völkermords bleibt nicht Überzeugung, sondern Zusammenbruch: der Sprache, der Hoffnung, der Politik – ein politisches Vakuum. Dort bleiben die Palästinenser mit der schwersten aller Wahrheiten konfrontiert: dass die Welt den Völkermord an ihrem Volk nicht verhindert hat.

7.10.2025

Der Autor ist ein Schriftsteller und Politologe aus Gaza und Gastwissenschaftler beim European Council on Foreign Relations.

Quelle: www.972mag.com/october-7-palestine-graveyard-failed-strategies/; von der Redaktion gekürzt.

Der Artikel erschien in der SOZ, Sozialistische Zeitung Nov. 25