Helmut Dahmer, Wien
Um die gegenwärtige Situation (in Deutschland und Österreich) zu verstehen, bedarf es der Vergewisserung über die Geschichte, aus der sie hervorgegangen ist, und über deren internationalen Kontext. Der moderne Kapitalismus, der sich vermöge der von Europa ausgehenden Kolonialisierung der außereuropäischen Gesellschaften zur Weltwirtschaft entwickelt hat, erwuchs aus Nationalgeschichten. Erst der Rückgang von der heutigen Situation auf deren Vorgeschichte und der Vergleich aktueller Entwicklungen und Risiken mit ähnlichen in der Vergangenheit des „eigenen“ oder anderer Länder ermöglicht es uns, das „Dunkel des Jetzt“ (Ernst Bloch) zu erhellen und aus dem Bannkreis der bestehenden Verhältnisse herauszutreten. Blicken wir also zurück auf die Weimarer Republik, auf 1945 – das Jahr des Spurenverwischens und des Gedächtnisverlusts –, auf Trumps Putschversuch von 2021, und richten wir dann erst den Blick auf dies Wahljahr 2024.
1914 – 1933
(1) Vor 100 Jahren hatten Arbeiter- und Soldatenrevolutionen in Europa dem Ersten Weltkrieg und den Monarchien ein Ende gemacht. Der antikapitalistische Flügel dieser Bewegung wurde von reformistisch-nationalistischen Regierungen mit Hilfe konterrevolutionärer Truppen niedergekämpft (aus denen sich auch die ersten faschistischen Organisationen rekrutierten). Das Resultat dieser bürgerkriegsartigen Kämpfe waren parlamentarische Repräsentativ-Demokratien – prekäre politische Überbauten der vor- und antidemokratisch strukturierten kapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft. Als die ökonomische Krise von 1929 die vorläufige „Stabilisierung“ der Nachkriegs-Verhältnisse ins Wanken brachte, lösten Präsidialdiktaturen das parlamentarische System ab, deren letzte 1933 das „Kabinett Hitler“ war. Die deutschen Faschisten liquidierten zu allererst die antikapitalistischen Arbeiterorganisationen und zimmerten sich – in Kooperation mit der (arisierten) Bürokratie – einen staatlichen Überbau, der zum oligopolkapitalistischen Unterbau passte[1]; Industrie und Banken rechneten mit Extraprofiten im Rahmen des NS-Kriegskapitalismus (und ihr Kalkül ging auf). Dies historische Modell ist verpönt, aber (wie alles Verpönte) eben darum attraktiv – es hat Schule gemacht. Und so sehen wir heute, dass – wie schon in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts – von den wenigen parlamentarischen Demokratien eine nach der anderen zu einer „illiberalen“, also autoritären mutiert.
(2) Im Zuge der Industrialisierung hatten die europäischen Gesellschaften sich aus Gesellschaften mit einer Mehrheit von kleinen und mittleren Selbständigen in Stadt und Land zu Gesellschaften mit einer Mehrheit von Lohnarbeitern, also abhängig Beschäftigten in Industrie und Verwaltung entwickelt. Heerscharen von Unzufriedenen und Orientierungslosen eilten 1914 an die Kriegsfronten und unterlagen im Überlebenskampf der „Materialschlachten“ einem Prozess der Verrohung. Außer Millionen von Toten[2] und Verstümmelten, Hunger und Elend hatte ihnen der große Krieg nichts gebracht, und auch die Hoffnungen auf eine Besserung der Lebensverhältnisse in der Nachkriegszeit erwiesen sich als trügerisch. Mit nicht-autoritären, also demokratischen Lebensformen wusste die Kriegsgeneration ohnehin nichts anzufangen, und viele der besiegten, arbeitslos gewordenen Frontsoldaten fanden bald neue Aktionsmöglichkeiten und nahmen „Rache“ an aufständischen Arbeitern, Nicht-Deutschen und … Juden. Rasch fanden sich auch Demagogen (vom Typus Mussolini oder Hitler), die es verstanden, aus Heerscharen von „Abhängigen“ (also Arbeitern, Angestellten, Arbeitslosen, Depossedierten und Veteranen) „massenfeindliche Massenbewegungen“[3] zu bündeln und deren Mordlust gegen „Feinde“, „Fremde“ und Schwache zu richten.
(3) In Deutschland zeichneten sich im Laufe des Krisenjahrs 1923 mit dem „Hamburger Aufstand“ der KPD und dem Hitler-Putsch schon die Alternativen zum Klassen-„Kompromiss“ der „Weimarer Republik“ ab. Neun Jahre später errang die NSDAP, gestützt auf ihre paramilitärischen Kampfverbände (SA und SS), bei den letzten freien Wahlen 13,7 Millionen (37 Prozent) der Stimmen. Eine „Einheitsfront“ von SPD und KPD (die einander wechselseitig für ihren „Hauptfeind“ hielten) kam nicht zustande. Ende März 1933 war die KPD bereits verboten, und während die bürgerlichen Parteien allesamt dem „Ermächtigungsgesetz“ zustimmten, das das Ende der ersten deutschen Republik besiegelte, stimmten die SPD-Abgeordneten, die ihren außerparlamentarischen Rückhalt eingebüßt hatten, tapfer noch einmal dagegen. Nach dem kampflosen „Sieg“ der mit der DNVP liierten Hitlerpartei wurden die sozialistischen Arbeiterorganisationen verboten und wurde die auf Emanzipation orientierte Kultur der Weimarer Republik zügig liquidiert. Hitler hatte sich beizeiten die Unterstützung der „Reichswehr“, der Großgrundbesitzer und Großindustriellen für seine repressive Innen- und expansive Außenpolitik gesichert. Das von ihm installierte Raub- und Terrorsystem bewährte sich: Die permanent mobilisierte und indoktrinierte Bevölkerungsmehrheit blieb dem Regime gegenüber loyal („Zustimmungs-Diktatur“), bis die alliierten Truppen das Land besetzten und unter sich aufteilten.
Mentalität(en)
(4) Sozialistische Sozialwissenschaftler wie Theodor Geiger, Wilhelm Reich, Erich Fromm, Siegfried Kracauer und Theodor W. Adorno hatte der Zulauf zur faschistischen Bewegung alarmiert; nach deren kampfloser „Machtergreifung“ mussten sie – wie Hunderttausende andere – Deutschland verlassen. Ihre Erfahrung mit der Affinität der „Zwischenklassen“ zum Faschismus und mit der Passivität der Lohnarbeiterschaft (die 1933, im Unterschied zu ihrer Reaktion auf den „Kapp-Putsch“ im Jahr 1920, auf die Berufung Hitlers zum Reichskanzler nicht mit einem Massenstreik reagierte) motivierte diese Soziologen und Sozialpsychologen zur Erforschung der Vermittlungen zwischen der gesellschaftlichen Lage, der politischen Orientierung und dem politischen Verhalten verschiedener sozialer Klassen und Schichten. Wollte man herausfinden, ob (und inwieweit) bestimmte Gruppen der Bevölkerung ihre Lebensverhältnisse guthießen oder ablehnten – und unter welchen Umständen sie etwa bereit wären, politisch aktiv zu werden –, dann genügte es offenbar nicht, sie danach zu fragen oder bestimmten Soziallagen „entsprechende“ politische Programme zuzuordnen. Die Wahrnehmung gesellschaftlicher Verhältnisse und Institutionen, die Adoption von Geschichts- und Gesellschaftsbildern, das Verständnis politischer Doktrinen und Parteien sowie die Artikulation (und Legitimation) eigener Interessen – sie alle sind in hohem Maße von schichttypischen Mentalitäten abhängig.[4] Mentalitäten sind in Persönlichkeitsstrukturen verankerte, von Schichtgenossen geteilte, identitätsstiftende Deutungsschemata sozialer Verhältnisse. Sie bilden den Rahmen „sozialer Vorurteile“, jener Surrogate von Erfahrung und Urteil, die der Komplexitäts-Reduktion dienen. Die (variable) Ausprägung und intergenerationelle Vermittlung solcher, von Mentalitäten gerahmter Einstellungs-Syndrome empirisch zu untersuchen, machten sich in die USA geflüchtete Soziologen um Max Horkheimer in den vierziger Jahren zur Aufgabe.[5] Sie konnten schließlich sowohl den Typus der „autoritären“ (faschistoiden) Persönlichkeit als auch dessen Gegenstück, den Typus der relativ „vorurteilsfreien“ (pro-demokratischen) Persönlichkeit präzise beschreiben. Die schlichte Annahme, dass die Soziallage den Sozialcharakter prägt, erwies sich freilich als unzutreffend. Es zeigte sich, dass sich potentielle Wähler und Gefolgsleute faschistischer Parteien in allen Sozialschichten und unter Sympathisanten aller politischer Richtungen finden. Eben darum wird der autoritäre Typus leicht als „normal“ verkannt (und damit unauffällig). Seine Kennzeichen sind: Stereotypie der Urteilsbildung (das zwanghafte Einteilen oder Rubrizieren von Menschen); Konformismus (die automatische Anpassung an aktuelle Moden, Sprachregelungen und Doktrinen); die mit Unwissenheit gepaarte Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichen Problemen (die als solche gar nicht erkannt werden) und schließlich die Personalisierung unpersönlicher Verhältnisse, die Neigung zum Aberglauben und zur Übernahme von Verschwörungs-Gerüchten. Max Horkheimer, unter dessen Ägide die Untersuchungen des exilierten (Frankfurter) „Instituts für Sozialforschung“ im New York der Nachkriegszeit durchgeführt wurden[6] – und der mit Theodor W. Adorno in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs den gesellschaftstheoretischen Rahmen dieser Studien, die Dialektik der Aufklärung[7], entworfen hatte – fasste das Ergebnis der „Vorurteils“-Studien zwanzig Jahre später folgendermaßen zusammen:
„Gegen die starren Vorurteile zu argumentieren ist eitel. Sie degradieren den einzelnen dazu, in dem Allgemeinbegriff, unter den sie ihn befassen, als autonomes Wesen unterzugehen, und die Sätze, die den Allgemeinbegriff bestimmen, stehen fest: >Das ist ein Jude<, >Das ist ein Zigeuner<, >Die Art kennen wir<, >Jeder Deutsche ist ein Nazi<, >Dem Amerikaner fehlt die tiefere Kultur<. Das Tor ist geschlossen gegen alles, was der Andere auszudrücken vermag. Er gilt nicht mehr als ein Wesen, mit dem umzugehen und zu sprechen vielleicht ein Vehikel der Wahrheit ist. Er gehört zu einer niederen Gattung. Die Verfolgungen sind die logische Konsequenz [solcher Einordnungen]. […] Das zur Zeit des Krieges für Amerika entworfene Modell wies unter anderen die bekannten Züge auf: Die Autoritären pflegen hierarchisch zu denken, teilen die Menschheit nach der sozialen Stufenleiter ein. Sie haben feste Maßstäbe, schließen an das je Bestehende genau sich an, sind gegen alles Schwanken und fordern, daß die Macht rasch zugreift. Unfähig sind sie, in irgendeinem Fall die Schuld im Ernste bei sich selbst zu suchen. Sie sagen gerne >Wir< und meinen dabei das ganze Land. Über sich zu lächeln, ist ihnen versagt. Je weniger sie ihr eigenes Subjekt in Frage stellen, desto rascher sind sie bei der Hand, die anderen anzuklagen. Sie haben eine feine Witterung für Machtverhältnisse, nach ihnen richten sie ihr Leben ein. Die Züge des >autoritären Charakters< variieren nach Zeiten und Ländern. Sie und ihren [Ursprung] zu erforschen, ist eitel, solange die Ergebnisse, fragmentarisch, wie sie heute noch sind, in Politik und Erziehung nicht wirksam werden. Trotz allem, was die Gegenwart verdüstert, könnte solche Kenntnis dazu helfen, daß die Zahl der einzelnen wächst, deren Urteil nicht starr, sondern sinnvoller Entfaltung fähig ist.“[8]
Die Prägung des „autoritären“ (oder faschistoiden) Typus führten die Autoren der Studies in Prejudice – und der Nachfolge-Untersuchung Gruppenexperiment[9] in Westdeutschland (1955) – auf die vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse bzw. auf das jeweils bestehende „kulturelle Klima“ zurück.
(5) Für das in den heutigen, durch extreme Ungleichheit der Lebenschancen charakterisierten Wohlstands-Oasen vom Typus der BRD (oder Österreichs) herrschende „kulturelle Klima“ (mit Freud zu reden: für das aktuelle „Unbehagen in der Kultur“[10]) sind folgende Komponenten ausschlaggebend: Die Angst vor Krieg, Wirtschafts- und Klima-Krise; die Diskreditierung aller bisherigen Versuche, durch Reformen, Aufstände und Revolutionen die kapitalistische Produktionsweise abzulösen; die verdrängte Erinnerung an die ungeheuren Massaker, die Jahre oder Jahrzehnte zurückliegen, unverstanden und ungesühnt blieben und darum wiederkehren können; das aufdämmernde Bewusstsein, dass die national und international ungleiche Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums – also die Koexistenz von äußerstem Luxus und krasser Verelendung – unhaltbar ist; die Erfahrung, dass die Bevölkerungsmehrheit auch in den parlamentarischen Demokratien von den Entscheidungen einer minoritären, ökonomisch-politischen „Power Elite“ (im Sinne von C. W. Mills[11]) abhängig, also nicht Subjekt von „Politik“, sondern deren Objekt ist. Die Angst vor einer Umverteilung des Weltreichtums und vor dem Verlust ihres relativ privilegierten Status treibt gegenwärtig Millionen Bewohner der wenigen Wohlstands-„Oasen“ Demagogen zu, die ihnen „ethnische Säuberungen“ im Innern und die Verteidigung ihrer Nationalstaaten (als einer Art „Gated Communities“) gegen die Flüchtlinge aus den Weltwüsten des „Globalen Südens“ verheißen.
Menetekel
„Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft.“ (Marx, 1867[12])
„Was in den USA gerade geschieht, ist eine Warnung für alle westlichen Demokratien.“ (M. von Rohr, 2016[13])
(6) Seit langem haben sozialistische Soziologen und Politiker in und außerhalb der Vereinigten Staaten nicht nur vor der parlamentarisch nicht kontrollierbaren „Power Elite“ (C. W. Mills[14]), sondern auch vor einem spezifisch amerikanischen „Faschismus“ gewarnt. Seit dem 6. Januar 2021 wissen wir, wie der aussieht:
Der von Januar 2017 bis Januar 2021 regierende republikanische Präsident Trump wandte sich seit Beginn seiner Polit-Karriere über die ihn favorisierenden „>sozialen< Medien“ –„Twitter“, kontrolliert von Jack Dorsey, „Facebook“, kontrolliert von Mark Zuckerberg, und den Fernsehsender „Fox News“, kontrolliert von Rupert Murdoch – direkt an die Erniedrigten und Beleidigten unter den weißen Wählern, denen er sich (ein milliardenschwerer Immobilienmakler und TV-Entertainer) erfolgreich als „einer der ihren“ zu präsentieren wusste: als ein unwissender, sprachlich armseliger Haudrauf und sexistischer Grobian mit starrer Mimik und ein paar einstudierten, stets repetierten „imperialen“ Gesten, der zur Freude von 63 Millionen Wählern ins „Weiße Haus“ geschwemmt wurde und rhetorisch gegen „Eliten“ und „Lügenpresse“ Front machte. Das war ein Mann ihres Herzens, der mit andern Mächtigen dieser Erde auf Du und Du stand, Außenpolitik wie ein Elefant im Porzellanladen trieb, sich mit Jasagern umgab und Leuten, die nicht „spurten“, jederzeit den Stuhl vor die Tür setzte. Trump erschien seinen Anhängern als ein „ganzer Kerl“, der sich die Welt zurechtphantasiert, wie es ihm passt, einer, der der privilegierten weißen Bourgeoisie, den depossedierten Zwischenschichten, den Delogierten und Nichtversicherten und den Arbeitslosen der Arbeiterklasse einerseits die „Wiederherstellung“ glanzvoller Zeiten verhieß und zugleich die Konservierung der alten Ungleichheit zwischen Weiß und Nichtweiß und zwischen Männlich und Weiblich – zwischen denen, die haben, und denen, die nichts haben, zusicherte. Dieser „kleine“, aber vermögende Mann, ein ungehobelter Klotz mit beschränktem Horizont, war „groß“, weil er die stärkste Armee der Welt kommandierte und den Einsatz atomarer Vernichtungswaffen anordnen konnte. Hinter ihm standen auch gegen Ende seiner Amtszeit (2021) noch gut 74 Millionen potentielle Wähler (aus allen Sozialschichten), von denen ein Großteil bewaffnet war und deren „harten“ Kern organisierte faschistische Gruppen (wie die „Proud boys“ und die „White Supremacists“) bildeten. Dieser Präsident, ein „Querdenker“ und QAnon-Sympathisant im „Weißen Haus“, hatte nicht nur eine (potentielle) Prätorianergarde oder „Dezembergesellschaft“ zu seiner Verfügung, sondern brach die Regeln einer parlamentarischen Demokratie, indem er schon im Vorfeld der 2020er Wahlen ankündigte, eine Niederlage einfach nicht anzuerkennen, sie als eine grandiose Verfälschung des wahren Wählerwillens zu deklarieren und, auch abgewählt, einfach im Amt zu bleiben. Wie alle paranoiden Charaktere leidet Trump an „pathischer Projektion“, das heißt: er ist, als notorischer Lügner, außerstande, seine Wunsch- und Albträume nicht für die (wahre) Wirklichkeit zu halten. Gerade darauf beruht ja die Faszination, die solche Leute – als „Charismatiker“ – auf ihre (ebenfalls lebhaft tagträumenden) Anhänger ausüben. Sie glauben noch an den „Endsieg“, sei es im Krieg oder im Wahlkampf, wenn längst alles verloren ist. Nachdem seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die weißen Konservativen alles darangesetzt hatten, die Zahl der stimmberechtigten nichtweißen Wähler kleinzuhalten, fabulierte Trump nun von einer Wahlfälschung durch „Demokraten“ und „Linke“. Er, der (wie seine Partei) jede politische oder soziale Reform als düstere Machenschaft von „Marxisten“ und andern Schurken verketzerte und „Kuba“ oder „Venezuela“ als Schreckbilder heraufbeschwor, sprach nun von der „größten Hexenjagd“ der amerikanischen Geschichte, die gegen ihn und seine Anhänger inszeniert werde. Als es am 6. Januar 2021 zum einen um die Stichwahlen in Georgia und damit um die Mehrheit im künftigen Senat ging, zum andern um die „Zertifizierung“ der Wahlmännerstimmen, also um die Feststellung der Mehrheits-Minderheits-Verhältnisse bei der Präsidentschaftswahl vom November 2020, mobilisierte er seine Anhänger, um zu verhindern, dass (der evangelikale) Vizepräsident Pence pflichtgemäß den Sieg Bidens verkündete. Vom Weißen Haus aus dirigierte er einen Protestmarsch aufs Capitol, um Druck auf Pence und die Abgeordneten auszuüben. Zehntausende verängstigt-begeisterte Trump-Gefolgsleute, die seinen Wahn vom (gestohlenen) „Erdrutschsieg“ teilten, und, wie der Abgewählte selbst, nur allzu gern, koste es, was es wolle, ihren Wunsch nach einer Fortsetzung des Trump-Regimes verwirklicht sehen wollten, machten sich auf zum Capitol. Ein Stoßtrupp gewalttätiger Randalierer in abenteuerlicher Kostümierung und ausgerüstet mit Hieb-, Stich- und Schusswaffen, Kabelbindern und Rohrbomben überrannte rasch die kleine Gruppe von „unvorbereiteten“ Polizisten, es fanden sich „Türöffner“, die Menge drang in das Gebäude ein und begann eine Jagd auf Abgeordnete und Polizisten. Fünf Tote blieben auf der Strecke. Trump, der Anstifter, begutachtete derweil am Fernseher im Weißen Haus diesen Lauf der Dinge und erklärte den Randalierern, er „liebe“ sie, weil sie „ganz besondere“ Leute seien. Spät, aber doch, drängten ihn seine verbliebenen Berater zu einer zwielichtigen Erklärung, in der er seine Legende von der „Gestohlenen Wahl“ (>An Wahlurnen unbesiegt!<) bekräftigte, seine Anhänger aber zu einem friedlichen Rückzug aufforderte. Im Parlament hing alles an einer Person, dem Vizepräsidenten Pence, der vier Jahre lang Trumps Komplize und Steigbügelhalter gewesen war und nun wie ein Rohr im Wind schwankte, zunächst das Zertifizierungsverfahren unterbrach, dann aber, nachdem die evakuierten Abgeordneten sich wieder einfanden (und zwei trumpistische Abgeordnete ihre Einsprüche zurückzogen), die Formalie zu Ende brachte und nun in Trumps Augen nur noch als „Weichei“ und „Verräter“ galt. In diesen Nachtstunden entschied sich für diesmal das Schicksal der US-Demokratie. Und das sei allʾ denen eine Lehre, die auf die vermeintliche „Stabilität der Institutionen“ setzen.
Verfassungsfragen sind, wie Ferdinand Lassalle wusste, Machtfragen, und was aus den demokratischen Institutionen wird, hängt von den Menschen ab, die sie verteidigen, und von der Durchsetzungsfähigkeit – also der Macht oder Ohnmacht – der gesellschaftlichen Klassen, für die sie stehen. Hätte die Besetzung des Capitols angedauert, Pence das laufende Verfahren, statt es fortzusetzen, abgebrochen, wäre ein Interregnum entstanden, in das der wartende Trump (mit oder ohne Unterstützung von Pence) vorgestoßen wäre, um (mit Hilfe von Nationalgarde und Armee) die „Ordnung“ „wiederherzustellen“, die Wahl zu annullieren und „einfach“ weiterzuregieren.[15] Als aber die wirklichen, außerparlamentarischen Machthaber – Groß-Investoren, Konzernchefs und Generalität – sahen, dass der Abenteurer im „Weißen Haus“ gescheitert war und aktuell nur eine Horde von Randalierern, nicht aber Armee und Nationalgarde einsetzen konnte, um sich an der Macht zu halten, ließen sie ihn fallen wie eine heiße Kartoffel, ja, diejenigen von ihnen, denen die bedeutendsten Informations- und Desinformations-Apparate gehören (Pressekonzerne, Fernsehsender, „soziale Medien“ wie Twitter, YouTube und Facebook), „zogen nun einfach den Stecker“, sodass Trump seine mehr als 100 Millionen „Follower“ plötzlich nicht mehr mit den gewohnten Anschuldigungen, kontrafaktischen Behauptungen und Gewaltaufrufen erreichen und bei der Stange halten konnte. Die „Demokraten“ setzten daraufhin zu einem zweiten (eigentlich schon dritten) Versuch zu einer Amtsenthebung Trumps an, den wiederum Pence prompt blockierte. Trump fuhr an die Grenze zu Mexiko, feierte dort ein weiteres Mal die von ihm forcierte Grenzmauer, die Zuwanderung verhindern soll, und beschwor, scheinbar unbeeindruckt, die „Gestohlene Wahl“, um die Präsidentschaft Bidens zu delegitimieren. Niemand hat es bisher gewagt, Trump wegen „Hochverrats“ anzuklagen, und so hat er gute Chancen, auch diesmal davonzukommen, seine Gefolgschaft zu mehren und zu organisieren und 2024 ein Comeback zu starten.[16]
(7) Was aber folgt für die Opposition gegen Trump aus dessen vierjähriger Präsidentschaft und daraus, dass er noch immer einen Rückhalt an mehr als 74 Millionen potentiellen Wählern hat? Die Linke ist in den Vereinigten Staaten traditionell schwach und, wie gegenwärtig in vielen Ländern, auf kleine agitatorisch und propagandistisch tätige Gruppen beschränkt. Deren Überlebenschance besteht darin, Verbündete (auf dem linken Flügel der „Demokraten“, im Gewerkschaftsapparat, in der Studentenschaft, der Frauen- und Minderheitenbewegung, bei den „Black Life Matters“-Demonstranten, den Hispano-Amerikanern und bei der „Fridays for Future“-Jugend) zu werben, die es ihnen ermöglichen, eine dritte, sozialistische Partei zu formieren.
Die Vereinigten Staaten sind seit dem Ersten Weltkrieg die bedeutendste ökonomisch-militärisch-kulturelle Bastion des Weltkapitalismus, das heißt: ein Großteil des weltweit erwirtschafteten Mehrwerts wird von nordamerikanischen Finanzkapitalisten kontrolliert. Dieser – höchst ungleich verteilte – gesellschaftlich akkumulierte und privat kontrollierte Reichtum ermöglicht den USA unter anderem bis heute die Fortexistenz eines – andernorts längst als allzu „luxuriös“ und ineffizient abgeschafften – demokratisch-repräsentativen Überbaus. Die amerikanische Demokratie (mit Gewaltenteilung, mehr oder weniger demokratisch strukturierten Parteien, freien Wahlen und einem gewählten Präsidenten mit Sonder-Vollmachten) ist – wie die französische – im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts entstanden, und sie war lange Zeit – wie die älteste, die athenische – eine Sklavenhalter-Demokratie. Ihre Voraussetzung war die erfolgreiche Landnahme durch europäische Religions- und Wirtschaftsflüchtlinge, die in einer langen Reihe von „Indianerkriegen“ die Urbevölkerung vertrieben und dezimierten und sodann durch afrikanische Sklaven ersetzten. In den vergangenen 150 Jahren wurde das System der „unfreien“ oder Zwangsarbeit auch in den Vereinigten Staaten durch das System der international dominierenden „freien Arbeit“ alias „Lohnsklaverei“ (Marx) überformt und von ihm durchdrungen. Nach dem Bürgerkrieg der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts und im Gefolge der Studenten- und „Rassen-Unruhen“ des 20. Jahrhunderts (während des „Kalten Kriegs“) wurde aus der offenen Apartheids-Gesellschaft eine verdeckte. Deren Fortexistenz ist erst nach der Ermordung des Farbigen George Floyd durch drei weiße Polizisten auf offener Straße (in Minneapolis am 25. 5. 2020) national und international wieder ins kollektive Bewusstsein gerückt.
(8) In allen als „demokratisch“ bezeichneten Staaten – es werden derzeit weltweit immer weniger – figurieren die „demokratischen“ Strukturen nur als eine Insel inmitten vordemokratischer Wirtschafts- und Lebensverhältnisse, eine Insel, die jederzeit in Gefahr steht, von dem vordemokratischen Meer, aus dem sie aufgetaucht ist, wieder verschlungen zu werden, sich also in ein mehr oder weniger „autoritäres“ Regime zu verwandeln. Auf dem abschüssigen Weg dorthin geben die Parteien und Regierungen, die Mangel und Ungleichheit samt dem gärenden faschistischen Untergrund nur verwalten, den Status quo (von dem sie selbst leben) als „alternativlos“ aus. Tatsächlich beruht der Erfolg der sogenannten „populistischen“ Demagogen und Parteien und die Faszination, die von faschistischen, „evangelikalen“ oder „islamistischen“ Sekten ausgeht, darauf, dass die Entwicklung der höchstentwickelten Gesellschaften in steigendem Maße auf „Eindimensionalität“ (Herbert Marcuse[17]) hinausläuft. Wo plausible Alternativen zum Status quo und zu der von ihm determinierten Entwicklung nicht mehr gedacht, geschweige denn in die öffentliche Diskussion und in Wahlkämpfe eingeführt werden können, füllen skrupellose Demagogen das Vakuum mit globalen Pseudoerklärungen und phantastischen, gewaltträchtigen Heilsversprechen.
Pathisches Vergessen (1945-2024)
„Die Neurose begnügt sich in der Regel damit, das betreffende Stück der Realität zu vermeiden und sich gegen das Zusammentreffen mit ihm zu schützen. Der scharfe Unterschied zwischen Neurose und Psychose wird […] dadurch abgeschwächt, daß es auch bei der Neurose an Versuchen nicht fehlt, die unerwünschte Realität durch eine wunschgerechtere zu ersetzen.“ (Freud, 1924 S. 367)[18]
(9) Gegen Kriegsende (1945) wurde deutlich, dass der Frontverlauf zwischen sowjetischen auf der einen und amerikanisch-englisch-französischen Truppen auf der anderen Seite zu einer Grenze zwischen bürokratischer Planwirtschaft und kapitalistischer, kreditgesteuerter Wiederaufbau-Gesellschaft werden würde. Die nach dem Krieg in West-Deutschland seitens der westalliierten Besatzungsmächte begonnene Entnazifizierung und „Reeducation“ war ein halbherziger Versuch, die Bevölkerung ihrer jeweiligen „Zone“ demokratisch umzuerziehen, ohne die vordemokratische Verfassung der Wirtschaft (also die private Verfügung über gesellschaftliche Produktionsmittel) einzuschränken.[19] Der sowjetischen Zone wurde das Modell einer bürokratischen Planwirtschaft oktroyiert. In beiden Fällen blieb (im Zeichen des „Kalten Krieges“) die innere Opposition verpönt, während die generationenlang eingeübte „autoritäre“ Mentalität einem besinnungslosen Wiederaufbau nutzbar gemacht wurde. Die Bevölkerungsmehrheit, die unter Nazi-Regie zu einer Raub- und Mordgemeinschaft geworden war, flüchtete sich, nachdem sich infolge des Kriegsverlaufs das Projekt, ein Herrenmenschen-Deutschland zwischen Atlantik und Ural zu erobern, als Illusion erwiesen hatte, angstgetrieben in ein kollektives Nicht-wahr-haben-Wollen der Ära des „Dritten Reichs“. Verleugnet wurden nicht nur die Massenverbrechen des Regimes vor und während des von Hitler und seinen Paladinen initiierten Zweiten Weltkriegs, sondern auch die enthusiastische Zustimmung zur und die aktive Beteiligung der Bevölkerungsmehrheit bei der Realisierung der faschistischen Innen- und Außenpolitik. In der vermeintlichen „Stunde Null“ wurden 1945 auch zwölf Jahre der Lebensgeschichten entwertet, umgedichtet oder „annulliert“.[20] Zur Vorgeschichte dieses lebenspraktischen deutschen Kraftakts gehörten zweifellos die nationalistisch „entschiedenen“ Debatten um „Kriegsschuld“ und „Dolchstoß“(-Legende), das Schweigen über die Weltkriegs-Gefallenen und über die Opfer von Gegenrevolution und Klassenjustiz während der Weimarer Republik. Doch der „traumatische“ Regimewechsel von 1945 löste eine weitaus tiefgreifendere „Erinnerungsstörung“ aus, nämlich nicht nur eine Revision, sondern den Versuch einer Löschung des individuellen und kollektiven Gedächtnisses.[21] Natürlich sind solche Löschungsversuche letztlich zum Scheitern verurteilt.[22] Der Freudschen Theorie zufolge werden im Fall der (angstbedingten) Verdrängung „Sachvorstellungen“ von den mit ihnen verknüpften „Wortvorstellungen“ getrennt (vermöge deren sie überhaupt erst zu Bewusstsein kommen). Die energetisch-affektive „Besetzung“ einer verpönten Vorstellung wird zu „Gegenbesetzungen“ verwendet oder auf weniger riskante Objekt-Repräsentanzen verschoben. Der „Auftrieb“ des Verdrängten, das drohende Misslingen seiner Exkommunikation erfordert jedoch mit der Zeit immer aufwändigere Gegenbesetzungen. Darum macht Verdrängung, eine Fluchtbewegung um des Überlebens willen, am Ende Individuen und Kollektive lebensunfähig. Zunächst aber wird der Versuch, der eigenen Schreckens-Geschichte zu entkommen, indem man sie ignoriert, dem Arsenal der „Gefühlserbschaften“[23] einverleibt und nachfolgenden Generationen vermacht, und so lastet „die Tradition“ auch dieses – wie aller anderen „toten Geschlechter“ – „wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“ (Marx[24]).
Die Nazi-Führer und -Ideologen waren nicht nur fanatisch entschlossen, den Wahn von der Überlegenheit ihrer „Rasse“ durch die Vernichtung von vielen Millionen Menschen – die sie für „minderwertig“ erklärten und deren Lebensraum sie für „ihresgleichen“ beanspruchten – durch ihre Untaten zu beglaubigen, sondern zugleich darauf bedacht, die Spuren ihrer Massenverbrechen (und mit diesen Spuren die Erinnerung an ihre Untaten) zu tilgen. Sowohl das „Euthanasie“-Programm (der Ermordung von etwa 70.000 behinderten und kranken Menschen) seit Herbst 1939, die sogenannte „Aktion T4“, als auch das Folge-Projekt der Ermordung der europäischen Juden wurden als „Geheime Reichssache“ deklariert. Die berüchtigte „Wannseekonferenz“, die der Organisation der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ galt (die seit 1979 als „Holocaust“ umschrieben wird), fand im Januar 1942 statt – ein halbes Jahr nach dem Überfall der NS-Wehrmacht auf die Sowjetunion, der mit Massen-Erschießungen und -Vergasungen von Juden, Kommissaren, Partisanen und Kriegsgefangenen einherging. Zur gleichen Zeit begann auch die Planung für die SS-„Sonderaktion 1005“, deren Aufgabe es (unter Leitung des Organisators des Massakers von Babyn Jar, Paul Blobel) war, in den Jahren 1942-44 viele Hunderttausend Leichen in den Massengräbern der Erschießungsstätten und Vernichtungslager (vor allem in der Ukraine und in Polen) zu exhumieren und zu verbrennen.[25] Im Frühjahr 1945 tat es ihnen dann die Bevölkerung, die lange Zeit auf den „Endsieg“ gehofft hatte, nach: In Millionen Haushalten gingen nationalsozialistische Literatur und Hakenkreuzfahnen, persönliche Dokumente und Propaganda-Schallplatten, Foto-Alben und Filme, Uniformen und Hitlerbilder in Flammen auf, Orden und Parteiabzeichen wurden vergraben (oder in Puppenköpfe eingenäht). In Stadt und Land gab es kaum mehr jüdische Überlebende, doch von den achteinhalb Millionen Parteimitgliedern wollte keiner dafür verantwortlich sein oder etwas von ihrem Schicksal gewusst haben. Als die ersten Panzer, die ersten Jeeps der Alliierten durch die Straßen fuhren, hob plötzlich keiner mehr, wie in den zwölf Jahren zuvor, seinen Arm zum Hitlergruß…
Realitätsverlust war die Folge dieser kollektiven Flucht ins Vergessen, und nicht einmal die anti-autoritäre Studenten- und Schüler-Protestbewegung von 1968 vermochte es, das gestörte Verhältnis der Mehrheit zur deutschen Vergangenheit nachhaltig zu korrigieren. Sind Abwehrmechanismen wie die angstvolle „Verleugnung“ einmal habitualisiert, überdauern sie so manchen Generations- und Regimewechsel, nicht nur die kurzen, sondern auch die „langen Wellen“ der Konjunktur. In der Folge wurde von Vielen alles vermieden, was an die „dunklen“ zwölf Jahre erinnerte; und das wird immer mehr, seit nicht nur Vergangenheits-Historiker (die es ausgraben), sondern auch Vergangenheits-Wiederholer, völkische Ideologen und Mordgesellen, die es darstellen, auf den Plan treten (wie die drei Leute vom „nationalsozialistischen Untergrund“, die vor zwanzig Jahren „Alis“ umbrachten, oder der Synagogen- und Dönerbuden-Attentäter Balliet 2019 in Halle). Gewohnheitsmäßiges Vergessen beschränkt nicht nur das Welt- und Gesellschaftsverständnis, sondern ruiniert auch das affektive Reaktionsvermögen: es wird disproportional oder versagt auch gänzlich… So schweigen die Affekte hinsichtlich der Gefahr, die von Atommeilern und Kernwaffen droht[26], geraten aber in Aufruhr, wenn es um Covid-Schutzimpfungen geht; einzelne Attentate faschistischer Attentäter (in Halle oder Hanau…) werden stets wieder „unfassbar“ genannt, auf diese Weise isoliert und dann rasch vergessen; dass sie eine lange Reihe bilden, also eine „Tendenz“ indizieren, entzieht sich der Wahrnehmung.[27]
Die arglos Vergesslichen im Theater der Gegenwart sind außerstande, die anders Vergesslichen auf der politischen Bühne, die ihnen als zwanghafte Wiederholer Furcht und Elend des „Dritten Reiches“ noch einmal vorspielen (und sie zum Mitspielen bei einem neuerlichen großen Totentanz auffordern), als das zu erkennen, was sie sind: Wiedergänger, Reinkarnationen der Propagandisten und Schläger von vor hundert Jahren. Zu den ahnungslosen Wiedergängern gehören auch jene 16 Prozent der jugendlichen Erstwähler, die jüngst das Verhalten ihrer Urgroß-Eltern in der Endzeit der ersten Republik kopierten. Die wussten damals nicht, was sie taten, als sie für die NSDAP stimmten, in der Hoffnung, Hitler könne ihnen einen Weg aus dem Labyrinth der Krise weisen; doch führte sie dieser Weg geradewegs nach Auschwitz und Stalingrad.
Eine neue, totalitäre Partei
(9) 1945 kam es im besetzten Deutschland zu einer umfänglichen De-Realisierung[28] der Wirklichkeit des „Dritten Reiches“ – eingeschlossen zwölf Jahre des je eigenen Lebens. Was die ungeheuerlichen Untaten im Gefolge der „Nationalen Erhebung“ von 1933 anging, wollte es keiner gewesen sein, und so gab es plötzlich auch keine Nazis mehr. Seither treten sie maskiert auf, eben als „Nicht-Nazis“… Und so waren die schweigende Mehrheit und ihr Staat bisher denn auch außerstande, sie zu bekämpfen. Das galt und gilt für die immer wiederkehrenden Versuche, NS-Nachfolgeorganisationen zu gründen; und es galt für die 90er Jahre, in denen zwar die wieder vereinten West- und Ostdeutschen einander zu tolerieren lernten, ihr Hass sich aber gegen die „Anderen“, Flüchtlinge und Migranten, richtete und mehr als 100 ungesühnte Morde forderte. Selbst als die „Zwickauer Zelle“ des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ in den Jahren 2000 bis 2006 Polizei und Publikum mit ihrer – gegen „Alis“ gerichteten – Mordserie ein Stück NS-Alltag für sie nachspielte, sträubten sich Polizei und Bevölkerung so lange wie möglich gegen das Wieder-Erkennen des alten, in den Hitler-Jahren alltäglichen Schreckens in dieser öffentlichen Re-Inszenierung.[29]
(10) Und so sind wir im Jahr 2024 in Deutschland mit einer veritablen Faschisten-Organisation konfrontiert, die 35.000 Mitglieder zählt und für die bis zu einem Fünftel der Wahlberechtigten stimmt. Ein Jahrzehnt nach ihrer Gründung ist sie zur zweitstärksten Partei geworden, obwohl zu ihren erklärten Zielen die Abschaffung des parlamentarischen Systems und eine „Homogenisierung“ der Bevölkerung mit Hilfe von Massen-Deportationen gehören.
Zur Maskerade dieser „Extrem Rechten“ gehört, dass sie längst auch Forderungen der in die Defensive gedrängten „Linken“ übernommen haben, also gegen (nicht näher spezifizierte) „Eliten“, gegen die etablierten Parteien, gegen die USA und für direkte Demokratie agitieren. Um die Verwirrung komplett zu machen, verschieben sie ihren Antisemitismus auf die Muslime und spielen sich als wahre Freunde Israels (und seiner Regierungen) auf, und wie einst Hitler mit Stalin paktierte und später die kremltreue Linke Stalin huldigte, so liebäugelt die heutige Rechte mit dem Stalinisten im Kreml. Die angeblich „wehrhafte“ Demokratie übt sich der AfD gegenüber in repressiver Toleranz, finanziert die Nazi-Partei wie alle anderen und traut sich nicht, sie zu verbieten. Statt den Brand zu bekämpfen, treten die deutsche Mehrheitspartei CDU/CSU und die „Liberalen“ als „Brandmauer“ auf und bereiten sich im Stillen „realpolitisch“, also um des „Macht“-Erhalts willen, auf künftige Mitte-Rechts-Koalitionen vor.
(11) Seit 100 Jahren figurieren die parlamentarisch-kapitalistischen Demokratien als Antithesen zum „Totalitarismus“. Zwei dieser „totalitären“ Bewegungen und Regime, die zeitweilig mit einander paktierten und einander schließlich im Zweiten Weltkrieg ruinierten, sind längst zu verpönten (und darum gern auch imitierten) Modellen geworden. Sie erfüllten konträre politisch-ökonomische Funktionen: Sollte der Faschismus Privateigentum und Nationalstaat vor der Arbeiterbewegung „retten“, so ging es dem Stalinismus um die Verteidigung der revolutionär verstaatlichten Produktionsmittel und um die bürokratische Kontrolle über Wirtschaft und Gesellschaft (Arbeiter, Bauern und Intelligenzija). Beide Regime standen im Dienst utopischer Projekte – des Aufbaus des „Sozialismus“ in einem zwar riesigen, aber unterentwickelten Land (oder Block) beziehungsweise der Eroberung Europas (und seiner Kolonien) durch eine deutsche Herrenmenschen-„Volksgemeinschaft“. Beide Regime entwickelten – mit GPU und Gestapo – ungeheure Repressionsapparate, die einander auf fatale Weise glichen.[30] Die entscheidende Analogie der beiden „klassischen“ Totalitarismen war jedoch der – Führung und Gefolgschaft gemeinsame – Wahn, ihr (utopisches) Ziel sei (nur) erreichbar, wenn jenes Zehntel oder Fünftel der Bevölkerung ihres Herrschaftsgebiets, das ihnen als ungeeignet oder als „Saboteur“ des erwünschten Fortschritts galt, interniert, deportiert oder umgebracht würde.
(12) In Deutschland müsste das Drehbuch des Aufstiegs einer faschistischen Partei – mit Unterstützung durch Finanz- und Industriekapitalisten und mit Rückendeckung der Armee –, sowie dasjenige des Ausbaus ihrer Terrorherrschaft wohlbekannt sein; es wird aber angestrengt vergessen. Interessenten sprechen sich dezidiert dagegen aus, aus dieser fatalen Geschichte Lehren für die Gegenwart zu ziehen. Die Faschisten aber tun eben das – freilich auf ihre Weise. Sie wissen, dass ihre Stunde kommt, wenn die Instanzen und Verteidiger der parlamentarischen Demokratie bei der Krisenbewältigung versagen. Und da es das Geschäft der Christ- und Sozialdemokraten ist, Krisen zu verwalten, nicht aber deren Ursachen zu bekämpfen (was nur mit Hilfe antikapitalistischer Reformen möglich wäre), bieten Faschisten sich als Krisen-Bewältiger an, die ein autoritäres Regime an die Stelle des parlamentarischen setzen wollen und den – nach Austreibung von vielen Millionen „Fremden“ – verbleibenden Deutschen (mit ethnisch einwandfreier Abkunft) Sicherheit und Wohlstand versprechen.
(13) Historische Vergleiche ermöglichen das Lernen aus früheren Situationen, in denen Krisen sich zu Katastrophen auswuchsen oder, seltener, die damals lebenden denkenden und leidenden Menschen rechtzeitig einen Ausweg fanden. Solche Vergleiche machen auch die Unterschiede kenntlich, auf die es für das Verständnis der heutigen Verhältnisse und für das Handeln unter diesen Umständen ankommt. Vor 1933 galten die Millionen Wählerstimmen für die sozialistisch orientierten Arbeiterparteien als Garanten der parlamentarischen Demokratie, die deren Mitglieder und Sympathisanten erkämpft hatten. Leider erwies sich das 1933 als eine Fehleinschätzung. Die prokapitalistisch orientierte Sozialdemokratie und die Gewerkschaften von heute sind kaum auf eine Rettung der Repräsentativ-Demokratie vorbereitet. Deren Vorwärts-Verteidigung, also ihre Fundierung durch eine Demokratisierung der Wirtschaft haben sie nicht im Programm. Und so steht die politisch bewusste Minderheit, die weiß, was Faschismus bedeutet und die dessen erstes Opfer wäre, vor der Aufgabe, einen Teil der gewöhnlich konformistisch-apathischen Mehrheit für die faschistische Gefahr zu sensibilisieren. Nachdem der vor einem Vierteljahrhundert von Gerhard Schröder ausgerufene „Aufstand der Anständigen“ längst vergessen ist, haben die spontanen städtischen Massen-Demonstrationen „gegen Rechts“ im Januar und Februar dieses Jahres in der Bundesrepublik und in Österreich gezeigt, wer im Ernstfall willens und in der Lage wäre, der faschistischen Gefahr zu begegnen und die demokratische Lebensform zu verteidigen. Es handelte sich um die größte spontane, außerparlamentarische Bewegung der Nachkriegszeit: Mehr als drei Millionen Menschen protestierten wochenlang auf Straßen und Plätzen ihrer Städte gegen die AfD und deren „identitäre“ Ideologen. Niemand hatte sie gerufen, keiner sie organisiert. Und die Sprecher der großen Parteien, die sich eilfertig diesen Demonstrationen anschlossen, ahnten, dass dieser spontane Massenprotest ein Misstrauensvotum war, das sich gegen Politiker richtete, die für die Einschränkung des Asylrechts verantwortlich sind und denen – angesichts der Flüchtlinge und Migranten aus den Kriegs- und Hungerwüsten unserer Welt – nichts anderes einfällt als: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben!“ Was in der „schweigenden Mehrheit“ der Bevölkerung seit der Flüchtlings-„Welle“ von 2015 vorging, war den an Umfrage-Daten orientierten „Abschiebe“-Politikern verborgen geblieben, bis die Journalisten des Recherchezentrums Correctiv ihren Bericht über ein Geheimtreffen von AfD-Funktionären, faschistischen Ideologen und Geldgebern veröffentlichten (das Ende November 2023 in einem Potsdamer Landhotel stattgefunden hatte).[31] Das war der Tropfen, der das Fass der Sorgen über den erneuerten Faschismus zum Überlaufen brachte. Und die drei Millionen, die aus diesem Anlass auf die Straße gingen, haben damit gezeigt, dass sie nicht mehr dem kollektiven Nicht-Wahrhaben-Wollen frönen und sich nicht mehr mit dem ritualisierten Gedenken an den „Holocaust“ begnügen, sondern verstanden haben, dass es sich bei der AfD und ihren Mitläufern um eine neue totalitäre Bewegung handelt.[32]
(14) Jetzt ist es die Aufgabe der radikal-reformerischen und antikapitalistisch orientierten Gruppierungen, zu verhindern, dass diese neuartige, spontane Protestbewegung – von der Art, wie wir sie in (West-)Deutschland zuletzt bei den Studenten, Schülern und Lehrlingen von 1968 sahen – folgenlos verpufft.
- Alle betroffenen, weil gefährdeten Organisationen sollten, unbeschadet ihrer speziellen Interessen und Orientierungen, dabei zusammenarbeiten, Stadtteil-Gruppen „Gegen Rechts“ zu bilden, die nicht nur Demonstrationen vorbereiten, sondern auch den zivilen Schutz gefährdeter Menschengruppen und Einrichtungen (Flüchtlingsquartiere, Synagogen, Moscheen, Kirchen…) selbst in die Hand nehmen.
- Ein (international vernetztes) nationales Komitee zum Kampf gegen AfD und „Identitäre“ sollte ins Leben gerufen werden, das in großer Auflage ein Bulletin herausgibt und im Internet publiziert, in dem die Politik der AfD Woche für Woche dokumentiert und analysiert wird. (Entsprechende mehrsprachige und gut verständliche Flugblätter sollten bei allen AfD-Veranstaltungen und -Umzügen in großen Mengen verteilt werden.)
- Eine an Parlament, Regierung und Justiz adressierte – Petition für ein Verbot der AfD (samt ihren Neben- und möglichen Nachfolgeorganisationen, besonders aber jener Teilorganisationen, die seit längerem schon als „gesichert rechtsextremistisch“ gelten) sollte vorbereitet werden, da diese Partei das totalitäre Projekt verfolgt, das nach Meinung ihrer Ideologen gefährdete „Überleben der deutschen Nation“ mit Hilfe der Deportation von Millionen zugewanderter und „nicht ausreichend assimilierter“ Staatsbürger zu sichern.[33]
- Die getarnten Nazis von heute müssen von nun an öffentlich „Nazis“ genannt und als solche bekämpft werden. Die Rekrutierung und Ausbildung von Polizisten, Soldaten und Lehrern muss von Grund auf verändert werden, um diese Berufsgruppen instand zu setzen, die parlamentarischen Institutionen zu verteidigen, statt sich (wie einst) in Kollaborateure ihrer Destruktion zu verwandeln. Die bewaffneten Banden im Untergrund müssen entwaffnet und die gewaltträchtige Ideologie des rechten »Flügels« der AfD, der »Identitären« und ähnlicher Gruppierungen muss Tag für Tag öffentlich analysiert und attackiert werden.
(15) Die wenigen demokratischen Republiken sind international nur zu retten, wenn die sie verteidigenden Kräfte ein radikales Reformprogramm entwickeln, das für die Mehrheit verständlich ist und sie so weit überzeugt, dass sie aus ihrer Apathie ausbricht, nicht länger klagt, dass niemand sie (er)hört, sondern selbst politisch aktiv wird, um die Realisierung von einem Jeden einleuchtenden, längst überfälligen Reformen in absehbarer Zeit politisch durchzusetzen.
Ein plausibles, alternatives Programm notwendiger gesellschaftlicher Reformen muss den Bogen schlagen von der Armutsbekämpfung zum Recht auf Arbeit, von der Vier-Tage-Woche zur gleitenden Lohnskala (zwecks Sicherung eines akzeptablen Lebensstandards) und weiter zum Recht auf öffentlich finanziertes Wohnen, Gesundheitswesen und Bildung für alle. Dieses Programm richtet sich gegen die private Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums, also gegen die Quelle aller politischen Macht (und deren Sicherung durch Korruption), es setzt die Fixierung von Vermögens- und Einkommensgrenzen voraus. Denn 2024 gilt wie 1924: Gelingt es nicht, die parlamentarische zu einer Wirtschaftsdemokratie zu erweitern und der stets nur verwalteten und „repräsentierten“ Bevölkerung einen Weg zur Selbstverwaltung zu öffnen, dann werden die (neuen) Faschisten die »Abgehängten«, »Zurückgesetzten«, »Verunsicherten« und »Beleidigten« abermals zu einer Gefolgschaft bündeln, die Demokratie und Menschenrechten alsbald den Garaus macht.
(21. 6. 2024)
Fußnoten:
[1] Vgl. dazu Fraenkel, Ernst (1940): Der Doppelstaat. Frankfurt (Europäische Verlagsanstalt) 1974.
[2] 10 Millionen Soldaten, 7 Millionen Zivilisten.
[3] Vgl. dazu den Artikel „Masse“ in: Institut für Sozialforschung (1956): Soziologische Exkurse. Frankfurt (Europäische Verlagsanstalt), Kap. V.
[4] Mentalitäten – internalisierte, verkörperte Einstellungen – dienen der Traditionswahrung; sie befördern den psychischen „Thermidor“, der der politischen Gegenrevolution vorausgeht. Vgl. dazu Marcuse, Herbert (1968): Psychoanalyse und Politik. Frankfurt (Europäische Verlagsanstalt) 1972, S. 47. Habermas, Jürgen (1987): Philosophisch-politische Profile. (Erweiterte Ausgabe.) Frankfurt (Suhrkamp) 2015, Kap. 13.d (1980).
[5] Es handelte sich um die Entwicklung geeigneter Indikatoren zur indirekten „Messung“ sozialer Vorurteile, genauer: zur Platzierung von Einstellungs-Syndromen auf einer Skala von „autoritären“ bis zu „nicht-autoritären“ Optionen.
[6] Von sieben in den vierziger Jahren durchgeführten Untersuchungen wurden fünf Studies in Prejudice von M. Horkheimer und S. H. Flowerman herausgegeben und veröffentlicht: Th. W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford (1950): The Authoritarian Personality; Bruno Bettelheim und Morris Janowitz (1950): Dynamics of Prejudice. A Psychological and Sociological Study of Veterans; Nathan W. Ackerman und Marie Jahoda (1950): Antisemitism and Emotional Disorder. A Psychoanalytic Interpretation; Paul Massing (1949): Rehearsal for Destruction; Leo Lowenthal und Norbert Guterman (1949): Prophets of Deceit. A Study of the Techniques of the American Agitator. Von den Untersuchungen von Bettelheim/Janowitz und Ackerman/Jahoda gibt es bisher keine deutsche Übersetzung, von der Studie von Adorno u. a. nur eine Teilübersetzung: Adorno, Th. W. (1950): Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt (Suhrkamp) 1973.
[7] Horkheimer, M., und Th. W. Adorno (1947): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Horkheimer, M. (1987): Gesammelte Schriften, Band 5; Frankfurt (Fischer), S. 11-290.
[8] Horkheimer, M. (1961): „Über das Vorurteil.“ Gesammelte Schriften, Band 8 (a. a. O.), 1985, S. 198 f.
[9] Gruppenexperiment, Ein Studienbericht, hg. von Friedrich Pollock, Frankfurt (Europäische Verlagsanstalt) 1955.
[10] Freud, Sigmund (1930): Das Unbehagen in der Kultur. Gesammelte Werke (GW), Band XIV, Frankfurt (Fischer) 1963, S. 419-506.
[11] Mills, Charles Wright (1956): Die amerikanische Elite. Gesellschaft und Macht in den Vereinigten Staaten. [The Power Elite.] Hamburg (Holsten-Verlag) 1962.
[12] Marx, Karl (1867; 1890): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Berlin (Dietz) 1962, S. 12 (Vorwort zur ersten Auflage).
[13] Vgl. dazu Matthieu von Rohr (2016): „Narzisst und Hetzer. Donald Trumps Flirt mit der Gewalt ist eine Bedrohung für die Demokratie.“ Der Spiegel, Hamburg, 12. 8. 2016, S. 83.
[14] A. a. O. ( Anm. 11).
[15] Vgl. dazu Bennhold, Katrin, und Michael Schwarz: „Global right is cheered by assault on U.S. Capitol. Events in America seen as pointing a way forward for violent fringe.” The New York Times International, 26. 1. 2021, S. 1 und 5. – Hustvedt, Siri: „Faschistisches Spektakel. Als die Trump-Fans das Kapitol stürmen, herrschen Karnevalsstimmung und das Gefühl von Schuldlosigkeit. All’ das erinnert an die Lynchmobs der Vergangenheit. Der Spiegel, 16. 1. 2021, S. 114-115. – Krugman, Paul: „Appeasement got us where we are. It’s time to stand up to the fascists among us.” The New York Times International, 7. 1. 2021. – Pfister, René, u. a.: „Der Feind im Innern. Der neue Präsident Joe Biden will ein zerrissenes Land versöhnen, das von den Lügen seines Vorgängers Donald Trump vergiftet ist. Doch überall rüsten sich rechte Milizen zum Kampf gegen das liberale Amerika.“ Der Spiegel, 23. 1. 2021, S. 72-74. – Snyder, Timothy: „The American Abyss. A historian of fascism and political atrocity on Trump, the mob and what comes next.” The New York Times International, 9. (und 10.) 1. 2021.
[16] Vgl. dazu Hanfeld, Michael (2024): „Trumps Truppe.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. Juni 2024, S. 16, sowie Millet, Katherine (2024): „The system wasn’t built for Jan. 6. Nor was the U.S.”; International New York Times, 20. 6. 2024, S. 9. – Die deutsche „Reichsbürger“-Putschtruppe um den Prinzen Reuß, die es bereits zu einem „Bewaffneten Arm“ und zu „Schwarzen Listen“ gebracht hat (und gegenwärtig vor Gericht steht), zeigt, was aus der AfD werden kann, wenn ihr (wie bisher) keiner in den Arm fällt…
[17] Marcuse, H. (1964): Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. [One-Dimensional Man.] Neuwied (Luchterhand) 1967.
[18] Freud, Sigmund (1924): „Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose.“ Gesammelte Werke (GW), Band XIII; Frankfurt Fischer) 1963, S. 367.
[19] Die westlichen Besatzungsmächte verhängten zwar Produktionsbeschränkungen (Stahl, Leichtmetalle, Werkzeuge…), demontierten zahlreiche Betriebe und übernahmen deutsche Patente, blockierten aber (unter anderem in Hessen und Nordrhein-Westfalen) alle Initiativen zur Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien, auch wenn die entsprechenden Verfassungsartikel und Ausführungsgesetze bereits durch Volksabstimmungen legitimiert worden waren.
[20] Sigmund Freud hat uns (in einem an Romain Rolland adressierten Brief) ein – in diesem Zusammenhang aufschlussreiches – Stück seiner Selbstanalyse hinterlassen, in dem er eine „Erinnerungsstörung auf der Akropolis“, nämlich ein „Entfremdungsgefühl“, aufzuklären suchte. Es handele sich dabei um eine Fehlleistung, „von abnormem Aufbau wie die Träume […]. Man beobachtet sie in zweierlei Formen; entweder erscheint uns ein Stück der Realität als fremd oder ein Stück des eigenen Ichs. In letzterem Fall spricht man von >Depersonalisation<; Entfremdungen und Depersonalisationen gehören innig zusammen.“ Freud (1936): „Brief an Romain Rolland.“ GW, Band XVI, a. a. O (Anm. 18), 1961, S. 254 f.
[21] In der „Stunde Null“ gab es – von überlebenden Widerständlern und KZ-Häftlingen abgesehen – in Deutschland eine klare Mehrheit von „Holocaust-Leugnern“…
[22] „Die stärkste Unterdrückung muß Raum lassen für entstellte Ersatzregungen und aus ihnen folgende Reaktionen.“ Freud, S. (1912/13): Totem und Tabu. GW, Band IX, a. a. O. (Anm. 18), S. 191.
[23] Freud, a. a. O.
[24] Marx; Karl (1852): Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Marx-Engels-Werke (MEW), Band 8, Berlin (Dietz) 1960, S. 115.
[25] Die heutige Generation lebt, ohne sich dessen bewusst zu sein, in Europa auf einem ungeheuren Schindanger. Und der Kampf um Vergessen oder Exhumieren ist weder in Spanien noch in Russland
entschieden. Vgl. dazu meinen Artikel „Leben im Zeitalter der Massaker“ (2005) in: Divergenzen (Münster, Westfälisches Dampfboot, 2009, S. 172-189). (H. D.)
[26] Vgl. dazu Hennigan, W. J. (2024): The human toll of nuclear tests.“ The New York Times, International; 27. 6. 2024, S. 8 und 10.
[27] Vgl. dazu meine Broschüre Antisemitismus, Xenophobie und pathisches Vergessen; Münster (Westfälisches Dampfboot) 2020. (H. D.) – Der Hamas-Überfall vom 7. Oktober 2023 auf ein israelisches Musikfestival und auf einen Kibbuz, bei dem 1.139 Menschen umgebracht und 239 verschleppt wurden, löste in Deutschland – unter dem Schatten des „Holocaust“ – bei Vielen Mitleids- und Ohnmachtsgefühle aus, die umso heftiger waren, je weniger die von ihren Gefühlen Überwältigten vom historischen „Kontext“ dieses Massakers wussten. In der Folge blockierte dieser Affekt dann auch ihr Reaktionsvermögen, als sie mit dem nachfolgenden Vergeltungs-„Krieg“ der israelischen Armee im Gaza-Streifen konfrontiert wurden, der bislang – nach Angaben des Hamas-Gesundheitsministeriums – etwa 37.000 Opfer gekostet hat.
[28] Dahmer, H. (1990): „Derealisierung und Wiederholung.“ In: Dahmer (2009): Divergenzen; Münster (Westfälisches Dampfboot), S. 37-45.
[29] Das zu lebenslanger Haft verurteilte Mitglied der sogenannten „Zwickauer Zelle“ des „NSU“, Beate Zschäpe, hat 2023 gegenüber BKA-Beamten „Angaben zum Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter im April 2007 in Heilbronn“ gemacht: Ihr Kumpan Böhnhardt habe ihr erzählt, „dass er am Tatort die Buchstaben >NSU< an einer Wand hinterlassen habe. Tatsächlich fand sich an der Mauer, vor der Kiesewetters Streifenwagen geparkt war, ein solcher Schriftzug. Bei den damaligen Ermittlungen erkannte jedoch niemand seine Bedeutung.“ Der Spiegel, 8. 6. 2024, S. 18 („Doppelleben in der Schweiz?“); von mir unterstrichen (H. D.).
[30] Die erfolgreiche Liquidierung jeglicher Opposition und die Straflosigkeit der Täter verlieh den beiden „totalitären“ Herrschaftssystemen die Bedeutung von international vielfach imitierten Modellen. Eine der Folgen totalitärer Herrschaft ist die intergenerationell wirksame Lähmung der Spontaneität der Bevölkerung.
[31] Vgl. dazu den Wikipedia-Artikel über das „Treffen von Rechtsextremisten in Potsdam 2023“ (Version vom 21. 6. 2024).
[32] Die drei Millionen Demonstranten sind nur eine Minderheit der (noch keineswegs alarmierten und aktivierten) Mehrheit der abhängig Beschäftigten in Verwaltungen, Fabriken, Bildungseinrichtungen und Laboratorien, aber sie bilden ein politisches Gegengewicht zu den 6.3 Millionen Mitbürgern, die bei den diesjährigen deutschen Europa-Wahlen für die AfD gestimmt haben.
[33] Galten 1933 den Nazis „die Juden“ als „unser“ Unglück, so sollen es heute alle diejenigen sein, die keine deutschen Großeltern haben und die zögern, sich, nach allem, was im Namen dieser Kultur schon angerichtet worden ist, vorbehaltlos damit zu identifizieren…