Aus dem traurigen Anlass des Todes unseres Genossen Fritz Keller veröffentlichen wir ein Interview, das Selim Nadi von der französischen Zeitschrift Contretemps 2017 mit Fritz über die österreichische Solidarität mit dem algerischen antikolonialen Befreiungskampf, geführt hat.

In diesem Interview blickt der österreichische Historiker Fritz Keller auf seine Arbeit über die Beziehung der österreichischen Linken zur algerischen Revolution zurück. Mehr als eine Frage der historischen Gelehrsamkeit, ermöglicht der internationale Charakter der Solidarität mit dem algerischen Befreiungskampf ein neues Licht nicht nur auf die Geschichte des Antikolonialismus, sondern im weiteren Sinne auf die Geschichte der europäischen – hier der österreichischen – Linken zu werfen. In der Tradition von Claus Leggewie – der sich mit den Kofferträgern in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigte – kommt Keller hier also auf diese wenig bekannte Periode in der Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung zurück.

Contretemps (CT): Wie kam es dazu, dass Sie sich für die Beziehungen der österreichischen Linken zum Algerienkrieg interessierten?

Fritz Keller (FK): Als ich 1965 mit 15 Jahren in eine sozialdemokratische Jugendorganisation in Wien[1] eintrat, war das Engagement der Linken im algerischen Unabhängigkeitskrieg bereits ein Mythos unter den Veteranen, die mit glänzenden Augen ins Kino gingen, um Gillo Pontecorvos „Die Schlacht um Algier“ (1966)[2] zu sehen. Die Höhepunkte ihrer persönlichen Erzählungen waren der Aufbau einer illegalen Waffenfabrik in Marokko und der gescheiterte Versuch, für die FLN gefälschte Banknoten im Wert von mehreren Dutzend Millionen französischen Francs zu drucken, mit denen die französische Wirtschaft sabotiert werden sollte. Ich hingegen interessierte mich hauptsächlich für die 1968er-Bewegung mit all ihren Verzweigungen in Österreich und auf internationaler Ebene.

Mein historisches Interesse an Algerien entstand erst, als sich nach 1991 angesichts eines Bürgerkriegs in Algerien, der fast 200.000 Opfer forderte, die politische Frage nach dem Verhältnis zu den vom Islamismus dominierten politischen Bewegungen stellte. Aus diesem Kontext ergab sich meine deutschsprachige Dissertation[3] bei Marcel van der Linden vom Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam, die mittlerweile ins Arabische, Englische und Französische übersetzt und veröffentlicht wurde.

Gelebter Internationalismus

CT: In der Einleitung Ihres Buches Gelebter Internationalismus – Österreichische Linke und der algerische Widerstand (1958-1963) (Promedia-Verlag, Wien, 2010) erklären Sie, dass Sie sich in methodologischer Hinsicht vom marxistischen Philosophen und Historiker Leo Kofler[4] inspirieren ließen: Könnten Sie auf die Punkte eingehen, die Sie an Koflers Arbeit interessieren? Allgemeiner gefragt: In welcher historiografischen „Tradition“ stehen Sie?

FK: Von der Wiege an hatten wir beide mit dem Austromarxismus zu tun (besonders durch die Figur von Max Adler). Was mich an Koflers wissenschaftlichem Ansatz faszinierte, war, dass er im akademischen Lernen „nichts anderes als ein Mittel zur Organisation der Praxis“ sah. Darüber hinaus teilte ich seine Wertschätzung für empirische Arbeit. Kurz gesagt: Ich sehe mich in der Tradition der marxistischen Annales-Schule (insbesondere von Marc Bloch) sowie der Gruppe britischer Historiker um Maurice Dobb, Eric Hobsbawm und Edward P. Thompson.

CT: Hatten die Schriften der austromarxistischen Autoren der Zwischenkriegszeit einen Einfluss auf den Antikolonialismus der österreichischen Linken nach dem Zweiten Weltkrieg?

FK: Nach 1945 setzte die Führung der SPÖ, der Sozialistischen Partei Österreichs, alles daran, die Verbreitung der Schriften von Otto Bauer[5] zu verhindern, insbesondere derjenigen, die er im Untergrund und im Exil nach dem Scheitern des Februaraufstands von 1934 gegen das klerikal-faschistische Regime geschrieben hatte. Der Vorwand dafür war die Papierknappheit. Dennoch gaben die Jungsozialisten eine Sammlung seiner wichtigsten Beiträge im Selbstverlag heraus. „Die antikoloniale Revolution“ – so hieß es darin – „wird durch ihren unvermeidlichen Erfolg vor allem die Bewegung der demokratischen Sozialisten stärken, und zwar in der ganzen Welt“. Diese politische Perspektive motivierte die jungen Sozialisten zu einer Solidaritätsarbeit, die sich zunächst auf publizistische Aktivitäten gegen den „Dollarimperialismus“ und die „blinde Entfesselung von Gewalt“ in den ehemaligen Kolonien beschränkte. Das Zentrum der Propaganda war die Gruppe „Sozialistische Jugend-Internationale“ (SJI), die 1946 von dem Österreicher Peter Strasser[6] im Rathaus von Montrouge, einem Arbeitervorort von Paris, gegründet worden war.

Bei einem Treffen in Rom 1955 beschloss die Exekutivkommission der SJI (die 55 Jugend- und Studentenorganisationen mit 509.838 Mitgliedern vertrat) keine neue aggressive Resolution gegen Kapitalismus und Imperialismus, sondern spezifizierte die allgemeinen Überlegungen in einem konkreten Forderungskatalog, in dem das Recht auf Selbstbestimmung für die Algerier sowie ein Ende der „systematischen und blinden Unterdrückungspolitik der französischen Regierung“ gefordert wurde. Im August 1958 nahm die SJI offiziell Kontakt mit der Union Générale des Étudiants Musulmans Algériens (UGEMA) auf. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, bediente sich die SFIO mit wenig Erfolg sogar des Staatsapparats: So beschwerte sich der französische Botschafter in Österreich, ein Sozialdemokrat, bei Außenminister Bruno Kreisky, dass einer seiner Mitarbeiter das FLN-Zentralorgan El Moudjahid abonniert habe. 1960 antwortete die SJI auf solche Versuche mit einer „Unabhängigkeitserklärung“ gegenüber der ältesten Organisation der Sozialistischen Internationale.

Zu dieser Zeit halfen junge Sozialisten in Ost- und Westdeutschland, Österreich und der Schweiz den in Algerien stationierten Legionären bei der Desertion. Der Krieg sollte durch die Demoralisierung dieser Elitetruppe der französischen Armee beendet werden. Unterstützt wurden sie dabei von Si Mustapha Müller[7], einem Deutschen mit bewegter Vergangenheit, der es in der algerischen Befreiungsarmee (ALN) zum Major und Koordinator eines Rückkehrdienstes für Fremdenlegionäre mit Sitz in Marokko gebracht hatte: Deserteure, die bereits geflohen waren, gaben ihre Postleitzahl an. Aktivistinnen aus dem Kreis der Algeriensolidarität besorgten über Anzeigen in westdeutschen Zeitungen ebenfalls die Adressen von Legionären. Jeder Brief sollte somit einzigartig sein, um die weitestgehende konspirative Vorgehensweise gegen die militärische Spionageabwehr Frankreichs organisieren zu können. In den Anweisungen, die von verschiedenen Orten aus verschickt wurden, befand sich ein erklärender Leitfaden, wie die Legionäre dem heißen Wüstensand entkommen konnten. Innerhalb von sechs Jahren flohen auf diese Weise 4.111 Soldaten, was etwa 10 % der Legionsstärke entsprach.

CT: Wie war die Position der SPÖ in der Algerienfrage?

FK: Der größte Teil der SPÖ-Mitglieder hatte keinerlei Interesse an solchen Aktivitäten. Für die „proletarischen Bürger“ (Leo Kofler) hatte der gut gefüllte Kühlschrank Vorrang. Dennoch wurden radikale antiimperialistische Resolutionen auf Parteitagen ungelesen verabschiedet, ebenso wie die „Tatsachenberichte“ eines „Franz Huber“ ohne jede Reaktion im Zentralorgan der SPÖ veröffentlicht werden konnten. In diesem Artikel wurde die „unmenschliche Behandlung“ innerhalb der Legion in Frage gestellt. Nicht nur wurden thailändische Frauen quasi mit den Soldaten verheiratet, sondern den Soldaten wurden auch Schwimmbäder, Sportplätze und sogar ein hervorragendes Symphonieorchester zur Verfügung gestellt. Großzügige Pensionsregelungen waren garantiert.

CT: Im Kapitel über die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) schreiben Sie, dass diese seit Beginn des Befreiungskampfes 1954 jede ernsthafte Diskussion über die Haltung ihres französischen Gegenübers in der Kolonialfrage vermied: Könnten Sie auf die Entwicklung der KPÖ in Bezug auf ihr Verhältnis zur Kolonialfrage von Indochina bis Algerien eingehen? Wie kam es dazu, dass die KPÖ so schlecht über die Existenz und die Aktivitäten der KP Algeriens informiert war?

FK: Bis zum Ende der Besatzungszeit (1955) führte die KPÖ in Zusammenarbeit mit der Roten Armee regelrechte Kampagnen gegen die Werbemethoden der Fremdenlegion durch. Danach war es ein informeller „Solidaritätskreis mit der FLN“, bestehend aus SPÖ, KPÖ, der Kommunistischen Partei Algeriens (PCA) und Trotzkisten, der die Aktivitäten koordinierte. Das Ziel dieser informellen Gruppe war es, die Solidaritätsarbeit in einem neutralen Österreich von den Kontroversen des Kalten Krieges so weit wie möglich fernzuhalten. Die Mitglieder der KPÖ konnten sich, wenn überhaupt, über die Existenz eines PCA und die von Moskau diktierten Wendungen in der Algerienpolitik der KPF nur informieren, indem sie die in Moskau herausgegebene deutschsprachige Zeitschrift – Aus der internationalen Arbeiterbewegung – lasen oder sich die Untergrundpresse der algerischen Kommunisten beschafften. Das Verbot der PCA (KP Algeriens) im Jahr 1963 wurde im zentralen Presseorgan der KPÖ Volksstimme überhaupt nicht erwähnt.

CT: Kann man in Österreich von einer „algerischen Generation“ sprechen, oder würde man den Stellenwert der algerischen Revolution für die Aktivitäten der österreichischen Linken in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren überschätzen? Welche Rolle spielte die Solidarität mit der algerischen Revolution bei der Konstituierung einer neuen österreichischen Linken?

FK: Im Gegensatz zu den vielfältigen politischen Aktivitäten in den meisten europäischen Staaten gab es in Österreich keine Bewegung, die diese Bezeichnung wirklich verdiente. Die Solidaritätsgruppe mit der FLN präsentierte sich als internationalistisches Projekt eines Kerns von etwa 20 jungen Sozialist*innen. Sobald der Staatsstreich des algerischen Oberst Boumediene dem Glanz des algerischen „Sozialismus“ ein Ende setzte, verschwand diese heroische Episode aus dem kollektiven Gedächtnis. Was blieb, war eine wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den verstaatlichten Industrien beider Länder (vor allem im Eisenbahnsektor) und einer österreichisch-algerischen Gesellschaft, die 1963 von Sozialdemokraten gegründet wurde und die Aufgabe hatte, diesen Bereich vor kommunistischer Infiltration zu schützen.

 

Fußnoten:

[1] Es handelte sich um den VSM, Verband Sozialistischer Mittelschüler (damalige Schülerorganisation der SPÖ)

[2] Die Schlacht um Algier (1966): https://www.youtube.com/watch?v=_iuSvSS8eK8

[3] Keller, Friedrich (Fritz), Solidarität der österreichischen Linken mit der algerischen
Widerstandsbewegung, Dissertation Amsterdam 2010    https://pure.uva.nl/ws/files/1283807/76798_thesis.pdf

[4] Leo Kofler (Pseudonyme Stanislaw Warynski oder Jules Dévérit) 1907 – 1995 https://de.wikipedia.org/wiki/Leo_Kofler

[5] Otto Bauer (* 5. September 1881 in Wien; † 5. Juli 1938 in Paris) war österreichischer Politiker, führender Theoretiker der Sozialdemokratie seines Heimatlandes und Begründer des Austromarxismus. Er war von 1918 bis 1934 stellvertretender Parteivorsitzender der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) und 1918 bis 1919 Außenminister der Republik Deutschösterreich.

[6] Zur Person Peter Strasser, siehe: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Peter_Strasser

[7] Fritz Keller: Ein Leben am Rande der Wahrscheinlichkeit. Si Mustapha alias Winfried Müller. Vom Wehrmachtsdeserteur zum Helden des algerischen Befreiungskampfes, Mandelbaum-Verlag Wien 2017 https://www.mandelbaum.at/extracts/Leseprobe_si-mustapha-kern.pdf

 

Das Interview erschien ursprünglich in CONTRETEMPS – REVUE DE CRITIQUE COMMUNISTE am 13.4.1997

Fußnoten und Rückübersetzung ins Deutsche aus dem Französischen: Wilfried Hanser