von Leo Trotzki (10. Juni 1933)
Naive Leute glauben, die Königswürde stecke im König selbst, in seinem Hermelinmantel und in der Krone, in seinem Fleisch und Bein. Aber die Königswürde ist ein Verhältnis zwischen Menschen. Der König ist nur darum König, weil sich in seiner Person die Interessen und Vorurteile von Millionen Menschen widerspiegeln. Wenn dieses Verhältnis vom Strom der Ereignisse weggespült wird, erweist sich der König bloß als ein verbrauchter Herr mit herabhängender Unterlippe. Davon dürfte, aus frischen Erlebnissen, jener erzählen können, der sich einst Alfons XIII. nannte.
Der Unterschied zwischen dem Führer von Gottes und dem von Volkes Gnaden ist der, daß dieser darauf angewiesen ist, sich selbst den Weg zu bahnen oder wenigstens den Umständen zu helfen, ihn zu entdecken. Aber jeder Führer ist immer ein Verhältnis zwischen Menschen, ein individuelles Angebot auf eine kollektive Nachfrage. Die Erörterungen über die Persönlichkeit Hitlers sind um so hitziger, je mehr man das Geheimnis seines Erfolges in ihm selbst sucht. Doch ist es schwer, eine andere politische Gestalt zu finden, die in einem solchen Maße Knoten unpersönlicher geschichtlicher Kräfte wäre. Nicht jeder erbitterte Kleinbürger könnte ein Hitler werden, aber ein Stückchen Hitler steckt in jedem von ihnen.
Das rasche Wachstum des deutschen Kapitalismus vor dem Kriege bedeutete bei weitem nicht die einfache Aufreibung der Mittelklassen; während er einzelne Schichten des Kleinbürgertums zugrunderichtete, schuf er wieder neue: Handwerker und Krämer um die großen Betriebe herum, Techniker und Angestellte in den Betrieben. Aber während sie sich zahlenmäßig hielten – das alte und das neue Kleinbürgertum umfaßt nicht viel weniger als die Hälfte des deutschen Volkes -, büßten die Mittelklassen den letzten Schatten von Selbständigkeit ein: sie lebten am Rande der Schwerindustrie und des Bankensystems, sie aßen die Brosamen vom Tisch der Kartelle, sie lebten von den geistigen Almosen ihrer alten Theoretiker und Politiker.
Die Kriegsniederlage verbaute dem deutschen Imperialismus den Weg. Die äußere Dynamik verwandelte sich in die innere, der Krieg ging in die Revolution über. Die Sozialdemokratie, die den Hohenzollern geholfen hatte, den Krieg bis zum tragischen Ende zu führen, verbot dem Proletariat, nun seinerseits die Revolution bis zum Ende zu führen. Vierzehn Jahre vergingen unter beständigen Entschuldigungen der Weimarer Demokratie für ihr eigenes Dasein. Die Kommunistische Partei rief die Arbeiter zu einer neuen Revolution, erwies sich aber als unfähig, sie zu führen. Die deutschen Arbeiter gingen durch die Siege und Zusammenbrüche des Krieges, der Revolution, des Parlamentarismus und des Pseudobolschewismus. Während die alten bürgerlichen Parteien sich restlos verausgabten, war zugleich die Bewegungskraft der Arbeiter gebrochen.
Das Nachkriegschaos traf die Handwerker, Krämer und Angestellten nicht weniger heftig als die Arbeiter. Die Landwirtschaftskrise richtete die Bauern zugrunde. Der Verfall der Mittelschichten konnte nicht ihre Proletarisierung bedeuten, da ja im Proletariat selbst ein riesiges Heer chronisch Arbeitsloser entstand. Die Pauperisierung der Mittelschichten – mit Mühe durch Halstuch und Strümpfe aus Kunstseide verhüllt – fraß allen offiziellen Glauben und vor allem die Lehren vom demokratischen Parlamentarismus.
Die Vielzahl der Parteien, das kalte Fieber der Wahlen, der fortwährende Wechsel der Ministerien komplizierten die soziale Krise (durch das Kaleidoskop unfruchtbarer politischer Kombinationen. In der durch Krieg, Niederlage, Reparationen, Inflation, Ruhrbesetzung, Krise, Not und Erbitterung überhitzten Atmosphäre erhob sich das Kleinbürgertum gegen alle alten Parteien, die es betrogen hatten. Die schweren Frustrationen der Kleineigentümer, die aus dem Bankrott nicht herauskamen, ihrer studierten Söhne ohne Stellung und Klienten, ihrer Töchter ohne Aussteuer und Freier, verlangten nach Ordnung und nach einer eisernen Hand.
Die Fahne des Nationalsozialismus wurde erhoben von der unteren und mittleren Offiziersschicht des alten Heeres. Die ordengeschmückten Offiziere und Unteroffiziere konnten nicht darin einwilligen, daß ihr Heroismus und ihre Leiden nicht allein fürs Vaterland umsonst hingegeben sein, sondern auch ihnen selbst keine besonderen Rechte auf Dank gebracht haben sollten; daher stammt ihr Haß gegen die Revolution und das Proletariat. Sie waren unzufrieden damit, daß die Bankiers, Fabrikanten, Minister sie wieder in die bescheidenen Stellungen von Buchhaltern, Ingenieuren, Postbeamten und Volksschullehrern schickten – daher ihr »Sozialismus«. An der Yser und vor Verdun hatten sie gelernt, sich und andere aufs Spiel zu setzen und im Kommandoton zu reden, was dem kleinen Mann im Hinterland mächtig imponierte. So wurden diese Leute Führer.
Zu Beginn seiner politischen Laufbahn zeichnete sich Hitler vielleicht nur durch größeres Temperament, eine lautere Stimme und selbstsichere geistige Beschränktheit aus. Er brachte in die Bewegung keinerlei fertiges Programm mit – wenn man den Rachedurst des gekränkten Soldaten nicht zählt. Hitler begann mit Verwünschungen und Klagen über die Versailler Bedingungen, über das teure Leben, über das Fehlen des Respekts vor dem verdienten Unteroffizier, über das Treiben der Bankiers und Journalisten mosaischen Bekenntnisses. Heruntergekommene, Verarmte, Leute mit Schrammen und frischen blauen Flecken fanden sich genug. Jeder von ihnen wollte mit der Faust auf den Tisch hauen. Hitler verstand das besser als die anderen. Zwar wußte er nicht, wie der Not beizukommen sei. Aber seine Anklagen klangen bald wie Befehl, bald wie Gebet, gerichtet an das ungnädige Schicksal. Todgeweihte Klassen werden – ähnlich hoffnungslosen Kranken – nicht müde, ihre Klagen zu variieren und Tröstungen anzuhören. Alle Reden Hitlers sind auf diesen Ton gestimmt. Sentimentale Formlosigkeiten, Mangel an Disziplin des Denkens, Unwissenheit bei buntscheckiger Belesenheit – all diese Minus verwandelten sich in ein Plus. Sie gaben ihm die Möglichkeit, im Bettelsack »Nationalsozialismus« alle Formen der Unzufriedenheit zu vereinen und die Masse dorthin zu führen, wohin sie ihn stieß. Von den eigenen Improvisationen des Beginns blieb im Gedächtnis des Agitators nur das haften, was Billigung fand. Seine politische Gedanken waren die Frucht der rhetorischen Akustik. So ging die Auswahl der Losungen vonstatten. So verdichtete sich das Programm. So bildete sich aus dem Rohstoff der »Führer«.
Mussolini war von Anfang an der sozialen Materie bewußter als Hitler, dem der Polizeimystizismus eines Metternich näher ist als die politische Algebra Machiavellis. Mussolini ist geistig verwegener und zynischer. Als Beweis dürfte genügen, daß der römische Atheist sich der Religion lediglich bedient wie der Polizei oder der Justiz, während sein Berliner Kollege wirklich an die Unfehlbarkeit der römischen Kirche glaubt. In jener Zeit, als der heutige Diktator Italiens Marx noch für »unser aller unsterblich en Meister« hielt, verteidigte er nicht ohne Geschick die Theorie, die im Leben der heutigen Gesellschaft vor allem das Gegeneinanderwirken zweier grundlegender Klassen sieht: der Bourgeoisie und des Proletariats. Allerdings, schrieb Mussolini im Jahre 1914, liegen zwischen ihnen sehr zahlreiche Mittelschichten, die sozusagen das »einigende Gewebe der menschlichen Kollektive« bilden, aber »in einer Krisenperiode werden die Mittelschichten ihren Interessen und Ideen gemäß angezogen von der einen oder der anderen der beiden Hauptklassen«. Eine sehr wichtige Verallgemeinerung! Wie die wissenschaftliche Medizin ihre Adepten sowohl mit der Möglichkeit ausrüstet, einen Kranken zu heilen, als auch mit jener, auf kürzestem Wege einen Gesunden ins Grab zu legen, so hat die wissenschaftliche Analyse der Klassenbeziehungen – die von ihrem Urheber zur Mobilisierung des Proletariats gedacht war – Mussolini, als er ins gegnerische Lager schwenkte, die Möglichkeit gegeben, die Mittelklassen gegen das Proletariat zu mobilisieren. Hitler hat die gleiche Arbeit verrichtet, wobei er die Methodologie des italienischen Faschismus in die Sprache der deutschen Mystik übersetzte.
Die Scheiterhaufen, auf denen die verruchten Schriften des Marxismus brennen, werfen helles Licht auf die Klassennatur des Nationalsozialismus. Solange die Nazis als Partei handelten und nicht als Staatsmacht, fanden sie fast keinen Eingang in die Arbeiterklasse. Andererseits betrachtete sie die Großbourgeoisie, auch jene, die Hitler mit Geld unterstützte – nicht als ihre Partei. Das nationale »Erwachen« stützte sich ganz und gar auf die Mittelklassen, den rückständigsten Teil der Nation, den schweren Ballast der Geschichte. Die politische Kunst bestand darin, das Kleinbürgertum durch Feindseligkeit gegen das Proletariat zusammenzuschweißen. Was wäre zu tun, damit alles besser werde? Vor allem die niederdrücken, die unten sind. Kraftlos vor den großen Wirtschaftsmächten hofft das Kleinbürgertum, durch die Zertrümmerung der Arbeiterorganisationen seine gesellschaftliche Würde wiederherzustellen.
Die Nazis geben ihrem Umsturz den usurpierten Namen Revolution. In Wirklichkeit läßt der Faschismus in Deutschland wie auch in Italien die Gesellschaftsordnung unangetastet. Hitlers Umsturz hat, isoliert betrachtet, nicht einmal Recht auf den Namen Konterrevolution. Aber man darf ihn nicht abgesondert sehen, er ist die Vollendung des Kreislaufs von Erschütterungen, der in Deutschland 1918 begann. Die Novemberrevolution, die die Macht den Arbeiter- und Soldatenräten übergab, war in ihrer Grundtendenz proletarisch. Doch die an der Spitze der Arbeiterschaft stehende Partei gab die Macht dem Bürgertum zurück. In diesem Sinne eröffnete die Sozialdemokratie die Ära der Konterrevolution, ehe es der Revolution gelang, ihr Werk zu vollenden. Solange die Bourgeoisie von der Sozialdemokratie und folglich von den Arbeitern abhängig war, enthielt das Regime aber immer noch Elemente des Kompromisses. Bald ließ die internationale und die innere Lage des deutschen Kapitalismus keinen Raum mehr für Zugeständnisse. Rettete die Sozialdemokratie die Bourgeoisie vor der proletarischen Revolution, so hatte der Faschismus seinerseits die Bourgeoisie vor der Sozialdemokratie zu retten. Hitlers Umsturz ist nur das Schlußglied in der Kette der konterrevolutionären Verschiebungen.
Der Kleinbürger ist dem Entwicklungsgedanken feind, denn die Entwicklung geht beständig gegen ihn – der Fortschritt brachte ihm nichts als unbezahlbare Schulden. Der Nationalsozialismus lehnt nicht nur den Marxismus, sondern auch den Darwinismus ab. Die Nazis verfluchen den Materialismus, weil die Siege der Technik über die Natur den Sieg des großen über das kleine Kapital bedeuten. Die Führer der Bewegung liquidieren den »Intellektualismus« nicht so sehr deshalb, weil sie selbst mit einem Intellekt zweiter und dritter Sorte versehen sind, sondern vor allem, weil ihre geschichtliche Rolle es ihnen nicht gestattet, irgendeinen Gedanken zu Ende zu führen. Der Kleinbürger braucht eine höchste Instanz, die über Natur und Geschichte steht, gefeit gegen Konkurrenz, Inflation, Krise und Versteigerung. Der Evolution, dem »ökonomischen Denken«, dem Rationalismus – dem zwanzigsten, neunzehnten und achtzehnten Jahrhundert – wird der nationale Idealismus als die Quelle des Heldischen entgegengestellt. Die Nation Hitlers ist ein mythologischer Schatten des Kleinbürgertums selbst, sein pathetischer Wahn vom tausendjährigen Reich auf Erden.
Um die Nation über die Geschichte zu erheben, gab man ihr als Stütze die Rasse. Den geschichtlichen Ablauf betrachtet man als Emanation der Rasse. Die Eigenschaften der Rasse werden ohne Bezug auf die veränderlichen gesellschaftlichen Bedingungen konstruiert. Das niedrige »ökonomische Denken« ablehnend, steigt der Nationalsozialismus ein Stockwerk tiefer, gegen den wirtschaftlichen Materialismus beruft er sich auf den zoologischen.
Die Rassentheorie – wie besonders geschaffen für einen anspruchsvollen Autodidakten, der nach einem Universalschlüssel für alle Geheimnisse des Lebens sucht – sieht im Licht der Ideengeschichte besonders kläglich aus. Die Religion des rein Germanischen mußte Hitler aus zweiter Hand beim französischen Diplomaten und dilettierenden Schriftsteller Gobineau entlehnen. Die politische Methodologie fand Hitler fertig bei den Italienern vor. Mussolini hat sich ausgiebig der Marxschen Theorie des Klassenkampfs bedient. Der Marxismus selbst war die Frucht einer Verbindung deutscher Philosophie, französischer Geschichtsschreibung und englischer Ökonomie. In der Genealogie der Ideen – selbst der rückschrittlichsten und stumpfsinnigsten – findet sich vom Rassismus keine Spur.
Die Armseligkeit der nationalsozialistischen Philosophie hat die Universitätsprofessoren selbstverständlich nicht gehindert, mit vollen Segeln in Hitlers Fahrwasser einzulenken – als sein Sieg außer Frage stand. Die Jahre der Weimarer Ordnung waren für die Mehrheit des Professorenpöbels eine Zeit der Verwirrung und Unruhe. Die Historiker, Ökonomen, Juristen und Philosophen ergingen sich in Vermutungen darüber, welches der einander bekämpfenden Wahrheitskriterien das echte sei, das heißt, welches Lager sich zuguterletzt als Sieger erweisen werde. Die faschistische Diktatur beseitigt die Zweifel der Fäuste und das Schwanken der Hamlets auf dem Universitätskatheder. Aus der Dämmerung der parlamentarischen Relativität tritt die Wissenschaft wiederum in das Reich des Absoluten ein. Einstein mußte Deutschland verlassen.
Auf der Ebene der Politik ist der Rassismus eine aufgeblasene und prahlerische Abart des Chauvinismus, gepaart mit Schädellehre. Wie herabgekommener Adel Trost findet in der alten Abkunft seines Bluts, so besäuft sich das Kleinbürgertum am Märchen von den besonderen Vorzügen seiner Rasse. Es verdient Beachtung, daß die Führer des Nationalsozialismus nicht germanische Deutsche sind, sondern Zugewanderte: aus Österreich, wie Hitler selbst, aus den ehemaligen baltischen Provinzen des Zarenreichs, wie Rosenberg, aus den Kolonialländern, wie der augenblickliche Stellvertreter Hitlers in der Parteileitung, Heß, und der neue Minister Darré. Es bedurfte der Schule barbarischer nationaler Balgerei in den kulturellen Randgebieten, um den Führern die Gedanken einzuflößen, die später ein Echo im Herzen der barbarischsten Klassen Deutschlands fanden.
Die Persönlichkeit und die Klasse – der Liberalismus und der Marxismus – sind das Böse. Die Nation ist das Gute. Doch an der Schwelle des Eigentums verkehrt sich diese Philosophie ins Gegenteil. Nur im persönlichen Eigentum liegt das Heil. Der Gedanke des nationalen Eigentums ist eine Ausgeburt des Bolschewismus. Obwohl er die Nation vergottet, will der Kleinbürger ihr doch nichts schenken. Im Gegenteil erwartet er, daß die Nation ihm selbst Besitz beschert und diesen dann gegen Arbeiter und Gerichtsvollzieher in Schutz nimmt.
Vor dem Hintergrund des heutigen Wirtschaftslebens – international in den Verbindungen, unpersönlich in den Methoden – scheint das Rassenprinzip einem mittelalterlichen Ideenfriedhof entstiegen. Die Nazis machen im voraus Zugeständnisse: Im Reich des Geistes wird Rasseneinheit durch den Paß bescheinigt, im Reich der Wirtschaft aber muß sie sich durch Geschäftstüchtigkeit ausweisen. Unter heutigen Bedingungen heißt das: durch Konkurrenzfähigkeit. So kehrt der Rassismus durch die Hintertür zum ökonomischen Liberalismus – ohne politische Freiheiten – zurück.
Praktisch beschränkt sich der Nationalismus in der Wirtschaft auf – trotz aller Brutalität – ohnmächtige Ausbrüche von Antisemitismus. Vom heutigen Wirtschaftssystem sondern die Nazis das raffende oder Bankkapital als den bösen Geist ab; gerade in dieser Sphäre nimmt ja die jüdische Bourgeoisie einen bedeutenden Platz ein. Während er sich vor dem kapitalistischen System verbeugt, bekriegt der Kleinbürger den bösen Geist des Profits in Gestalt des polnischen Juden im langschößigen Kaftan, der oft keinen Groschen in der Tasche hat. Der Pogrom wird zum Beweis rassischer Überlegenheit.
Das Programm, mit dem der Nationalsozialismus an die Macht gelangte, erinnert nur zu sehr an die jüdischen Warenhäuser der finsteren Provinz. Was findet man dort nicht alles zu niedrigem Preis und in noch niedrigerer Qualität. Die Erinnerung an die »glücklichen« Zeiten der freien Konkurrenz und die vage Überlieferung von der Stabilität der Ständegesellschaft, Träume von der Auferstehung des Kolonialreichs und den Wahn von einer geschlossenen Wirtschaft, Phrasen über eine Rückkehr vom römischen zum altdeutschen Recht und über die Befürwortung des amerikanischen Moratoriums, neidische Feindschaft gegen die Ungleichheit in Gestalt einer Villa und eines Autos und tierische Furcht vor der Gleichheit in Gestalt des Arbeiters mit Mütze und ohne Kragen, tobenden Nationalismus und Angst vor den Weltgläubigern – all dieser internationale Auswurf politischer Gedanken füllt die geistige Schatzkammer des neudeutschen Messianismus.
Der Faschismus entdeckte den Bodensatz der Gesellschaft für die Politik. Nicht nur in den Bauernhäusern, sondern auch in den Wolkenkratzern der Städte lebt neben dem zwanzigsten Jahrhundert heute noch das zehnte oder dreizehnte. Hunderte Millionen Menschen benutzen den elektrischen Strom, ohne aufzuhören, an die magische Kraft von Gesten und Beschwörungen zu glauben. Der römische Papst predigt durchs Radio vom Wunder der Verwandlung des Wassers in Wein. Kinostars laufen zur Wahrsagerin. Flugzeugführer, die wunderbare, vom Genie des Menschen erschaffene Mechanismen lenken, tragen unter dem Sweater Amulette. Was für unerschöpfliche Vorräte an Finsternis, Unwissenheit, Wildheit! Die Verzweiflung hat sie auf die Beine gebracht, der Faschismus wies ihnen die Richtung. All das, was bei ungehinderter Entwicklung der Gesellschaft vom nationalen Organismus als Kulturexkrement ausgeschieden werden mußte, kommt jetzt durch den Schlund hoch; die kapitalistische Zivilisation erbricht die unverdaute Barbarei. Das ist die Physiologie des Nationalsozialismus.
Der deutsche wie der italienische Faschismus stiegen zur Macht über den Rücken des Kleinbürgertums, das sie zu einem Rammbock gegen die Arbeiterklasse und die Einrichtungen der Demokratie zusammenpreßten. Aber der Faschismus, einmal an der Macht, ist alles andere als eine Regierung des Kleinbürgertums. Mussolini hat recht, die Mittelklassen sind nicht fähig zu selbständiger Politik. In Perioden großer Krisen sind sie berufen, die Politik einer der beiden Hauptklassen bis zur Absurdität zu treiben. Dem Faschismus gelang es, sie in den Dienst des Kapitals zu stellen. Solche Lösungen wie die Verstaatlichung der Trusts und die Abschaffung des »arbeits- und mühelosen Einkommens« waren nach Übernahme der Macht mit einem Mal über Bord geworfen. Der Partikularismus der deutschen Länder, der sich auf die Eigenarten des Kleinbürgertums stützte, hat dem polizeilichen Zentralismus Platz gemacht, den der moderne Kapitalismus braucht. Jeder Erfolg der nationalsozialistischen Innen- und Außenpolitik wird unvermeidlich Erdrückung des kleinen Kapitals durch das große bedeuten.
Das Programm der kleinbürgerlichen Illusionen wird dabei nicht abgeschafft, es wird einfach von der Wirklichkeit abgetrennt und in Ritualhandlungen aufgelöst. Die Vereinigung aller Klassen läuft hinaus auf die Halbsymbolik der Arbeitsdienstpflicht und die Beschlagnahme des Arbeiterfeiertags »zugunsten des Volkes«. Die Beibehaltung der gotischen Schrift im Gegensatz zur lateinischen ist eine symbolische Vergeltung für das Joch des Weltmarkts. Die Abhängigkeit von den internationalen – darunter auch jüdischen – Bankiers ist nicht um ein Jota gemildert, dafür ist es verboten, Tiere nach dem Talmudritual zu schlachten. Ist der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert, so sind die Straßen des Dritten Reiches mit Symbolen ausgelegt.
Indem er das Programm der kleinbürgerlichen Illusionen auf elende bürokratische Maskeraden reduziert, erhebt sich der Nationalsozialismus über die Nation als reinste Verkörperung des Imperialismus. Die Hoffnung darauf, daß die Hitlerregierung heute oder morgen als Opfer ihres inneren Bankrotts fallen werde, ist völlig vergeblich. Das Programm war für die Nazis nötig, um an die Macht zu kommen, aber die Macht dient Hitler durchaus nicht dazu, das Programm zu erfüllen. Die gewaltsame Zusammenfassung aller Kräfte und Mittel des Volkes im Interesse des Imperialismus – die wahre geschichtliche Sendung der faschistischen Diktatur – bedeutet die Vorbereitung des Krieges; diese Aufgabe duldet keinerlei Widerstand von innen und führt zur weiteren mechanischen Zusammenballung der Macht. Den Faschismus kann man weder reformieren noch zum Abtreten bewegen. Ihn kann man nur stürzen. Der politische Weg der Naziherrschaft führt zur Alternative Krieg oder Revolution. Der erste Jahrestag der Nazidiktatur steht bevor. Alle Tendenzen des Regimes haben sich inzwischen klar und deutlich entfalten können. Die »sozialistische« Revolution, die den kleinbürgerlichen Massen die unentbehrliche Ergänzung der »nationalen« schien, wurde offiziell verdammt und liquidiert. Die Klassenverbrüderung gipfelt darin, daß – an einem eigens von der Regierung bestimmten Tage – die Reichen zugunsten der Armen auf Vor- und Nachtisch verzichten. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit hat dazu geführt, daß man die halbe Hungerration noch einmal teilt. Alles übrige ist Produkt der manipulierten Statistik. Die »geplante« Autarkie erweist sich als ein neues Stadium wirtschaftlichen Zerfalls.
Je weniger das Polizeiregime der Nazis ökonomisch leistet, desto größere Anstrengungen muß es auf außenpolitischem Gebiet unternehmen. Dies entspricht völlig der inneren Dynamik des durch und durch aggressiven deutschen Kapitals. Das Umschwenken der Naziführer auf Friedensdeklarationen kann nur Dummköpfe irreführen. Hitler hat kein anderes Mittel, die Schuld an inneren Schwierigkeiten auf äußere Feinde abzuwälzen und die Sprengkraft des Imperialismus unter dem Druck der Diktatur zu steigern.
Dieser Teil des Programms, der noch vor der Machtergreifung der Nazis offen angekündigt wurde, realisiert sich jetzt mit eiserner Logik vor den Augen der ganzen Welt. Die Zeit, die uns bis zur nächsten europäischen Katastrophe bleibt, ist befristet durch die deutsche Aufrüstung. Das ist keine Frage von Monaten, aber auch keine von Jahrzehnten. Wird Hitler nicht rechtzeitig durch innerdeutsche Kräfte aufgehalten, so wird Europa in wenigen Jahren neuerlich in Krieg gestürzt.