von Hanna Perechoda

Am 21. Februar 2022 rechtfertigte Wladimir Putin in einer langen Rede den Überfall auf die Ukraine, der nur drei Tage später einsetzte. Dabei erklärte er den ukrainischen Staat für eine unzulässige Erfindung und die eigenständige ukrainische Identität für das bloße Produkt ausländischer Einmischung. Vielmehr handle es sich, so Putin, bei Russen, Ukrainern und Weißrussen um eine einzige Nation. Eine Politik zur Förderung der ukrainischen Sprache und Kultur sei lediglich ein [weiterer] Beweis für den „Völkermord“ an der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine. Daher sei die Invasion unumgänglich. Die Sprachenfrage scheint also einen zentralen Stellenwert beim Angriffskrieg Russlands sowie beim vorangegangenen Konflikt zwischen den beiden Ländern einzunehmen. Um den Krieg, den Putin gegen die Ukraine und seine Bevölkerung angezettelt hat, zu verstehen, muss man die Rolle, die der Ukraine, ihrem Staat, ihrer Sprache und ihrer Kultur in der imperialen und nationalen Vorstellungswelt der Russen zugeschrieben wird, genauer betrachten.

Der zaristische Imperialismus

Nach dem Zusammenbruch des mittelalterlichen Staates der Kiewer Rus, der durch die mongolische Invasion im 13. Jahrhundert zerschlagen wurde, fielen große Teile der heutigen Ukraine an das polnisch-litauische Reich und gerieten erst im 17. und 18. Jahrhundert unter russische Herrschaft. Die Einverleibung der neuen Gebiete gab Anlass zur Vorstellung von einer die drei Völker [Russen, Ukrainer, Weißrussen] umfassenden russischen Nation; genau diese Idee hat Wladimir Putin nun aufgegriffen. Seinerzeit ging es darum, eine hegemoniale Gruppe zu etablieren, um die nicht-orthodoxen und nicht-slawischen Völker des Reichs besser beherrschen zu können. Die Kontrolle über die Ukraine war daher ein Eckpfeiler des russischen Reichs, aber auch und vor allem ein zentrales Element der Herausbildung der russischen Nation. Das Konzept einer eigenständigen ukrainischen Identität wurde folglich von den zaristischen Eliten als existenzielle Bedrohung für ihren Staat wahrgenommen.

Im Jahr 1863 wurden Publikationen auf Ukrainisch und der Unterricht in ukrainischer Sprache ausnahmslos verboten. Diese Politik führte zu der in der europäischen Geschichte wohl einzigartigen Situation, dass die Alphabetisierungsrate der Bevölkerung zwischen der Mitte des 18. und dem Ende des 19. Jahrhunderts zurückging. Da ungleicher Zugang zu Bildung ein Indikator für soziale Ungleichheit ist, war die ukrainische Gesellschaft im 19. Jahrhundert von dem Gegensatz zwischen den „rückständigen“ ländlichen Gebieten und den russifizierten Städten geprägt, die zugleich Zentren der imperialen Herrschaft waren.

Wie konnte die ukrainische Sprache diesen ungünstigen Umständen zum Trotz überleben und sich weiterentwickeln? Die für die Herausbildung einer gemeinsamen nationalen Identität notwendige Infrastruktur wie die Entwicklung von Städten und Kommunikationsnetzen, eine allgemeine Schulbildung oder der Aufbau einer effizienten Zentralverwaltung wurden größtenteils vernachlässigt. Obwohl die zaristischen Behörden in ihrem riesigen Reich über nahezu unbegrenzte Ressourcen verfügten, waren sie nicht bereit, in das kostspielige Projekt zu investieren, das darin bestanden hätte, die Ukraine durch eine Integration in die Entwicklung der russischen Nation vollständig zu russifizieren. Anstatt solch eine Politik zu verfolgen, setzte man auf die brutale Unterdrückung der ukrainischen Sprache. Zu diesem Zeitpunkt war es jedoch bereits zu spät: Die ukrainischen Dichter:innen und Schriftsteller:innen waren von der Romantik fasziniert, betrachteten die Verteidigung ihrer Muttersprache als wichtige politische Aufgabe und verstanden ihre Ethnie bereits als Nation. So wurde eine Assimilation der Ukrainer:innen an Russland durch das Ausplündern durch die zaristischen Eliten, die staatliche Unterentwicklung sowie die verspätete und unkoordinierte Repression verunmöglicht. Generell war das Bestreben der politischen Eliten, ihr multiethnisches Reich zusammenzuhalten und zugleich einen slawischen Nationalstaat aufzubauen, einer der Gründe für die mangelnde innere Stabilität des russischen Staates. Der Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegen diese Politik wurde als himmelschreiender Verrat wahrgenommen.

Die Durchsetzung des Russischen und der Sowjetismus

1917 brach das Zarenreich auseinander. Das Erwachen der Nationen und der Klassen nahm rasch Fahrt auf. Die ukrainische Landbevölkerung forderte nicht nur das Recht auf ihre Sprache, sondern auch ihre Anerkennung als vollwertige politische Subjekte. Das Auftreten dieser „dunklen“ Masse auf der politischen Bühne verstörte die städtischen Schichten, einschließlich der Sozialist:innen, die sich als Vertreter:innen der Interessen der Arbeiterklasse in den Industriegebieten im Süden und Osten der Ukraine verstanden. So erklärte ein Parteimitglied, dass „die Ukraine als solche nicht existiert, weil sie für einen Arbeiter aus der Stadt nicht existiert“. Ein anderer schrieb, die „Tragödie“ liege darin, dass die Bolschewiki versucht hätten, „mithilfe der russischen oder russifizierten Arbeiterklasse, die selbst für die minimalsten Spurenelemente der ukrainischen Sprache und Kultur nichts als Verachtung übrig hat“, Einfluss auf die Bauernschaft zu erlangen.

Die Entschlossenheit, mit der zahlreiche Ukrainer:innen mit der Waffe in der Hand für ihre Souveränität kämpften, überzeugte die Bolschewiki jedoch von der Notwendigkeit besonderer Vorkehrungen, um die Herrschaft über diese Bevölkerung abzusichern. Daher ging Moskau 1923 dazu über, die nicht-russischen Sprachen staatlich zu fördern. Unter Stalin kehrte man allerdings zu einer Politik der Zwangsassimilation zurück, die – begleitet von staatlicher Gewalt – extreme Formen bis hin zum Völkermord annahm. Erinnert sei an die von Stalin wissentlich geplante Hungersnot von 1932/33 (ein Ereignis, das in der Ukraine als Holodomor bezeichnet wird). Die koloniale Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land garantierte den russischen und russifizierten Sowjetbürger:innen in den peripheren Republiken einen privilegierten Zugang zu Einkommen, beruflicher Qualifizierung, Prestige und Macht. Nach der Stalinzeit wurde eine sowjetische Identität gefördert, die mit dem „Russentum“ praktisch identisch war. Obwohl die ukrainische Sprache von Gesetzes wegen nicht verboten war, galt von nun an der Gebrauch des Ukrainischen außerhalb der Privatsphäre als Hinweis auf eine ablehnende Haltung gegenüber dem System. Hingegen konnte man durch die Verwendung des Russischen seine Loyalität gegenüber der bestehenden Ordnung und seinen Respekt vor der Hierarchie unter den „Brudervölkern“ bekunden. So wurde Russisch zur dominanten Sprache in allen Bereichen des öffentlichen Lebens: Wirtschaft, Verwaltung, Kultur, Presse und Bildung. Immer mehr Ukrainer:innen gaben ihre Sprache auf, die zu einem Merkmal für kulturelle Minderwertigkeit geworden war und die soziale Mobilität behinderte.

Die sowjetische Modernisierung und Urbanisierung ging einher mit der Durchsetzung der imperialen Leitkultur und verfestigte die erheblichen strukturellen Ungleichheiten zwischen russischsprachigen und ukrainischsprachigen Menschen. Die postsowjetische Elite wiederum hatte weder die Absicht noch die Mittel, diese strukturellen Defizite zu beheben, da ihre opportunistische Politik im Wesentlichen die Erhaltung des Status quo im Auge hatte. Das Gesetz, das dem Ukrainischen den Status einer Amtssprache verlieh, wurde noch unter dem Sowjetregime im Jahr 1989 verabschiedet und blieb bis 2012 in Kraft. Nach 1991 waren das Aufkommen des Kapitalismus und die Schwäche des Staates der ukrainischen Sprache alles andere als förderlich. Die ukrainische Medien-, Kultur- und Kunstproduktion, die unter ihrem minderwertigen Status leidet, keinerlei staatliche Unterstützung erhält und im Ausland verkannt wird, kann nicht mit dem florierenden russischen Markt Schritt halten. Zudem wird die soziolinguistische Kluft seit 2004 von den diversen um die Macht konkurrierenden Oligarchenclans künstlich vertieft, um ihre jeweiligen Wählerschaft über Identitätsfragen bei der Stange zu halten.

Ein hochaktuelles Thema

Im Jahr 2012 verabschiedeten die pro-russischen politischen Kräfte ein Gesetz, das eigentlich den Schutz von Minderheitensprachen gewährleisten sollte, de facto aber nur die „Verteidigung des Russischen“ zum Thema hatte. Anlässlich der Absetzung von Präsident Janukowitsch im Jahr 2014 versuchte das Parlament, dieses Gesetz rückgängig zu machen. Obwohl die parlamentarische Vorlage niemals ratifiziert wurde, nutzte Russland die Gelegenheit, um seine Sorge über die Diskriminierung der russischen Bevölkerung durch die „faschistische Junta“ in der Ukraine auszudrücken. Dieses Argument diente auch zur Rechtfertigung der russischen Einmischung auf der Krim und im Donbass, um, so Moskau, „die Landsleute zu retten“.

Im Jahr 2018 erließ das Parlament ein Gesetz, das die Verwendung der ukrainischen Sprache für Staatsbeamt:innen und im öffentlichen Bereich verbindlich vorschreibt. Somit spielt der ukrainische Staat derzeit eine zentrale Rolle bei der Schaffung einer gemeinsamen Identität für die Bewohner:in­nen des Landes. Das mag aus westeuropäischer Sicht überraschen, da dieser Prozess in diesen Ländern vor mehr als einem Jahrhundert abgeschlossen wurde. Die Situation der Ukraine, die erst vor 30 Jahren ihre Unabhängigkeit erlangte und bis 2014 politisch und kulturell unter russischem Einfluss stand, lässt sich aber nicht mit Nationen vergleichen, die sich spätestens seit dem 19. Jahrhundert auf einen eigenen Staat stützen können.

Ein zukünftiges Sprachenregime muss erst erfunden werden

Manche Menschen entscheiden sich heute bewusst dafür, Ukrainisch zu sprechen, um sich vom Putin-Staat zu distanzieren, der das absolute Monopol auf die russische Sprache und Kultur beansprucht, indem er die Verwendung der russischen Sprache mit der Zugehörigkeit zum „russischen Kulturkreis“ gleichsetzt. In der Tat propagiert Russland seit den frühen 2000er Jahren das Konzept von der „russischen Welt“. Dabei stützt man sich auf die russischsprachige Bevölkerung in den Nachbarländern, denen eine besondere Aufgabe zugedacht wird. Diese besteht in einer absoluten Loyalität gegenüber dem russischen Staat und der bedingungslosen Unterstützung aller Entscheidungen des Kremls. Während die „russische Welt“ in den 2000er Jahren vor allem auf dem internationalen Parkett als Instrument der „Soft Power“ eingesetzt wurde, wurde diese Ideologie ab 2014 zur treibenden Kraft der russischen Bestrebungen, die „abtrünnigen“ ukrainischen Gebiete zu annektieren und die selbständige Ukraine von der Weltkarte zu tilgen. Putin inszeniert sich als Verteidiger der russischen Sprache und Kultur, streitet das Existenzrecht der Ukrainer:innen vehement ab und äußert sich häufig in einer Weise, die einer Anstiftung zum Völkermord gleichkommt.

Angesichts der russischen Invasion und der brutalen Unterdrückung der Zivilbevölkerung durch die Besatzungsarmee fühlen sich die Menschen in der Ukraine inzwischen in erster Linie als Ukrainer:in­nen, auch in jenen Teilen des Landes, in denen Russisch nach wie vor die vorherrschende Sprache ist. Unter diesen eher ungünstigen Bedingungen treten einige Ukrainer:innen, die sich im Widerstand gegen die Besatzer engagieren, weiterhin für die Verwendung der russischen Sprache ein. Damit konterkarieren sie Putins Absicht, diese Sprache für seine Zwecke zu vereinnahmen, denn Russisch wird auch von Millionen von Menschen gesprochen, die sich nicht mit Putin und seiner Politik identifizieren. Vielleicht liegt der Schlüssel zu einer zweisprachigen ukrainischen Gesellschaft darin, die imperiale Sprache mit einer anti-kolonialistischen Botschaft anzureichern, auch wenn das heute, da die Ukrainer:innen um ihre physische Existenz kämpfen, nicht leicht zu argumentieren ist.

Quelle: https://pagesdegauche.ch/la-longue-lutte-pour-lexistence-de-lukrainien/

Aus dem Französischen übersetzt von EF. Erläuterungen und Ergänzungen der Übersetzerin ins Deutsche sind durch eckige Klammern kenntlich gemacht.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift Pages de Gauche – Périodique indépendant d’opinions socialistes aus Lausanne, Nr. 185, 9. Oktober 2022. Er ist Teil eines Dossiers über Sprachen, „La langue, entre oppression et émancipation“ (Die Sprache zwischen Unterdrückung und Emanzipation).

Hanna Perechoda stammt aus der Ukraine und studiert seit einigen Jahren an der Universität Lausanne Geschichte. Sie ist Mitglied der Schweizer Organisation solidaritéS und der ukrainischen Organisation Sozialnyj Ruch. Sie hat den ukrainischen Schriftsteller Serhij Schadan, der im Oktober 2022 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, bereits 2015 für die Zeitung solidaritéS interviewt. Vor kurzem beteiligte sie sich zusammen mit einem in Berlin lebenden russischen Klimaaktivisten an einer Debatte über Antiimperialismus, den Widerstand gegen das Putin-Regime innerhalb von Russland etc.