Nach der Provokation auf dem Tempelberg stellt sich die Frage: wer hat ­gewonnen, wer verloren?
von ­Moshe Machover*

Die mehrfache Provokation der palästinensischen Bevölkerung in Jerusalem Anfang Mai durch israelische Siedler und Polizei hat eine Vorgeschichte.

Die Wahlen zur Knesset am 23. März hatten keine Regierungsmehrheit ergeben, sie führten nicht zu dem, was Netanyahu wollte: eine Koalition, die ihm Immunität von Anklagen wegen Korruption und Bestechung verschaffen würde, für die er derzeit vor Gericht steht. Netanyahu hat deshalb versucht, einen «nationalen Notstand» herbeizuführen. Die Spannungen zwischen Israel und dem Iran wurden wieder aufgeheizt, es gab eine Reihe von Attentaten, dazu Provokationen gegen iranische Schiffe im Mittelmeer usw.

Die tatsächliche Krise fand dann nicht an der iranischen Front, sondern in Jerusalem statt. Es gibt einige Hinweise darauf, dass sie provoziert wurde, was höchstwahrscheinlich auf seine Anweisung hin geschah. Sein Minister für öffentliche Sicherheit, Amir Ohana, gab am 18.April den Befehl, den Platz vor dem Damaskustor zu schließen. Dies war beispiellos und zweifellos ein bewusst provozierender Akt. Viele Menschen versammeln sich normalerweise nach dem Gebet in der Al-Aqsa-Moschee kurz vor dem Ende des Fastens auf diesem Platz. Dies ist auch der einzige offene Platz im muslimischen Teil Jerusalems, auf dem sich Menschen friedlich versammeln können. Aber Ohana schloss die Moschee und seine bewaffnete Polizei ging aggressiv gegen die sich versammelnde friedliche Menschenmenge vor.

Der Irrtum

Hatte Netanyahu die Absicht, die Krise auch auf den Gazastreifen auszudehnen? Wahrscheinlich nicht. Die politische und militärische Führung Israels rechnete nicht mit der Möglichkeit, dass sich die Hamas in dem Ausmaß einmischen würde, wie sie es tat. Sie glaubte, die Hamas sei durch den letzten großen, sieben Wochen dauernden israelischen Einmarsch in den Gazastreifen im Jahr 2014 geschwächt worden und die derzeitige Hamas-Führung um Anführer Yahya Sinwar habe einen Prozess der «Mäßigung» durchlaufen. Die Israelis waren deshalb überrascht, als die Hamas am 10. Mai ein Ultimatum stellte: «Zieht eure Polizei aus dem Al-Aqsa-Gelände ab oder wir werden einen Gegenangriff starten.»

Was folgte, war kein «Krieg», sondern trotz der Hamas-Raketen eine sehr einseitige Angelegenheit. Es war ein rachsüchtiger, barbarischer Angriff der israelischen Armee, die die Menschen in Gaza auf brutalste Weise bombardierte. Die Raketenangriffe der Hamas waren weitgehend unwirksam: Sie wurden größtenteils durch den israelischen Schutzschild Iron Dome neutralisiert, wahrscheinlich landeten nur 10 Prozent tatsächlich auf israelischem Gebiet. Sie waren jedoch effektiver, als Israel erwartet hatte und was von früheren Konfrontationen mit Hamas bekannt war.

Gewinner und Verlierer

Wer hat bei diesen Ereignissen gewonnen und wer verloren? Eindeutig hat Israel nicht gewonnen. Es hat keine strategischen Ziele erreicht, weil es keine hatte. Wenn überhaupt, hat Hamas von diesem elftägigen Angriff profitiert – aber auch das ägyptische Regime.

Hamas ist jetzt in der Lage, sich als die führende palästinensische Organisation in allen Teilen der besetzten Gebiete zu präsentieren: nicht nur im Gazastreifen, sondern auch in der Westbank, einschließlich Jerusalem. Sie ist die «Verteidigerin der palästinensischen Rechte auf dem Tempelberg» in Jerusalem.

Hamas hat auch politisch einen Punktsieg erzielt. Zum erstenmal ­haben sich die Palästinenser, die seit 1948 unter israelischer Herrschaft stehen, gemeinsam mit denen in Gaza und im Westjordanland gegen die koloniale Offensive gestellt. Für viele arabische Bürger Israels waren die jüngsten Ereignisse der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Er hat zu einer größeren Solidarität mit ihren palästinensischen Mitbürgern jenseits der «grünen Linie» geführt. Am 18.Mai rief ihre halboffizielle zivile Führung – ein Komitee von lokalen Bürgermeistern und anderen zivilen palästinensischen Führern innerhalb Israels – einen Generalstreik mit hoher Beteiligung aus.

Das haben die meisten Menschen, einschließlich der israelischen Führungsriege, nicht erwartet. Viele israelische Kommentatoren beklagen jetzt den Zusammenbruch der «Koexistenz» zwischen der hebräischen Mehrheit und der 20-prozentigen palästinensisch-arabischen Minderheit in Israel. Bei diesem Ergebnis ist klar, dass die israelische Führung verloren hat.

Auffällig ist des weiteren, wie sich die öffentliche Meinung außerhalb ­Israels geändert hat, vor allem in den USA. Hier hat sich die Stimmung, ­besonders unter den Liberalen, den Jungen und sehr prominent auch unter der jüdischen Bevölkerung, in erheblichem Maße gewandelt. Viele waren bestürzt über die israelische Politik; die Kluft zwischen einem großen Teil der jüdischen Meinung in den USA und dem israelischen Staat ist größer geworden.

Joe Biden ist dadurch unter Druck geraten. Zwar wiederholte er zu Anfang das alte Mantra, «Israel [habe] das Recht, sich selbst zu verteidigen». Doch in seinen mehrfachen Telefongesprächen mit Netanyahu soll er immer wütender geworden sein und den israelischen Premier schließlich gezwungen haben, einen Waffenstillstand zu akzeptieren.

Unsere Forderungen

Was sollten Sozialisten in dieser Situation unmittelbar fordern?

  • Schluss mit der israelischen militärischen Besetzung der Westbank, des Gazastreifens und der Golanhöhen;
  • es muss gleiche Rechte geben – ­individuelle wie nationale – für alle Einwohner*innen unter israelischer Herrschaft, ob Hebräer*innen oder palästinensische Araber*innen;
  • alle palästinensischen Flüchtlinge und ihre Nachkommen müssen das Recht haben, in ihr Heimatland zurückzukehren.

Das langfristige Ziel muss der Sturz des zionistischen Regimes und der bestehenden arabischen Regime durch die jeweilige Arbeiter*innenklasse sein, um einen Vereinten Sozialistischen Nahen Osten zu errichten.

In der Zwischenzeit haben die ­Palästinenser*innen das absolute Recht, der ­israelischen Unterdrückung zu widerstehen und für ihre Befreiung zu kämpfen, auch durch bewaffneten Kampf. Sozialist*innen müssen diesen Kampf der Massen unterstützen, wie wir es bei der ersten Intifada getan haben.

*Gekürzt aus: Weekly Worker, Nr.1349, 27.5.2021 (https://weeklyworker.co.uk/).

Aus: SOZ, Sozialistische Zeitung Juli/August 2021 https://www.sozonline.de/2021/07/israels-fuehrung-hat-sich-verrechnet/