Die Schriftstellerin Annie Ernaux hat eine neue Sprache erfunden, um über das Leben und die Wünsche von Frauen zu schreiben

von Jess Cotton

Im Oktober erhielt Annie Ernaux den Nobelpreis für Literatur für ihren Mut, das kollektive Gedächtnis Frankreichs zu hinterfragen. Ihr Werk befasst sich mit dem Leben von Frauen aus der Arbeiterklasse, das sie in ihren Büchern mit ungewöhnlicher Würde und mit Respekt behandelt.

Annie Ernaux war nicht am anderen Ende des Telefons, als das Komitee anrief, um die Nachricht zu überbringen. Im Gegensatz zu Philip Roth, der gespannt auf einen Anruf wartete, der nie kam, war Ernaux mit ihren zweiundachtzig Jahren nie sonderlich scharf auf Preise. Nach der Verleihung des Nobelpreises erkannte Ernaux jedoch die Verantwortung, die damit einherging: den Kampf gegen »jede Art von Ungerechtigkeit gegen Frauen« fortzuführen.
Ihr Sieg ist eindeutig ein Sieg der Arbeiterklasse, der die Preiskultur nie besonders gewogen war.
Ernaux, die in fünfzig Jahren dreiundzwanzig Bücher geschrieben hat, wuchs in der Kleinstadt Yvetot in der Normandie in einem katholischen Arbeitermilieu auf. Ihre Eltern waren Fabrikarbeiter. Als Bauernkinder hatten sie gespart und einen kleinen Laden gekauft, über dem die Familie wohnte und in dem sie ein Lebensmittelgeschäft und ein Café betrieb. Anfänglich war das Unternehmen sehr erfolgreich, doch schon bald machte das Vordringen der Supermärkte das kleine Familienunternehmen kaum noch günstiger als die Fabrikarbeit. Ihr Vater, der oft andere Arbeiten annehmen musste und keiner Gewerkschaft angehörte, »war sowohl Arbeiter als auch Ladenbesitzer«, schreibt Ernaux, »und als solcher zu einem Leben in Einsamkeit und Misstrauen verdammt«.

Sozialer Aufstieg

Als sie in ihrem vierten Buch, La Place (1983, dt. Der Platz, 2019), über ihren Vater schrieb, verließ Ernaux den üblichen Rahmen fiktionaler Literatur, in dem sie einen Verrat an der Realität seines Lebens sah, und entwickelte den Schreibstil, für den sie heute bekannt ist. »Um die Geschichte eines Lebens zu erzählen, das von der Notwendigkeit bestimmt wurde«, sagt sie rückblickend, »habe ich kein Recht, einen künstlerischen Ansatz zu wählen.« Unter Verzicht auf »lyrische Reminiszenzen« und »triumphale Zurschaustellung von Ironie« umgeht Ernaux die Dreh- und Angelpunkte des bürgerlichen Erzählens und bietet stattdessen eine schonungslos ehrliche Darstellung vom gewaltsamen Durchhalten in einem gewöhnlichen Arbeitsleben, die zugleich eine der erschütterndsten Erkundungen von Leid ist. Während sie über die gemischten Segnungen ihres Aufstiegs schreibt, bemerkt sie, dass die »große Befriedigung, vielleicht sogar die Daseinsberechtigung ihres Vaters darin bestand, dass sie zu der Welt gehörte, die ihn verachtet hatte«.
Da ihre Eltern von Arbeitern zu Kleinunternehmern wurden, konnte Ernaux weiter die Schule und später die Universität in Rouen besuchen und Lehrerin werden. Die Nachkriegszeit war eine Zeit der Wohlfahrt und des sozialen Fortschritts. In der subventionierten Welt der französischen Sozialdemokratie wurde Ernaux ein Platz zugewiesen, der die junge Schriftstellerin vor den Abstiegsängsten ihrer Eltern bewahren sollte.
In diesem Umfeld lernte sie ihren ehemaligen Ehemann Philippe kennen, der eindeutig der Mittelschicht angehörte. Er machte sie mit den ironischen Sticheleien dieser Klasse bekannt, die in der dichten Luft über den Familienessen hängen, und mit der Vorstellung, Europa sei die Heimat einer hochentwickelten Kultur, zu der sie durch ihre Bildung Zugang hätte. Das Paar ließ sich in Cergy-Pontoise nieder, einem Vorort vierzig Kilometer nördlich von Paris, und gründete dort Ende der 60er Jahre eine Familie – wie sie in Journal du Dehors (1993) schreibt, war es ein Ort, der, wie viele Vorstädte, »aus dem Nichts entstand«, um eine aufstrebende, vertriebene, kosmopolitische Mittelschicht zu beherbergen.
Zunächst jedoch stieg Ernaux aus ihrem Lehrerinnendasein aus und zog auf dem Höhepunkt der Swinging Sixties nach London, »einfach, weil ich frei sein wollte«. Als junge Frau aus der Arbeiterklasse unabhängig zu leben und Literatur zu schreiben, bedeutete, sich auf unbekanntes, riskantes Terrain zu begeben.
Als die feministische Bewegung an Schwung gewann, erfand Ernaux eine völlig neue Sprache, um direkt über das Leben und die Wünsche von Frauen zu sprechen. Im Gegensatz zu einem Großteil des französischen Feminismus der 1970er Jahre, der die Erfahrungen von Frauen durch die abstrakte Sprache der Philosophie oder durch die sprachlichen Wendungen der sog. kultivierten Literatur zu verstehen suchte, blieb Ernaux mit ihrer Sprache im Alltag verankert. In ihrem späteren Werk Les années (2008, dt. Die Jahre, 2017) reflektiert sie bei Besuchen in ihrer Heimatstadt über die Rückkehr zu ihrem lokalen Dialekt: »Die Sprache, die sich an den Körper klammerte, war verbunden mit Ohrfeigen, dem Geruch von Bleichmitteln in den Arbeitsmänteln, von Bratäpfeln den ganzen Winter über, dem Geräusch vom Pissen in den Nachteimer und dem Schnarchen der Eltern.«
Sie radikalisiert das Genre der Memoiren, indem sie es dazu nutzt, ihre individuellen Erfahrungen mit denen anderer Mitglieder ihrer Klasse, ihrer Generation und ihres Geschlechts zu verknüpfen. Sie zeigt, wie Memoiren als direktester Ausdruck individueller Subjektivität untrennbar mit den historischen sozialen Verhältnissen verbunden sind, die sie hervorbringen.

Was erinnert wird, was bleibt

In Mémoires de fille (2016, dt. Erinnerung eines Mädchens, 2018) richtet Ernaux ihre Aufmerksamkeit auf ihr achtzehnjähriges Ich – »das Mädchen von ’58«, ihr aufkeimendes Begehren, die gewalttätige Erwartung der Welt um sie herum – und auf die erste Nacht, die sie mit einem Mann in einem Sommerlager verbrachte: ihre erste Reise weg von zu Hause. Ein Moment, der ein berauschendes sexuelles und emotionales Erwachen hätte sein können, wird durch die Macht des älteren Mannes, eines Campleiters, gebremst. In dem Buch entfaltet sich die sexuelle Begegnung vor dem Hintergrund eines schnell gezeichneten Porträts des Gefühls, jung zu sein und die Neuheit der Geschichte der Nachkriegsjahre zu erleben.
Dies war, so Ernaux, »der Sommer der Rückkehr von De Gaulle, des neuen Franc und der neuen Republik … und von Dalidas Histoire d’un amour«. Es war auch der Sommer, in dem »Tausende von Soldaten Frankreich verließen, um in Algerien die Ordnung wiederherzustellen«. Im Strudel der Geschichte und des Begehrens sieht sich »das Mädchen von ’58« verlassen und »mit dem Realen, zum Beispiel einer befleckten Unterwäsche«, zurückgelassen.
Im Gegensatz zu den meisten Französinnen ihrer Generation hat sich Ernaux leidenschaftlich auf die Seite von #MeToo gestellt. In ihrem Werk lässt sie dem Begehren freien Lauf und treibt es bis an seine äußersten Grenzen, ein selbstzerstörerisches, ekstatisches Begehren, das sie nicht als unvereinbar mit der Notwendigkeit des Einverständnisses ansieht; tatsächlich ist es dessen Vorbedingung. Das Begehren ist ein Thema, auf das Ernaux ihr ganzes Leben lang immer wieder zurückkommt und von dem sie mit entwaffnender Klarheit spricht, wenn es von seinen historischen Verboten befreit wird, ist es mitreißend, belebend und umgestaltend.
Dem Nobelpreiskomitee dürfte nicht entgangen sein, dass Ernaux eines der besten literarischen Werke über Abtreibung geschrieben hat. L’événement (2000, dt. Das Ereignis, 2021) wurde Anfang dieses Jahres von Audrey Diwan verfilmt. Es ist auch eine der großartigsten Schilderungen des Schreibens: wie man Erfahrung in Schreiben und Schreiben in Erfahrung umwandelt. Die Erzählung, in deren Mittelpunkt ihr Kampf um eine Abtreibung steht, dreht sich um die Schwierigkeit, im Jahr 1963 eine Klassenposition zu verlassen und sich als Frau ein eigenes Leben aufzubauen.
Die Jahre gilt weithin als Ernaux’ Meisterwerk. Es beginnt mit dem Bild einer Frau, die nach dem Krieg in Yvetot hockt, und zeichnet die Klänge, Sehenswürdigkeiten, Redewendungen, Texte und Gefühle der mittleren Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts nach. Was in Erinnerung bleibt: ein erster Kuss, eine Mauer, die Europa trennt, Das Zauberkarussell, Samstagseinkäufe, Monatsrechnungen, Dr.Spock, die Revolution. Was bleibt: ein Frauenkörper, gleich und doch anders, ganz anders als in Porno- und Frauenzeitschriften; Arbeiter, die weiterhin die Arbeit verrichten, die das Schreiben möglich macht; eine Erzählung über den Fortschritt der Nachkriegszeit, der stottert und stockt, während sie sich der Gegenwart nähert: »In der ersten Februarhälfte verbrannten die Stahlarbeiter … Reifen auf den Gleisen, während sie auf ihrem Sitz im bewegungsunfähigen TGV Die Ordnung der Dinge las.« Diese Fähigkeit, ihre persönliche Erinnerung mit der kollektiven Geschichte zu verknüpfen, ist der radikalste Aspekt von Ernaux’ Werk. Als sich Die Jahre ihrem Ende nähern, nimmt sie wieder eine Ich-Perspektive ein, nimmt sich selbst aus der Geschichte heraus und überlässt den Raum der kommenden Generation.

Stark gekürzt nach: https://jacobin.com/2022/10/annie-ernaux-nobel-working-class-women