von Monika Mokre
Mansoor Adayfi verbrachte 15 Jahre im US-Foltergefängnis Guantanamo. Zu keiner Zeit wurde eine formelle Anklage gegen ihn erhoben und er wurde nie verurteilt. Seine Verhaftung beruhte auf einer Identitätsverwechslung.
Mansoor ist der Koordinator des Guantanamo Projekts der Organisation Gage und Direktor der Öffentlichkeitsarbeit des Guantanamo Survivors Fund. Er publiziert regelmäßig in internationalen Medien. Sein Buch „Don’t forget us here. Lost and Found in Guantanamo“ erhielt mehrere Auszeichnungen.
Aus Anlass der Ausstellung „Wir sprechen für uns selbst. Gefangene ergreifen das Wort.“ (siehe Beitrag in der letzten Nummer: Das Gefängnis ins Museum) kam Mansoor nach Wien. Für ,,Brot und Spiele “ sprach Monika Mokre mit ihm
Mansoor, vielen Dank, dass du nach Wien gekommen bist und uns dieses Interview gibst. Würdest du dich bitte selbst vorstellen?
Mein Name ist Mansoor Adayfi und ich bin ein ehemaliger Guantanamo-Gefangener – ihr könnt mich auch Nummer 441 nennen oder auch Unruhestifter. Ich verbrachte ohne Anklage oder Gerichtsprozess 15 Jahre in Guantanamo, aufgrund einer Identitätsverwechslung.
Seit ich im Jahr 2016 entlassen wurde, setze ich mich für derzeitige und ehemalige Gefangene in Guantanamo ein und kämpfe für Gerechtigkeit – dafür, dass die US-Regierung zur Rechenschaft gezogen wird und dafür, dass Guantanamo endlich geschlossen wird.
Deshalb ist es mir auch wichtig, heute hier zu sein, bei einer Veranstaltung, die denjenigen eine Stimme gibt, die zumeist nicht gehört werden, den Gefangenen. Denn Gefangene sind Menschen mit Rechten, unabhängig davon, was sie getan haben, und ich habe die Entwürdigung von Menschen in Gefangenschaft selbst erlebt.
Die meisten Menschen haben wohl schon von Guantanamo gehört, aber viele von ihnen wissen nicht genau, was Guantanamo ist und was dort passiert. Könntest du das bitte genauer erklären?
Wenn man an Guantanamo denkt, kommen einem orange Häftlingskleidung in den Sinn, Fesseln, Stacheldraht – und auch, dass das alles irgendetwas mit Terrorismus zu tun hat. Die wenigsten wissen, dass Guantanamo kein Gefängnis im rechtsstaatlichen Sinn ist. Guantanamo ist so etwas wie ein schwarzes Loch, ein Militärgefängnis, das sich auf einem US-Militärstützpunkt in Kuba befindet. Es wurde im Jahr 2002 außerhalb des Rechtssystems, außerhalb jeder Form der Menschlichkeit gegründet.
Wenn wir also über Guantanamo sprechen, dann sprechen wir über Unrechtmäßigkeit, Unterdrückung, Gesetzlosigkeit, Machtmissbrauch und Folter. Guantanamo ist ein Labor für Experimente an Gefangenen. Das US-Militär erprobt dort eine Methode, die es „gesteigerte Verhörtechniken“ (enhanced interrogation techniques) nennt; das ist ein anderer Begriff für Folter. 800 Männer und Kinder wurden in Guantanamo für unbestimmte Zeit festgehalten, unter ihnen Anwälte, Ingenieure, Psychologen, Ärzte, Pfleger … Etwa 60 von ihnen waren Kinder.
Guantanamo steht unter höchster Geheimhaltung, damit die USA Informationen über die Zustände dort filtern und kontrollieren können. Es ist das teuerste Gefängnis der Welt, mit Kosten von 440 Millionen $ pro Jahr. Die USA behaupten von sich selbst, weltweit Demokratie und Menschenrechte zu verteidigen, daher müssen sie geheim halten, dass in einem ihrer Gefängnisse Menschen auf unbestimmte Zeit eingesperrt und gefoltert werden. Guantanamo gibt es nun seit 23 Jahren; in dieser Zeit wurden die USA von vier Präsidenten regiert – keiner von ihnen war fähig oder willens, Guantanamo zu schließen. Obama unterzeichnete einen Präsidialerlass zur Schließung von Guantanamo, Trump einen Erlass, das Gefängnis aufrecht zu erhalten, etc. Heute noch werden 30 Männer dort festgehalten, für 16 von ihnen hat das Pentagon bereits die Freilassung angeordnet, für einige bereits im Jahr 2010.
Ich würde dir gerne eine Frage stellen, die ich auch ehemaligen Gefangenen in Österreich im Rahmen unseres Ausstellungsprojekts gestellt habe: Was war das Schlimmste und was war das Beste, das dir im Gefängnis widerfahren ist?
Wenn Menschen ins Gefängnis kommen, wird ihnen nicht beigebracht, wie sie dort überleben können – aber es wäre wichtig, ihnen das zu erklären. In Guantanamo haben wir unsere Überlebensstrategien voneinander und gemeinsam gelernt.
Das Beste, was ich dort erlebt habe, waren die Freundschaft und die Brüderlichkeit zwischen den Gefangenen und manchmal auch zwischen den Wärtern und den Gefangenen. Da gab es Momente, die die Kraft der Menschlichkeit zeigten, wenn sich die Gefangenen für die Wärter einsetzten oder die Wärter den Gefangenen halfen. Wir waren nicht die einzigen Opfer von Guantanamo, auch die Wärter, die sich für Menschlichkeit und gegen Folter einsetzten, wurden zu Opfern. Manche von ihnen wurden selbst zu Gefangenen, wurden verhört und manche von ihnen wurden als „feindliche Kämpfer“ (enemy combatants) eingestuft. Das wird etwa in dem Buch „For God and Country“ von Captain James Yee beschrieben. Er kam als muslimischer Militärseelsorger nach Guantanamo und protestierte gegen die Foltermethoden dort. Daraufhin wurde er selbst verhaftet und so behandelt wie wir, Er wurde als feindlicher Kämpfer eingestuft und wurde in Einzelhaft festgehalten.
Die schlimmsten Momente hatte ich in Guantanamo, wenn Freunde durch die Folter ums Leben kamen. Es war auch sehr hart, Kinder zwischen zehn und zwölf Jahren und sehr alte Menschen in Käfigen eingesperrt zu sehen.
Aber da waren auch Hoffnung und Leben, Leben und Tod zugleich.
Konntest du Kontakte zu deiner Familie, deinen Freunden und Freundinnen aufrechterhalten?
Es war sehr schwierig, mit der Familie zu kommunizieren. Manchmal mussten Briefe über das internationale Rote Kreuz geschickt werden und bevor die Briefe das Rote Kreuz erreichten, mussten sie von der Gefängnisverwaltung genehmigt werden. Die Briefe wurden zensuriert und zwischen diesen Stellen hin- und hergeschickt und es konnte bis zu zwei Jahre dauern, bis sie ihre Empfänger *innen erreichten.
Ich war ab 2002 in Guantanamo und erhielt 2007 erstmals einen Brief. Als einer der Gefangenen 2006 entlassen wurde, bat ich ihn, meine Familie zu informieren, dass ich in Guantanamo war. Daraufhin schrieb mir meine Mutter und dann kam der Beamte zu mir, der die Verhöre durchführte, und sagte:
„Ich habe etwas für dich, aber als Gegenleistung will ich Informationen. „Ich wusste, dass das ein Brief meiner Mutter ist, und sagte zu ihm: ,,Vielen Dank, ich brauche den Brief nicht, ich weiß schon alles, was ich wissen will.“ Die Beamten verlangten für alles, was wir bekommen konnten, Informationen als Gegenleistung.
So war die Situation bis 2010 – dann kam Obamas Ankündigung, Guantanamo zu schließen. Daraufhin haben wir begonnen, Widerstand zu leisten, so gut wir konnten, nicht alle Regeln zu befolgen und insbesondere mit Hungerstreiks für unsere Rechte zu kämpfen. Wir haben Hungerstreiks über Jahre hinweg aufrechterhalten; manche Gefangene wurden drei, fünf oder sogar zehn Jahre lang zwangsernährt und haben in dieser Zeit nicht eine einzige Mahlzeit zu sich genommen. Wir wollten gehört werden, der Welt sagen, dass wir Menschen sind; wir kämpften für Gerechtigkeit.
Aber unser Hungerstreik wurde als eine Form des Jihad, als terroristische Aktivität definiert. Einer der Männer, die in Guantanamo arbeiteten, war Ron Desantis, der sich voriges Jahr um die republikanische Präsidentschaftskandidatur beworben hat. Er war dort als Militärjurist und sollte dafür sorgen, dass die Gefangenen im Sinne der Genfer Konvention behandelt werden – aber die Genfer Konvention existiert nicht in Guantanamo. Er bezeichnete die Hungerstreiks der Gefangenen als eine Form des Jihad. Wir haben darüber diskutiert: Wenn unser Hungerstreik Jihad ist, waren dann auch die Hungerstreiks von Gandhi oder der Iren Jihad?
Aber in 2010 wurde die Situation trotzdem etwas besser. Wir hatten Videotelefonate mit unseren Familien, konnten Briefe schreiben und das Leben wurde etwas leichter. Es war immer noch ein Gefängnis, aber besser als die Hölle, die wir von 2002 bis 2010 erlebten. In meinem Buch, ,,Don’t forget us here“, habe ich die Zeit von 2010 bis 2013 – natürlich ironisch – das goldene Zeitalter genannt. 2013 wurde es wieder schlimmer, weil das Militär nach Guantanamo gekommen ist.
Du hast schon gesagt, dass Guantanamo kein Gefängnis ist, sondern eine Hölle, und natürlich sind die österreichischen Gefängnisse ganz anders als Guantanamo. Aber siehst du auch Ähnlichkeiten in der Situation von Gefangenen dort und hier?
Weißt du, Gefängnisse lernen voneinander und es gibt viele Ähnlichkeiten in der Situation von Gefangenen überall. Ungerechtigkeiten passieren überall. Selbstverständlich ist es hier besser, weil es eine unabhängige Justiz gibt, Gerichtsprozesse, Anwält *innen usw. Aber trotzdem kommt es zu Dämonisierung und Entmenschlichung, trotzdem ist es schwer, den Kontakt mit den Familien aufrecht zu erhalten.
Es sollte in den Gefängnissen Resozialisierungsprogramme geben, Bildung, Berufsausbildung. Man sollte sich um das Wohlergehen der Gefangenen kümmern; das Gefängnis sollte den Gefangenen helfen, sich zu bessern und sie nicht zerstören. Wenn Leute ins Gefängnis geworfen werden, ohne dass sie unterstützt werden, ohne dass sie etwas lernen können, wenn sie gezwungen werden zu arbeiten, wenn sie absolut keine Hilfe erhalten: Das ist Ausbeutung und eine Form der Sklaverei.
Zumeist wird auch nicht darüber gesprochen, was das Gefängnis für die Familien der Gefangenen bedeutet. Oft leiden diese mehr als die Gefangenen selbst – ich habe das auch bei meiner eigenen Familie und den Familien meiner Freunde erlebt. Wenn du im Gefängnis bist, verblassen die emotionalen Bindungen, die du davor hattest, und du wirst mental und psychisch geschädigt. Manchen Gefangenen gelingt es dann nicht mehr, mit ihren Familien zu kommunizieren. Es sollte Unterstützung zur Aufrechterhaltung der familiären Beziehungen geben und Seminare für die Familien, in denen sie lernen, mit der Situation umzugehen.
Auch nach dem Gefängnis müssen die Gefangenen bei ihrer Integration in die Gesellschaft unterstützt werden. Darüber könnte ich noch viel sagen; meine B.A. Thesis, die ich 2021 beendet habe, beschäftigte sich mit der Rehabilitation und Reintegration von ehemaligen Guantanamo-Gefangenen in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt. Es sollte eine offizielle Stelle geben, die die Situation der Gefangenen beobachtet, mit den Gefangenen spricht. Es ist nicht schwierig, Gefängnisse so zu verändern, dass Gefangene sich bessern, einen gesellschaftlichen Beitrag leisten, produktiv sein können.
Wenn ich dich richtig verstehe, sagst du, dass wir Gefängnisse brauchen, aber dass diese Gefängnisse anders organisiert sein sollten.
Ja, es sollte ein Gefängnissystem geben, dass der Gerechtigkeit und nicht der Ungerechtigkeit dient, welches die Menschen bessert. Das Gefängnis sollte so etwas sein wie ein Krankenhaus, in das Menschen kommen, damit es ihnen danach besser geht. Gerechtigkeit ist wichtig und auch, dass Menschen für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden, aber man darf Menschen nicht ausnützen und ihre Menschenrechte missachten.
Wir haben in Guantanamo erlebt, dass Gerechtigkeit und Menschenrechte nicht einfach gewährt werden; man muss für sie kämpfen. Und für ehemalige Gefangene in Guantanamo gibt es kein Rehabilitations- und Reintegrationsprogramm, keinerlei Unterstützung. Daher habe ich den Guantanamo Survivors Fund gegründet, der ehemalige Gefangene unterstützt, so gut es möglich ist. Und ich sehe, wie geschädigt ehemalige Gefangene sind – nicht nur diejenigen, die in Guantanamo waren. Wenn du zwei, drei oder fünf Jahre lang im Gefängnis warst, missbraucht und misshandelt wurdest, das führt zu mentalen und psychischen Beeinträchtigungen.
Die Wärter in Guantanamo dachten, dass die Gefangenen etwas getan hatten, für das sie bestraft werden sollten und so wollten sie uns 24 Stunden pro Tag leiden lassen. Aber auch wenn jemand ein Verbrechen begangen hat, müssen seine Menschenrechte gewahrt werden.
Hast du Ratschläge für Leute im Gefängnis?
Insbesondere musst du im Gefängnis Widerstand leisten, dich nicht brechen lassen, dich nicht vom Gefängnis verändern lassen. Du kommst ins Gefängnis mit deinen eigenen Wertvorstellungen, Ethik, Moral, Glauben, Erinnerungen, Wissen, emotionalen Bindungen – und all das musst du erhalten, das macht aus, wer du bist. Im Gefängnis beginnst du ein neues Leben, mit neuen Beziehungen, Emotionen, neuem Wissen und neuen Erfahrungen. Und je länger du im Gefängnis bleibst, desto mehr distanzierst du dich von der Person, die du vorher warst. Du darfst dich vom Gefängnis nicht einsperren lassen, du musst lesen, Sport machen, deine Fantasie öffnen, um mit der Welt und der eigenen Familie so gut wie möglich in Kontakt zu bleiben. Du musst alles tun, um dich selbst weiterzuentwickeln. Kunst ist eine Form des Widerstands gegen das Gefängnis, Schreiben, Lesen. Und es ist wichtig, dass die Gefangenen einander helfen und unterstützen. So haben wir Guantanamo überlebt, weil wir einander hatten und einander unterstützt haben – dadurch, dass wir geredet haben, zugehört, aufeinander geachtet haben.
Und irgendwann wirst du wieder frei sein und für diesen Tag musst du dich vorbereiten
MONIKA MOKRE arbeitet als Politikwissenschafterin in Wien; ihre Forschungsschwerpunkte sind Asyl und Migration, Gefängnis, Demokratie und demokratische Öffentlichkeit, Kulturpolitik und Gender Studies. Sie ist in den Bereichen Asyl und Migration sowie Gefängnis politisch aktiv.
Das Interview erschien in der Kulturzeitschrift „Brot & Spiele“ Nr. 5, Dezember 2024, siehe https://brotundspielezeitschrift.at/
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