Der Kampf für politische Freiheit und soziale Gerechtigkeit an der Basis sind untrennbar miteinander verbunden

Shui-yin Sharon Yam und Hung X.L., 7. Januar 2021

Am 6. Januar 2021 verhaftete die Hongkonger Polizei über 50 pro-demokratische Politiker*innen und Aktivist*innen, weil sie bei den demokratischen Vorwahlen zum Legislativrat (LegCo)[1] unter dem Nationalen Sicherheitsgesetz[2] kandidierten.

Die Vorwahl, die im Juli 2020 stattfand, führte zu einer Rekordbeteiligung von über 600.000 Wähler*innen, die ihre Präferenzen für pro-demokratische Politiker aus den traditionellen pan-demokratischen und lokalistischen Lagern ausdrückten. Die Bevölkerung sollte zwei pro-demokratische Kandidaten wählen, die bei den für November 2020 angesetzten Parlamentswahlen am ehesten gewinnen würden, obwohl diese von der Regierung Hongkongs unter dem Vorwand der Sorge vor dem Coronavirus verschoben wurden.

Fast alle Kandidat*innen der Vorwahl, darunter sowohl etablierte als auch jüngere Oppositionsfiguren, wurden verhaftet. Ihre Absicht, eine parlamentarische Mehrheit zu sichern, um den jährlichen Haushaltsplan Hongkongs abzulehnen, wurde unter dem Nationalen Sicherheitsgesetz als „subversiv“ eingestuft. Die Polizei legte auch Durchsuchungsbefehle bei unabhängigen Nachrichtenagenturen und dem Hongkonger Institut für Meinungsforschung vor, das Umfragen für die Wahl durchführte.

Nachdem Peking im November 2020 vier amtierende Abgeordnete disqualifiziert hatte, was zum massenhaften Rücktritt prodemokratischer Abgeordneter führte, deutet dies auf das Ende einer effektiven politischen Opposition in der Legislative der Stadt hin.

Diese ungeheuerliche Verhaftungswelle zementiert die Absicht der Regierung, jede abweichende Meinung zu ersticken und zu kriminalisieren. Sie deutet darauf hin, dass sich die Beseitigung der parlamentarischen Opposition durch die Regierung zu einem umfassenden Angriff auf Hongkongs Zivilgesellschaft ausgeweitet hat, einschließlich gezielter Verhaftungen von Akademiker*innen, Forscher*innen, Gewerkschaftsorganisator*innen und Befürworter*innen sozialer Gerechtigkeit für benachteiligte Bevölkerungsgruppen.

Während die pro-demokratische Bewegung in Hongkong oft das doppelte allgemeine Wahlrecht – das Recht, den Regierungschef oder die Regierungschefin und das gesamte gesetzgebende Versammlung direkt zu wählen – als eine ihrer Kernforderungen hervorgehoben hat, umfasst die Bewegung auch andere, miteinander verbundene Themen der sozialen Gerechtigkeit. Unter den 53 Verhafteten waren mehrere erfahrene Aktivist*innen und Organisator*innen, die für Arbeiter*innen-, Migrant*innen-, Rassen- und Behindertengerechtigkeit kämpfen.

Jeffrey Andrews, ein demokratischer Vorwahlkandidat, der verhaftet wurde, war sowohl der erste Sozialarbeiter indischer Abstammung in der Stadt, als auch die erste Person einer nicht-weißen ethnischen Minderheit, die für das LegCo kandidierte. Als leitender Sozialarbeiter im Flüchtlingszentrum, einer Anlaufstelle für Asylbewerber*innen, wollte Andrews die Rechte ethnischer Minderheiten innerhalb der Einrichtung vertreten. Chi-yung Lee, ein weiterer verhafteter Vorwahlkandidat, ging ins Rennen, weil er sich für Behindertenrechte einsetzen wollte. Als Betreuer einer schwerbehinderten Tochter setzte sich Lee für mehr barrierefreie öffentliche Verkehrsmittel und Stadtplanung ein.

Ähnlich verhält es sich mit dem pro-demokratischen Eddie Chu Hoi-dick, der ebenfalls verhaftet wurde und sich seit langem für die Rechte von inhaftierten Immigranten und Hausangestellten einsetzt, zusammen mit Forderungen nach demokratischen Wahlen. Für Andrews, Lee und Chu ging es beim Anstreben von Mandaten im Legislativrat nicht nur darum, die Herrschaft Pekings herauszufordern, sondern auch darum, sich für marginalisierte Gruppen in Hongkong einzusetzen, deren Erfahrungen und Bedürfnisse oft zugunsten von Konzernen und Machthabern ignoriert wurden.

Die Massenverhaftung dieser Abgeordneten zerstört die Illusion, dass demokratische Kandidaten, die zuvor nicht disqualifiziert wurden, eine parlamentarische Herausforderung für den Plan der Regierung darstellen könnten, Milliarden HKD[3] an die Hongkonger Polizei zu verteilen, neben „weißen Elefantenprojekten“ wie der Lantau Tomorrow Vision[4] die für die Interessen von Immobilienentwicklern den Boden entziehen und die Umweltzerstörung verschlimmern.

Unter den verhafteten demokratischen Spitzenkandidat*innen waren auch Gewerkschaftsführerinnen wie Carol Ng und Winnie Yu, die Vorsitzende der Hong Kong Confederation of Trade Unions (HKCTU) bzw. die Gründerin und Vorsitzende der Hospital Authority Employees Alliance (HKEA).

Die neue Gewerkschaftsbewegung in Hongkong, die aus den Versuchen hervorging, Generalstreiks zu koordinieren und eine parlamentarische Vertretung in den funktionalen Wahlkreisen des LegCo anzustreben, versuchte, die Dynamik der Bewegung durch den Austausch von Informationen, den Aufbau von Arbeiter*innensolidarität und die Durchführung von Arbeitskämpfen wie dem Streik der medizinischen Angestellten im Februar 2020 zu stärken. Yu war selbst Teilnehmerin bei „Medical Workers‘ Unions-Movement Building from US to HK“, einem Webinar, das von Lausan Ende Juni organisiert wurde, um den Austausch und das Lernen zwischen Aktivist*innen der Arbeiter*innenbewegungen in den USA und Hongkong zu erleichtern.[5]

Die neue Gewerkschaftsbewegung verbindet die Forderung nach Demokratie mit ökonomischen Kämpfen und macht deutlich, dass die Pro-Demokratie-Bewegung nicht von den materiellen kapitalistischen Bedingungen getrennt werden kann, die die Klassenungleichheit in Hongkong aufrechterhalten. Wie Leo Tang, ein Gewerkschaftsorganisator von HKCTU, in einem Brief aus dem Gefängnis bemerkte, verbindet die neue Gewerkschaftsbewegung Arbeitsrechte mit politischen Forderungen und „fördert das Potenzial zutage, die Bewegung durch die Transformation der Verhältnisse zu unterstützen.“ Die Verhaftungen von Ng und Yu sind ein Affront der Hongkonger Regierung gegenüber der neuen Gewerkschaftsbewegung, die ihre Kräfte effektiv von der Basis aus aufgebaut hat.

Während dies zweifellos ein weiterer vernichtender Rückschlag ist, könnten die neu gezeichneten Fronten des Kampfes dennoch neue Formen des Widerstands zutage bringen. Kann die Energie der Bewegung im parlamentarischen Aktivismus auf direkte Aktionen umgelenkt werden? Kann die zunehmende Verfolgung von Aktivistenführer*innen die einfachen Leute dazu motivieren, sich zu organisieren und für ihre eigenen Interessen einzutreten? Wie können wir uns mit anderen Bewegungen und Communities verbinden, in der vernetzten Arena des transnationalen Kampfes?

 

Der Artikel erschien am 7. Jänner 2021 auf Lausan https://lausan.hk/2021/hong-kong-mass-arrests/

Übersetzung: Wilfried Hanser

 

Fußnoten:

[1] LegCo, Legislativrat der Sonderverwaltungszone Hongkong, ist die gesetzgebende parlamentarische Versammlung der Sonderverwaltungszone Hongkong der Volksrepublik China.

[2] Das neue Gesetz zur „Nationalen Sicherheit in Hongkong“ wurde am 30. Juni 2020 von Chinas höchstem gesetzgebenden Gremium verabschiedet und trat noch am selben Tag in Kraft trat. Das Gesetz ist gefährlich umfassend und vage: Grundsätzlich alles kann damit zu einer Bedrohung der «nationalen Sicherheit» erklärt werden und es kann weltweit auf jede Person angewendet werden. Siehe auch die Kritik von Amnesty International: https://www.amnesty.ch/de/laender/asien-pazifik/china/dok/2020/hongkongs-nationales-sicherheitsgesetz-zehn-dinge-die-sie-wissen-sollten

[3] HKG Hong Kong Dollar: Ein Euro entspricht etwa 9,4 HKG

[4] Lantau Tomorrow Vision (chinesisch: 明日大嶼願景) ist ein Entwicklungsprojekt in Hongkong, das von der Regierungschefin Carrie Lam in ihrer politischen Ansprache 2018 vorgestellt wurde und die Schaffung eines dritten Kerngeschäftsbezirks durch den Bau künstlicher Inseln mit einer Gesamtfläche von etwa 1.700 Hektar durch massive Landgewinnung in der Nähe von Kau Yi Chau und Hei Ling Chau in den östlichen Gewässern von Lantau Island vorsieht. Das Projekt ist wegen seiner hohen Kosten von geschätzten 500 Mrd. HK$ (ca. 53 Mrd. Euro) – das entspricht der Hälfte der Steuereinnahmen der Stadt – sowie wegen Umweltbedenken umstritten und stößt auf Widerstand.

[5] https://lausan.hk/