von Kurt Hofmann

Es ist schwer, sich Erich Fried als Hundertjährigen vorzustellen. Doch es ist ein Leichtes, die Lücke zu benennen, die Fried seit seinem Tod im Jahr 1988 hinterlassen hat: Da war einer, der zuschärfte, wo andere abschwächten, Zweifel anmeldete, wo andere Gewissheiten vermuteten.

«Die Sucht nach dem Besseren bleibt, auch wenn das Bessere noch so lange verhindert wird. Tritt das Gewünschte ein, so
überrascht es ohnehin.»
Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung

Österreich 1927: Im burgenländischen Schattendorf haben rechte Mörder Arbeiter:innen umgebracht. Doch die Täter werden in allen Instanzen freigesprochen. Am 15.Juli 1927 demonstrieren, wie schon am Vortag, Tausende gegen die Skandalurteile vor dem Justizpalast. Die Polizei geht mit äußerster Brutalität gegen sie vor. Es gibt viele Verletzte und 86 Tote. Den Schießbefehl hat der Polizeipräsident Schober erteilt.

Dezember 1927: Der sechsjährige Erich Fried kann im ersten Jahr seiner schulischen Karriere schon eine Karriere als Protagonist einer Kindertheatergruppe vorweisen. Weil auch die Lehrer:innen sein Talent, sich Texte zu merken und diese mehr oder weniger gekonnt zum Besten zu geben, erkannt haben, darf er auf der Weihnachtsfeier seiner Schule ein Gedicht vortragen. Doch mitten im Publikum befindet sich, wie Erich erfährt, auch Polizeipräsident Schober. Statt des klischeehaften Poems erfolgt nun eine Erklärung des in Auftritten schon erfahrenen Schulanfängers: «Sehr geehrte Damen und Herren! … Ich habe gerade gehört, Herr Polizeipräsident Schober ist unter den Festgästen. Ich war am Blutigen Freitag in der Inneren Stadt und habe die Bahren mit Toten und Verwundeten gesehen. Und ich kann vor dem Doktor Schober kein Gedicht aufsagen.» (Erich Fried: Mitunter sogar lachen.)
Der Polizeipräsident verlässt den Saal, ein Kind hat ihn vertrieben. Ein sozialdemokratischer Lehrer gratuliert Erich nach der Schulaufführung, der Vater aber droht ihm Konsequenzen an, er sei wohl in ein «kommunistisches Fahrwasser» geraten.
Kommunistisches Fahrwasser? Die Frieds besitzen ein kostbares Lexikon. Erich beschließt, die Begriffe nachzuschlagen. Freilich umfasst das Werk nur sechs Bände: «Band 6 ging nicht einmal bis Geschlechtsorgane, geschweige denn Kommunismus.» Die Definition von «Fahrwasser» bringt Erich nicht weiter, ein Besuch bei seiner Tante, die die Gesamtausgabe von Meyer’s Konversationslexikon besitzt, schafft aber Abhilfe in Sachen Kommunismus: «So verdanke ich meinem Vater und Meyer’s Konversationslexikon meine erste Einführung in die Grundzüge politischen Wissens…»

Die Gruppe 47

1963: Der Schriftsteller Erich Fried nimmt erstmals an einem Treffen der Gruppe 47 teil. Diese versteht sich als literarischer Gegenentwurf zu Muff und gesellschaftlicher Stagnation im Nachkriegsdeutschland. Martin Walser setzt sich für Erich Fried ein: «Eine letzte Bitte … Ich lernte Erich Fried kennen, Emigrant, London NW, 10/20 Chambers Lane, der hat durch seine Emigration kaum Kontakt und würde brennend gern zur Tagung kommen … Er kann ja nichts dafür, dass er so ins Abseits geraten ist.» (Helmut Böttiger: Die Gruppe 47.)Und Hans Werner Richter, Gründer der Gruppe 47, der zuvor schon das schöne Wort «Emigranten-Deutsch» geprägt hat, schreibt an Walter Jens, der Fried schließlich einlädt, nun kämen wohl auch «die goldenen Emigranten-Horden der goldenen zwanziger Jahre» zur Tagung nach Saulgau. Dies wohl in Unkenntnis des Alters von Fried, doch die Wortwahl sagt, wie schon zuvor bei Walser, einiges über die progressive Literatur-Unternehmung aus. Emigration als «Abseits», «Emigranten-Horden»: Willkommen in der BRD, Erich Fried…

In den folgenden Jahren wird Erich Fried in der Gruppe 47 das tun, was er, weiter aus London, bis zu seinem Tod, für seine zentrale schriftstellerische Verantwortung hält: sich einmengen, Kontraste setzen. Der literarische Elfenbeinturm der «Auserwählten» interessiert Fried in diesem Zusammenhang nur am Rande…

«Dissident»

Die 1970er und 1980er Jahre sind eine Hoch-Zeit des Kalten Krieges. Da ist kein Main­streammedium, das ohne die «Dissidenten» auskommt. Die Dissidenten leben allerdings nur im Osten, in der «besten aller Welten» wird niemand benachteiligt, ausgegrenzt oder gar verfolgt.

Dissident: Die etymologische Wurzel dieses Begriffs erklärt sich mit «Abweichender, Andersdenkender». Erich Fried hätte es wohl empört abgelehnt, mit diesem ideologischen Kampfbegriff des Kalten Krieges bedacht zu werden, aber tatsächlich trifft «Abweichender, Andersdenkender» auf ihn zu. Man könnte noch hinzufügen: zwischen den Stühlen Sitzender.

Fried beteiligt sich an Protesten gegen den Krieg in Vietnam, gegen Berufsverbote, die Isolationshaft (der RAF-Gefangenen), aber er geht dabei weiter als «erlaubt», kümmert sich nicht um Tabus. So bezeichnet er in einem Beileidstelegramm nach dem Tod von Ulrike Meinhof diese als «die größte Frau seit Rosa Luxemburg» und bezweifelt in ihrem, wie auch in den anderen Fällen in seinen Gedichten staatsoffizielle Selbstmordversionen. Der Fragensteller lässt sich nicht zu vorschnellen Antworten verleiten, niemand kann ihn instrumentalisieren.

Etwas verstehen wollen

Erich Fried, dessen Vater von der Gestapo erschlagen und dessen Großmutter in Auschwitz vergast wurde, ist dennoch – deswegen ein heftiger Kritiker der israelischen Politik. Er schreibt: «Michael Kohlhaas hat heute | einen palästinensischen Namen.» Und weiter: «Und man hat diesem Kohlhaas | nicht Pferde | sondern Land weggenommen.» Zudem zitiert Fried Kleists Charakterisierung des Kohlhaas: «Das Rechtsgefühl aber | macht ihn zum Räuber und Mörder.» (Erich Fried: Höre, Israel.)
Das Rechtsgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder: Erich Fried billigt Attentate radikaler Palästinenser:innen nicht, aber er versucht, deren Motivation, basierend in deren (von ihm vielfach kritisierten) Lage zu verstehen, fragt nach, wo Antworten schon vorgefertigt sind.

Etwas verstehen wollen: Hierin wurzelt auch ein Irrweg Frieds, der, nachdem die Einladung des Neonazi-Führers Kühnen zu einer Talkshow (zu der auch Fried geladen war) zurückgezogen wurde, Kontakt zu Kühnen aufnimmt. Er sucht den Dialog, will Kühnen «therapieren» (wie Jahre später übrigens auch Christoph Schlingensief, der in seiner Hamlet-Inszenierung die zentralen Rollen mit «bekehrten» Neonazis besetzte) – derlei ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Sprachspiele

«Der Befassungsschutz | verschützt die Vorsitzenden | von denen die Verhörden | als bestockte Beschwörer verkannt sind | weil sie eine Beänderung | der Lebensverdingungen wollen | durch Bewandlung der Produktionsbehältnisse», heißt es in der ersten Strophe des Gedichts «Verstandsaufnahme» (Erich Fried: Die bunten Getüme.)

Durch Irritation Aufmerksamkeit erzeugen, Worten auf die Spur kommen, Behauptungen widerlegen – dies ist Frieds Pläsier, etwa auch in seinem populärsten Gedicht, dem Liebesgedicht «Was es ist»: Da mühen sich die Vernunft, die Berechnung, die Angst, die Einsicht, der Stolz, die Vorsicht und die Erfahrung gemeinsam vergeblich, auf die Endlichkeit der Liebe zu verweisen. Doch deren Antwort bleibt immer gleich: «Es ist was es ist | sagt die Liebe».

Die «Sucht» nach dem Besseren (Bloch), der anderen, besseren Gesellschaft, hat Fried lebenslang angetrieben: «Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt!»

SIE

Sie frisst ihre Kinder
sie trinkt das Blut ihrer Toten
sie predigt den Tauben
sie kennt keine höhreren Werte

Sie vergisst ihren Weg
sie wankt von Verrat zu Verrat
von Fehler zu Fehler
sie schläft in den Niederlagen

 Dass sie unnötig ist
lernt jedes Kind in der Schule
dass das Volk sie nicht will
hat das Volk sich endlich gemerkt

 Dass sie nicht siegen kann
ist zehnmal genau beweisen
Die es bewiesen haben
schlafen nicht gut

Die an sie glaube
sind manchmal müden von zweifeln
Einige die sie hassen
wissen sie kommt

Erich Fried

 

Der Artikel erschien zuerst in SOZ, Sozialistische Zeitung April 2021 https://www.sozonline.de/2021/04/zwischen-den-stuehlen/