von Ana C. Carvalhaes und Luis Bonilla

Im Gegensatz zu den letzten 25 Wahlen in Venezuela (mehrere Dutzende seit dem ersten Sieg von Hugo Chavez 1998) ist die gesamte lateinamerikanische Linke, einschließlich der gesamten Basis des „Progressismus“, nach dem Urnengang vom 28. Juli tief gespalten.

Eine zwar schrumpfende, aber immer noch einflussreiche Gruppe von Intellektuellen beruft sich auf das Forum von Sao Paulo (1), demzufolge die Regierung von Nicolas Maduro um jeden Preis unterstützt werden muss, um Venezuela und die Region vor dem US-Imperialismus zu retten – auch um den Preis der Nichtanerkennung des Wahlergebnisses. Anders als bisher ist nämlich nicht auszu­schließen, dass Maduro die aktuellen Wahlen verloren hat, da er sich nach wie vor weigert, Beweise für seinen Sieg vorzulegen.

Nach dieser Logik, die eher der klassischen Geopolitik als dem Marxismus entspricht, ist es nicht nur vertretbar, sondern ein Gebot der Stunde, alle Mittel anzuwenden, um die Macht (und das Erdöl) ,,nicht an die Rechte abzu­treten“. Dieser geopolitischen Logik zufolge ist es zweit­rangig, ob Nicolas Maduro die Wahlen gewonnen oder verloren hat. Vielmehr geht es darum, im Namen des „na­tionalen Fortschritts“ den Einzug des US-Imperialismus, in Gestalt des Oppositionskandidaten Edmundo Gonzalez, in den Miraflores-Palast und dessen Zugriff auf die staat­liche venezolanischen Erdölgesellschaft PDVSA, die über eine der größten Öl- und Gasreserven der Welt verfügt, zu verhindern. Ein Teil dieser „Neo-Maduristen“ hat zu­gegebenermaßen weniger das Öl im Sinn als die Frage, ob man die Niederlage von Maduro, der ihnen als links gilt, eingestehen soll, was vor dem Hintergrund des Aufstiegs der extremen Rechten in der Region und in der ganzen Welt in ihren Augen eine Tragödie wäre. Somit besteht für diese Leute die einzige Lösung darin, an Maduro festzu­halten. Daher werden auch Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien abgelehnt, die von Lula und Gustavo Petra angeregt wurden, um beide Seiten an der Macht zu beteiligen und den Fortbestand der staatlichen PDVSA – zumindest in einem gewissen Rahmen – zu gewährleisten.

Ein Blick auf die jüngste Geschichte und ein Faktencheck

Zur Erinnerung: Wo verläuft die Trennlinie zwischen rechts und links? Geht es um Rhetorik oder um Taten? Maduro bedient sich zweifellos einer radikalen Sprache mit linken Floskeln. Er betrachtet seine Regierung als anti-imperialistisches Bündnis zwischen dem Militär, der Polizei und dem Volk und behauptet, für den Sozialismus einzutreten. Er muss sich intern und extern als Nachfolger von Chavez legitimieren, obwohl er die Errungenschaften und das Erbe der jahrelangen Fortschritte des „bolivari­schen Prozesses“ in weiten Teilen rückgängig gemacht hat. Ungeachtet des äußeren Anscheins hat Maduro ab 2013 die Bereicherung einer neuen Unternehmerschicht im Land gefördert und dabei – in seinem Selbstverständnis als Autokrat – versucht, zwischen den verschiedenen Frakti­onen der neuen und der alten venezolanischen Bourgeoisie eine Balance zu finden, um sich an der Regierung zu halten. Davon ausgenommen waren bloß die am engsten mit der extremen Rechten der Yankees verflochtenen Sektoren, vertreten durch Maria Corina Machado und Edmundo Gonzalez.

In einem offen autoritären Kurs hat Maduro stets die Unternehmerseite begünstigt, insbesondere den Dienst­leistungssektor für die Ölindustrie, der weitgehend in den Händen der oberen Ränge seiner Streitkräfte und seiner Polizei liegt. (Daher also das Bündnis … ) Selbst unter den drückenden Sanktionen des westlichen Imperialismus gegen Venezuela, die unter der Regierung Obama einge­führt, unter Trump fortgesetzt und unter Biden gelockert wurden, hat er nie auch nur den geringsten Schritt unter­nommen, um dem globalisierten Finanzsystem und dessen Handlangern im eigenen Land die Stirn zu bieten. Er hat einen beträchtlichen Teil des schrumpfenden Staatshaus­halts an Privatbanken übergeben, um Privatunternehmen und Rentiers den Devisenhandel zu ermöglichen. Mit einem Wort: Er verfolgt eine Politik, welche die Reichen subventioniert und begünstigt.

Seit dem Dekret 2792 von 2018 sind Streiks verboten, und das Recht der Arbeiterklasse, sich zu organisieren und Forderungen zu erheben, wurde – etwa durch das Verbot neuer Gewerkschaften – stark eingeschränkt. Gewerk­schaftsführer, die die internen Praktiken der Unternehmen anprangern oder einfach nur eine Lohnerhöhung und eine Krankenversicherung fordern, werden verfolgt und inhaf­tiert. So geschehen bei Siderurgica de! Orinoco (Sidor), dem größten Ballungsraum von Proletariern in Venezuela. Nachdem sich die Beschäftigten im Juni und Juli 2023 für Löhne und Sozialleistungen eingesetzt hatten, wurden sie Opfer massiver Repressionen. Die Gewerkschaftsvertre­ter Leonardo Az6car und Daniel Romero befinden sich seither im Gefängnis.

Der „Anti-Imperialismus“ von Maduro hindert ihn und sein Umfeld nicht daran, das von den USA benötigte Öl auf Umwegen über Chevron und andere ausländische Großkonzerne (wie Repsol) zu liefern, denen das US­amerikanische Finanzmini;terium erlaubt, das venezola­nische schwarze Gold zu fördern, solange sie in Venezuela selbst keine Steuern und Lizenzgebühren entrichten. Der „Anti-Imperialismus“ a Ja Maduro hat seine Grenzen, wie sein Kniefall vor diesen neokolonialen Bedingungen zeigt.

Obwohl die Sanktionen gegen Venezuela (unter dem Druck des Konflikts mit Russland) unter Biden gelockert wurden, hält Maduro in seiner Rhetorik hartnäckig daran fest, dass die Sanktionen an allem, was schiefläuft, schuld sind. Dieses Narrativ dient ihm als Vorwand, um eine Strukturanpassung zulasten der arbeitenden Bevölke­rung voranzutreiben. Allerdings hat die Berufung auf die (realen, konkreten und abzulehnenden) US-Sanktionen angesichts des (durch milliardenschwere Korruptionsge­schäfte möglich gewordenen) protzigen und luxuriösen Lebensstils derer, die das Land heute regieren, jede politi­sche Glaubwürdigkeit verloren.

Die Arbeiterklasse – ein Nebenwiderspruch?

Anstatt die Lage der arbeitenden Klasse in Venezuela und davon ausgehend den Zustand der Linken zu analysieren, setzt man auf die in Mode gekommene „Geopolitik des Öls“, die ausschließlich den (zweifelsohne wichtigen) Widerspruch zwischen dem Imperialismus und dem ve­nezolanischen Staat im Auge hat. Was jedoch fehlt, ist ein Minimum an dialektischem Verständnis, um angesichts vielfältiger Widersprüche die materielle und politische Lage sowie die Wünsche und Bedürfnisse der Arbeiter­klasse zu erfassen. Fast scheint es, man würde diese Frage unter ferner liefen bzw. als Nebenwiderspruch abtun. Unter der Devise, den Griff der Rechten nach der Macht zu verhindern, verzichtet man auf eine Klassenanalyse, wobei außer Acht gelassen wird, dass die Regierung trotz ihrer linken Rhetorik den wirtschaftlichen Strukturanpas­sungsrezepten der Rechten folgt. Man sollte sich vielleicht die Beschäftigten der PDVSA oder von Sidor (dem größten venezolanischen Stahlkonzern) anhören bzw. mit Lehr­kräften und Universitätsprofessoren sprechen (statt mit der Bürokratie oder den Bossen vom Gewerkschaftsdachver­band CBST ), um die prekäre materielle Lage der arbeiten­den Bevölkerung zu begreifen (Mindestlohn von 4 Euro pro Monat, Durchschnittslohn von 120 Euro pro Monat). Die dramatische Verschlechterung der Lebensbedingun­gen geht einher mit einer gravierenden Einschränkung demokratischer Freiheiten. Seit Jahrzehnten war es nicht so schwierig, sich zu organisieren, zu protestieren und zu kämpfen.

Was den Ausgang der Wahlen vom 28. Juli betrifft, distanzieren sich die neuen Geopolitiker des „Progres­sismus“ von den Schlussfolgerungen [Wahlschwindel auf Kosten der rechten Opposition, Anm. d. Red.) der großen internationalen Medien (CNN, CBS und anderen). Schließlich vertreten sie nicht die Interessen von Maria Corina Machado und Edmundo Gonzalez, sondern ihre eigenen (die von Maduro und der neuen Bourgeoisie) und zwar ausgehend von der falschen Prämisse, dass Maduro die Arbeiterklasse verkörpert. Dabei verzichten sie auf eine nähere Betrachtung ihrer gegen die Werktätigen und die Bevölkerung gerichteten Politik. Sie tappen in die Falle einer Fetischisierung der Justiz, da sie ihre Analyse der politischen Lage auf das Wahlergebnis beschränken und dabei Klassenkriterien ausklammern. Maduro und die [Nationale Wahlbehörde, Anm. d. Red.] CNE haben nicht offengelegt, aufgrund welcher Berechnungen sie dem Präsidenten zum Wahlsieg verholfen haben, und das hat konkrete Auswirkungen auf das Ausmaß demokrati­scher Freiheiten und auf den Handlungsspielraum, den die arbeitende Klasse zum Überleben braucht.

Ohne Transparenz und Glaubwürdigkeit bei den nationalen Wahlen, zu denen Kandidaten verschiedener Schattierungen bürgerlicher Wahlprogramme zugelassen waren, ist es schwierig, an eine Wiederherstellung der de­mokratischen Mindestfreiheiteq zu denken, die für die Ar­beiterklasse unabdingbar sind, um sich gegen die Angriffe des Kapitals zur Wehr zu setzen. Es geht um das Recht auf angemessene Löhne, das Streikrecht, die Versammlungs­und Vereinigungsfreiheit, das Recht auf freie Meinungs­äußerung sowie das Recht, zu protestieren und sich in politischen Parteien zu organisieren. Die Arbeiterklasse hat größtes Interesse daran, zu erfahren, ob nach dem 28. Juli die Freiheiten, die sie braucht, um sich als ausgebeutete Klasse Gehör zu verschaffen, garantiert oder eingeschränkt werden. Aber dieses Interesse entspricht nicht der Logik der neuen „progressistischen“ Geopolitik.

Verzicht auf klare Worte und vielsagendes Schweigen

Die Unterdrückung der gewerkschaftlichen und politi­schen Organisationen der arbeitenden Bevölkerung ist diesen „Progressiven“ ziemlich egal. Es kümmert sie auch nicht, dass Maduro ein Antreten des linken Flügels der PSUV (2) bei den Wahlen im Juli untersagt hat- wobei er selbst vor einer Unterwanderung und Kriminalisierung von Parteien sowie vor Frontalangriffen auf die Partei­führungen der Wahlbewegung des Volkes (Movimiento Electoral del Pueblo, MEP), Vaterland für alle (Patria Para Todos, PPT), der Tupamaros und der Kommunistischen Partei (PCV) nicht zurückschreckte, um die Wahlen zu beeinflussen. Die Anhänger von Maduro lassen uner­wähnt, dass die Regierung nach dem 28. Juli die Re­pression verschärft hat – und zwar nicht mehr gegen den Mittelstand, sondern gegen die Arbeiterklasse. So wurden rund 2.000 jugendliche unter dem Vorwand der „Um­erziehung“ ins Gefängnis gesteckt, wo sie schikanösen Gehirnwäscheritualen unterzogen werden.

Ebenso wenig äußern sich die Progressisten zu der Errichtung von zwei Hochsicherheitsgefängnissen für alle, die bei Straßenprotesten aufgegriffen oder bei Protestauf­rufen in den sozialen Medien ertappt werden. Sie schwei­gen zu der Inhaftierung mehrerer Oppositionspolitiker und zu den unverhohlenen Drohungen, die im Fernsehen gegen verschiedene prominente Personen ausgespro- chen wurden – etwa vom Innenminister [und Offizier im Ruhestand, Anm. d. Red.] Diosdado Cabello (dem „Hammerminister“) (3) gegen Juan Barreto, den ehemaligen Bürgermeister von Caracas, oder gegen Vladimir Villegas, den Bruder des Kulturministers und Vorsitzenden eines Parlamentsausschusses. Angesichts der Einschüchterung öffentlicher Persönlichkeiten kann man sich unschwer vorstellen, womit gewöhnliche Menschen, die nicht im Rampenlicht stehen, zu rechnen haben. In letzter Zeit wurden häufig Sicherheitskräfte in Zivil eingesetzt, um Aktivisten einzuschüchtern – etwa gegen Koddy Campos und Leandro Villoria, die Anführer der LGBTQ+-Ge­meinschaft in Caracas, oder in der traditionellen Hochburg der Chavististen vom 23. Februar, ebenfalls in Caracas, wo Regierungsbeamte die Häuser von Aktivisten mit einem X markiert haben, um ihnen Angst einzujagen und sie so vor etwaigen Protesten abzuhalten.

Die „geopolitische“ Linke schweigt sich über die Zahl der Toten nach dem 28. Juli aus (nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen und sozialen Bewegun­gen sind es mehr als 20) bzw. behauptet, dass es sich dabei ohnehin nur um Angehörige der Rechten gehandelt habe. Das ist nicht nur falsch, sondern bedeutet auch ein Zurück­fallen hinter die demokratischen Errungenschaften, die in der [gesamten, Anm. d. Red.] Region nach dem Ende der Diktaturen erzielt wurden.

Der „geopolitische Progressismus“ hält am Trugbild einer Volksregierung fest, die es seit Maduros gesell­schaftspolitischen Weichenstellungen gegen die arbeitende Bevölkerung nicht mehr gibt. Von der Arbeiterklasse wird verlangt, ausschließlich innerhalb des von Maduro erlaub­ten Rahmens für ihre Rechte einzutreten. Damit soll zu­mindest nach außen hin der Schein einer Utopie gewahrt werden, deren Verwirklichung im eigenen Land geschei­tert ist. Der „Progressismus“ verschließt seine Augen vor der Tatsache, dass Maduro und seine Clique zwar eigene beglaubigte (und kostenpflichtige) Konten in den sozialen Netzwerken haben, während das Meinungsspektrum der Bevölkerung (auf kostenlosen Konten) zensuriert wird. Daher ist es diesen Leuten auch egal, dass die Regierung die Netzwerke X und Signal mindestens zehn Tage lang gesperrt hat, während alle hohen Funktionäre ihre Kom­munikation über den für das Volk gesperrten Kanal VPN aufrechterhalten.

Und was ist mit dem Erdöl?

Angesichts der Gefahr einer Regierungsübernahme durch die „abgetakelte“ Rechte werden alle ernst zu nehmenden Einwände von den Verfechtern von Maduros „Sieg“ als ,,formaldemokratische“ Nebensächlichkeiten abgetan. Diese Logik klammert nicht nur die Klassenfrage aus, son­dern verkennt schlicht und einfach die Realität im Land.

Im November 2022 hat der US-Finanzminister im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine Chevron erlaubt, venezolanisches Öl zu fördern und zu exportieren – unter der Bedingung, dass der Konzern keine Steuern oder Abgaben an die venezolanische Regierung entrich­tet. Diese neokolonialen Auflagen, die man den [bürger­lichen] Regierungen vor Chavez erspart hatte, wurden von Maduro akzeptiert. Somit ist Venezuela wieder zu einem stabilen Öllieferanten für Nordamerika geworden. Das erklärt auch die Gratwanderung von Biden und seine Zurückhaltung gegenüber den Vermittlungsversuchen des progressistischen Dreigestirns Lula, Petro und AMLO (4) (von denen sich AMLO inzwischen zurückgezogen hat).

Was das US-Embargo gegen Venezuela betrifft, muss man differenzieren, denn Embargo ist nicht gleich Embar­go. Die Sanktionen, die über Lebensmittel, Medikamente und Ersatzteile für Busse und Autos verhängt wurden, haben maßgeblich zur Abwanderung von vier bis fünf Millionen Werktätigen beigetragen. Dennoch hat es Vene­zuela geschafft. zum sechstgrößten Öllieferanten der USA aufzusteigen und Länder wie Großbritannien und Nigeria zu überholen.

In Venezuela geht es um die Frage, welche Fraktionen der herrschenden Klassen das Geschäft mit dem Öl kontrolliert: entweder die alte, abgewirtschaftete Oligarchenbourgeoisie oder die neuen, mit dem „bolivarischen“ Militär eng verflochtenen Wirtschaftszweige, die unter Maduro reich geworden sind. Es wird also darum gestritten, wer den Löwenanteil der Öleinnahmen erhalten soll. Beide Fraktionen sind Garanten für die geostrategische Ölversorgung der westlichen kapitalistischen Mächte, und sie werden eine  Beteiligung der Bevölkerung an den Öleinnahmen nicht zulassen. Das liegt nicht nur in der Natur der kapitalistischen Bourgeosie, sondern auch daran, dass der Charakter der fossilen, mono-extraktivistischen, exportorientierten Staates durch den bolivarischen Prozess nicht angetastet wurde und Maduro trotz seiner Rhetorik weder sozialistisch noch anti-imperialistisch ist. Es zeugt von Naivität und mangelnder Kenntnis der Fakten, sich vorzustellen, dass Maduro ein mutiges Programm vorlegt, um den imperialistischen Ambitionen, sich das venezola­nische Öl auf dem Weltmarkt anzueignen, entgegenzu­treten. Angesichts der wachsenden Unzufriedenheit der arbeitenden Bevölkerung wäre es ein grober Fehler, im Namen einer angeblichen Souveränität die Augen vor den zunehmenden autoritären Tendenzen des Maduro-Regi­mes zu verschließen.

Bedauerlicherweise verkennen die geopolitischen Maduristen, dass der Ölreichtum nicht Venezuelas Ret­tung, sondern sein historischer Fluch ist. Selbst der große brasilianische Entwicklungsökonom Celso Furtado hatte diesen Irrglauben bereits in den 1950er Jahren als extrem problematisch für sein eigenes Land erachtet – und er war weder Sozialist noch „grün“.

Gibt es einen Ausweg?

Natürlich ist das Erstarken der rechten Opposition, die bei früheren Wahlen mehrmals von Chavez und einmal von Maduro geschlagen wurde und an deren Spitze heute mit der Oligarchin Maria Corina Machado ihr extremster Flü­gel steht, eine Tragödie. Aber eine noch größere Tragödie ist die Tatsache, dass dieser rechtsextreme Flügel die letzten Wahlen möglicherweise gewonnen hat oder zumindest nahe daran war, denn anders lassen sich Maduros beharrli­che Weigerung, die Ergebnisse zu veröffentlichen, und die brutale Unterdrückung der Bevölkerung nicht erklären. Da eine friedliche Lösung nicht in Sicht ist und eine unkom­plizierte Übergabe der Regierung an die rechtsextreme Opposition schwer zu verdauen wäre, könnte das „Blut­bad“, mit dem beide Seiten drohen, durch das Aufgreifen der Vorschläge der Regierungen Brasiliens und Kolumbiens vermieden werden: Offenlegung der Wahlergebnisse so,,·ie Verhandlungen zwischen den Kontrahenten, in erster Linie mit Maduro selbst. (Die Vermittler verweigern den Dialo 􀀔 mit der Opposition und die Prüfung der von ihr vorgel – ten Ergebnisse.) Von diesen Verhandlungen kann man sich die Zusicherung demokratischer Mindestfreiheiten. die Freilassung politischer Gefangener, ein Ende der Repression sowie weitgehende Freiheiten für Gewerkschaften und politische Parteien erhoffen, aber es sollte auch möglich sein, Klauseln zum Schutz der PDVSA auszuhandeln_
Derzeit ist es politisch richtig, die von Kolumbien und Brasilien vorgeschlagene Verhandlungslösung- die von Chile mitgetragen,jedoch wenig überraschend Yom [nicaraguanischen] Diktator Daniel Ortega abgelehnt wird VENEZUELA
-, zu unterstützen, da sie vernünftig und realistisch ist und im Interesse der arbeitenden Bevölkerung des Landes liegt. Diese Politik richtet sich zwar gegen ein zunehmend auto­ritäres Regime, das Jugendliche, Gewerkschaftsaktivisten und linke Oppositionelle unterdrückt, aber sie beschränkt sich nicht auf die bloße formal-juridische Bestätigung von Unregelmäßigkeiten [vor allem bei den Wahlen] und Re­gierungswillkür. Während sie Möglichkeiten eröffnet, sich gegen die Angriffe der extremen Rechten auf die PDVSA und die wenigen verbliebenen sozialen Errungenschaften zu wehren, gehen sie nicht von der irrigen Annahme aus, dass Maduro und sein militärisch-bürokratisches Umfeld ein Garant für eine wie auch immer geartete venezolani­sche „Souveränität“ sein können.

Nationale Souveränität und Volkssouveränität

Der lateinamerikanische „Progressismus“, aber auch die Dritte-Welt-„Theorie“ und die stalinistische Linke werfen unter dem Begriff Souveränität zwei verschiedene Kon­zepte – nationale Souveränität und Volkssouveränität – in einen Topf. Natürlich ist die nationale Souveränität in der Regel eine Voraussetzung für die volle Ausübung der Volkssouveränität. Angesichts der Zwänge des Weltmarkts und des Imperialismus ist es jedoch problematisch, dass völlig unterschiedliche Regierungen (und ideologische Strömungen) – sowohl fortschrittliche als auch reaktionäre – die Verteidigung der nationalen Souveränität für sich in Anspruch nehmen.

Die Frage der nationalen Souveränität war das zentrale Thema der antikolonialen und nationalen Unabhängig­keitsbewegungen sowie etlicher populistischer Strömun­gen zur nationalen Entwicklung im 20. Jahrhundert. Auf sie berufen sich aber auch Militärdiktaturen (wie im Süden Lateinamerikas in den 1960er Jahren), theokratische Dik­taturen (wie der Iran), bürokratische Staaten und rechts­extreme Regierungen (wie Modi und Trump). Es stimmt zwar, dass auch äußerst reaktionäre Regimes die nationale Souveränität verteidigen und selbst die Konfrontation mit dem Imperialismus suchen können, aber unseres Erachtens ist der Kampf um nationale Souveränität nur sinnvoll in Verbindung mit dem Kampf um Volkssouveränität, also der demokratischen Selbstorganisation der Massen, der Eroberung von Freiheiten und Rechten, die den histo­rischen Block der Volksklassen stärken und Alternativen zum globalen Kapitalismus und zu den imperialistischen Mächten, die ihm dienen, aufzeigen können.

Außerdem lassen sich nach den Erfahrungen mit dem Stalinismus des 20. Jahrhunderts die Völker nicht automatisch mit ihren politischen Führern, von denen sie in einer stets dynamischen Beziehung vertreten werden oder auch nicht, gleichsetzen. Wenn diese Verbindung abreißt (wie aktuell in Venezuela), wird der Kampf um demokratische Freiheiten zu einem Eckpfeiler im Kampf um die Souverä­nität des Volkes – und letztendlich auch der Nation.

Und die Demokratie?

Bürgerlich-demokratische Regierungen entsprechen nicht den Wünschen und Vorstellungen von uns Sozialist:innen. Was wir strategisch anstreben und wofür wir eintreten, das sind basisdemokratische Organisationen, direkte Demo­kratie und Volksmacht – als Keimzellen einer neuen und lebendigeren Demokratie, die von der Masse der Werktä­tigen und der einfachen Bevölkerung in einem ständigen Prozess revolutionärer Offensive ausgeübt wird. Aber ist die formale Demokratie tatsächlich so wenig wert, dass wir Wahlen und ihren manipulierten Ergebnissen keinerlei Bedeutung beimessen?

In einer Welt, die zunehmend von rechtsextremen Kräften bedroht wird, gilt es heute und auf längere Sicht, demokratische Freiheiten und Rechte und selbst die Insti­tutionen bürgerlich-demokratischer Regierungen gegen die Angriffe der extremen Rechten zu verteidigen – gegen Trump, Bolsonaro, Erdogan, Orban und andere. Kön- nen wir es uns als Linke leisten, die Demokratie so sehr gering zu schätzen, dass wir Wahlmanipulationen in einer wachsenden Anzahl von Ländern, wo der Kampf gegen die extreme Rechte überlebensnotwendig ist, einfach so hinnehmen?

Gruppierungen, die sich selbst als links bezeichnen, aber repressive Regimes dulden, erweisen strategisch gesprochen dem notwendigen politischen, theoretischen und praktischen Aufbauprozess einer neuen antikapitalis­tischen Utopie – die in der Lage ist, breite Schichten von Jugendlieben, Frauen und der arbeitenden Bevölkerung wieder zu begeistern – einen schlechten Dienst. Eine neue antikapitalistische Massenlinke wird nur dann Bestand haben, wenn sie demokratisch und unabhängig ist und sich von autoritären „Modellen“ abgrenzt.

Zuletzt stellt sich eine Frage, die für jeden Aktivisten und jede sozialistische Organisation in Lateinamerika und in der ganzen Welt im Mittelpunkt stehen sollte: Wie kön­nen wir die Erwartungen der arbeitenden Bevölkerung, der einfachen Menschen und der spärlichen Überreste der unbürokratischen Linken erfüllen? Dürfen wir die Kräfte links von der PSUV und die verdeckt agierenden Kritiker im Inneren der in sich gespaltenen PSUV, die unermüdlich gegen die Diktatur auftreten und daher verfolgt werden oder im Gefängnis sitzen, im Stich lassen? Unsere vorran­gige internationalistische Aufgabe ist es, ihre Kämpfe zu unterstützen, ihre Einheit im Widerstand zu fördern und ihnen nicht nur das Überleben zu ermöglichen, son-dern ihnen auch Luft zum Atmen zu verschaffen. Ohne Berücksichtigung dieser Kriterien folgt man vielleicht einer geopolitischen Logik, aber das hat nichts mit ei­nem Internationalismus von unten zu tun. Letztendlich liegt die einzige strategische Garantie für ein souveränes Venezuela, für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen, für gesellschaftliche Änderungen und mittelfristig für die Machtübernahme des Volkes in den Händen der sozialen und politischen Subjekte, die in den goldenen Jahren des bolivarischen Prozesses die Hauptrolle gespielt haben, und nicht in den Händen ihrer Totengräber.

Alla Cristina Carvalhaes, Journalistin und Bundesbeamtin, Gründungsmitglied der brasilianischen PSOL und Mitglied des Exekutivbüros der Vierten Internationale.

Luis Bonilla•Molina ist ein venezolanischer Universitätsdo­zent, kritischer Pädagoge und Präsident der venezolanischen Gesellschaft für vergleichende Bildung.

Übersetzung aus dem Französischen: E. F.

 

Fußnoten:

(1) Ein breiter Zusammenschluss linker Parteien, der 1990 von der brasilianischen PT ins Leben gerufen wurde und heute über 100 Organisationen umfasst, darunter die Kommunistische Partei Kubas, Ortegas Partei in Nicaragua sowie Evo Moralez und seine MAS in Bolivien. Die Frente Amplio in Uruguay distanziert sich seit über einm Jahr von Maduro. Heute haben Lula, Petro (Kolumbien) und López Obrador (Mexiko) den Block endgültig „gesprengt“.

(2) Partido Socialista Unido de Vernezuela (Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas), die Partei von Präsident Nicolás Maduro.

(3) Diosdado Cabello moderiert eine Fernsehsendung, in der er Abtrünnige als Verräter „verurteilte“ und sie mit einem riesigen Hammmer „hinrichtete“. Nein, das ist keine fiktive Erzählung aus dem lateinamerikanischen magischen Realismus.

(4) Es handelt sich dabei um die Präsidenten der Staaten Brasilien, Kolumbien und Mexiko.

 

Die deutsche Übersetzung des Artikels erschien in: Die Internationale Nr. 6/2024 https://inprekorr.de/internat636.htm