Wie an Hand von Ende Gelände, mit zivilem Ungehorsam der Kapitalismus in Frage gestellt werden kann
von Mark Kortjan*
Auch beim Klima nehmen die Herrschenden nur Rücksicht auf die Profite, nicht auf das Leben der Bevölkerungsmehrheit. Mit massenhaften entschlossenen Regelübertretungen gelingt es dennoch, die Öffentlichkeit zu mobilisieren.
Im Sommer 2015 reisten viele tausend Menschen zur Aktion Ende Gelände ins Rheinische Braunkohlerevier, um zum erstenmal massenhaft einen Braunkohletagebau zu blockieren. In fünf Demonstrationszügen, sog. Fingern, hatten sie am Morgen das Klimacamp verlassen. Einer der Finger war bereits einige Stunden unterwegs und hatte es bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht geschafft, die Autobahn zu kreuzen, die den Demonstrationszug von seinem Blockadeziel, dem Tagebau Garzweiler, trennte.
An einer Unterführung tat sich dann schlussendlich eine Gelegenheit auf. Ein schnell zusammengezogener Trupp von etwa 30 behelmten Polizisten versuchte, den Durchgang zu versperren und die Masse zurückzudrängen. In der Demo wurde eng zusammengerückt und von hinten starker Druck aufgebaut. Die ersten Reihen wurden von den Polizist:innen mit Fäusten und Schlagstöcken traktiert und mit Pfefferspray eingedeckt. Die Übermacht war jedoch zu groß, die Polizeiketten konnten nicht standhalten. Die Polizist:innen stolperten nach hinten oder zur Seite weg. Nachdem die Polizeikette durchbrochen war, floss der gesamte Demozug durch die freigeräumte Unterführung.
Ende Gelände hatte sich für diese Aktion das Label «ziviler Ungehorsam» zu eigen gemacht. Von massenhaften Blockaden mit dem Körper, von konsequentem Vorgehen und dem notwendigen nächsten Schritt war im Vorfeld in der Außendarstellung die Rede. Aber ist eine Konfrontation wie die soeben beschriebene überhaupt mit dem Konzept des zivilen Ungehorsams zu fassen?
Die eine allgemeingültige Definition von zivilem Ungehorsam gibt es nicht. Jahrelang herrschte in der Öffentlichkeit eine bestimmte Vorstellung davon vor, was darunter zu verstehen sei. Das Trainer:innennetzwerk Skills for Action fasst dieses klassische Verständnis so zusammen: «Ziviler Ungehorsam wird verbunden mit einer gewaltfreien Grundhaltung, die Aktion des Zivilen Ungehorsams ist (meist) öffentlich angekündigt, wird moralisch-ethisch gerechtfertigt und appelliert an ein allgemeines Gerechtigkeitsgefühl. Vor der illegalen Aktion wurden alle legalen Handlungsmöglichkeiten ohne Erfolg angewendet, die Akteure stehen in der Öffentlichkeit und (nach der Aktion) vor Gericht für ihr Handeln ein und übernehmen die Verantwortung für die Folgen. Die Aktion dramatisiert einen konkreten Unrechtszustand, ohne das gesamte gesellschaftliche System in Frage stellen zu wollen.»
Ein neues Konzept
Ende Gelände brach gleich mit mehreren dieser Merkmale und reklamiert dennoch das Konzept ziviler Ungehorsam für sich. Dem vorausgegangen waren bereits viele linksradikale Kampagnen und Debatten, z.B. in der Anti-AKW-Bewegung, die hier Vorarbeit geleistet haben. Ziviler Ungehorsam wird also seit längerem von vielen unterschiedlichen Akteur:innen verschieden ausgelegt und gefüllt.
Masken, weiße Maleranzüge und Personalienverweigerung sind Ausdruck davon, dass Aktivist:innen von Ende Gelände bemüht sind, sich der Repression zu entziehen. Grundsätzlich wird einkalkuliert, dass voraussichtlich einige von Gerichtsverfahren betroffen sein werden, doch es wird versucht, deren Zahl so gering wie möglich zu halten. Wenn ein Gerichtsverfahren unvermeidlich ist, wird es meist genutzt, um weitere Öffentlichkeit für das Thema zu schaffen.
Das Reizwort «gewaltfrei» hat es von Anfang an nicht in den Aktionskonsens von Ende Gelände geschafft. Allerdings war es 2015 in dem Teil der radikalen Linken, aus dem Ende Gelände hervorgegangen ist, schon länger gang und gäbe, auf den Begriff «gewaltfrei» zu verzichten. Im Aktionskonsens vieler Kampagnen und Aktionen findet sich stattdessen die Umschreibung: «von uns geht keine Eskalation aus». Sie lässt mehr Handlungsspielraum offen, unter dem sich mehr Menschen zusammenfinden können.
Eine weitere Abweichung von der klassischen Definition des zivilen Ungehorsams stellt die Zielsetzung von Ende Gelände dar. Die Aktionen richten sich nicht ausschließlich gegen die Klimazerstörung durch die Braunkohle, sondern auch gegen die kapitalistisch zugerichtete Gesellschaft, die diese Zerstörung hervorbringt. Es wird ein konkretes Unrecht adressiert, doch der Anspruch, eine darüber hinausreichende Transformation anzustreben, wird trotzdem nicht aufgegeben.
Das Konzept von XR
Ein Akteur der Klimabewegung, der sich hingegen stark an der «klassischen» Auslegung des zivilen Ungehorsams orientiert, ist die 2018 aufgekommene Bewegung Xtinction Rebellion (XR). XR ist in Großbritannien entstanden und hat dann mit beeindruckender Geschwindigkeit in vielen Teilen der Welt Ableger gebildet. In Deutschland gelang es, viele, vormals kaum engagierte Personen einzubinden und für Regelübertritte gegen die Klimakrise zu begeistern.
Berühmt-berüchtigt in der Bewegung und gern gewählte Einstiegsanekdote für eine weiterreichende Kritik an XRs Verständnis von Gewaltfreiheit, ist eine Situation in Berlin. Bei einer Straßenblockade von XR wurde ein Polizist von einem Blockierer beleidigt. Einige der Anwesenden sahen dadurch den gewaltfreien Aktionskonsens so stark verletzt, dass sie dazu aufriefen, den Blockadepunkt aufzulösen. Diese Entscheidung blieb zwar nicht unhinterfragt, letztendlich fügten sich die Beteiligten allerdings und räumten freiwillig die Straße.
Was ziviler Ungehorsam darf und was nicht, ist aber auch bei XR ein ständiger Aushandlungsprozess. So wäre es in der Anfangsphase des Netzwerks wohl kaum möglich gewesen, dass, wie im vergangenen April in London geschehen, Aktivist:innen gezielt die Fenster einer Bank entglasen. Die Aktion richtete sich gegen die Investitionen der Großbank HSBC in fossile Projekte. Die XR-Sprecherin bezog sich dabei positiv auf die Suffragetten, die die Zerstörung von Eigentum als zentrale Aktionsform betrachteten. In XR-Manier geschah dies in Form einer öffentlichen Inszenierung und mit der unumstößlichen Bereitschaft, sich im Anschluss verhaften zu lassen.
Bei den Aktionen von Ende Gelände wird meistens versucht, sowohl effektiv fossile Infrastruktur zu blockieren als auch pressetaugliche Bilder zu liefern. Manchmal stehen beide Ansprüche in Konkurrenz zueinander.
Bei der zweiten Ende-Gelände-Aktion 2016 im Braunkohlerevier der Lausitz wurde diskutiert, ob es wichtiger ist, ein Kraftwerk von der Kohlezufuhr abzuschneiden, was bedeutet, dass die Blockade auf den Schienen der Kohlebahn stattfinden muss, oder möglichst spektakuläre Bilder von Menschenmassen im Tagebau und vor Kohlebaggern zu liefern. Letztendlich wurde Ende Gelände die Entscheidung abgenommen, da die Aktion an einem Wochenende stattfinden sollte. In der Lausitz rollt am Wochenende zwar die Kohlebahn, der Tagebau ist aber nicht in Betrieb.
Mit einer fast 48 Stunden andauernden Schienenblockade konnte erzwungen werden, dass ein Braunkohlekraftwerk starken gedrosselt wurde. Vom Blockadepunkt auf den Schienen war live zu beobachten, wie die Wasserdampfwolke des Kraftwerks kleiner und kleiner wurde und letztendlich vollständig verschwand.
*Mark Kortjan ist beim Trainer:innen-Netzwerk Skills for Action aktiv.