Interview mit Ainur Kurmanow; aus lefteast.org
Eine Vorzeigerepublik
Kasachstan ist eines der grössten postsowjetischen Länder. Im System politischer und wirtschaftlicher Beziehungen, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstanden ist, rangiert es nur noch hinter der Russischen Föderation selbst. Und das nicht nur, weil Nursultan Nasarbajew [Präsident Kasachstans von 1990 bis 2019, Red.] einer der Architekten der GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) war. Das kasachische Modell der reibungslosen Umwandlung der ehemaligen Partei- und Sowjet-Führungsriege in eine kapitalistische Oligarchie mit „asiatischem Gesicht“ wurde von vielen als Vorbild angesehen. In der Tat hatte dieses Modell nicht nur für die herrschenden Eliten in anderen Republiken, sondern auch für die Durchschnittsbürger:in, oberflächlich betrachtet, attraktive Merkmale: ein hohes wirtschaftliches Niveau, das Vorhandensein formaler demokratischer Merkmale sowie wenige Beschränkungen für kulturelle Einflüsse aus dem Westen. Grosse Reserven an natürlichen Ressourcen, einschliesslich Öl, und das aus der sozialistischen Zeit geerbte Industriepotenzial erwiesen sich als gute Ausgangsbasis für den jungen Staat. Gleichzeitig stellte die offizielle Propaganda der Russischen Föderation und der GUS-Kanäle Kasachstan gerne als Beispiel für die Bewahrung der „Unionstraditionen“, die Erinnerung an den Grossen Vaterländischen Krieg, die Abwesenheit von Nationalismus usw. dar.
Unmittelbar nach den Neujahrsferien, am 2. Januar 2022, brachen die Massenproteste aus. Der Grund für die Proteste war die Erhöhung des Preises für Flüssiggas für Autos von 60 Tenge auf 120 Tenge pro Liter [von 0,12 € auf 0,24 €, Red.]. Die ersten nicht genehmigten Demonstrationen begannen im Westen Kasachstans, in der Region Mangghystau, dem Kernland der grossen Ölförderunternehmen. Hier befindet sich das berüchtigte Schangaösen, wo vor zehn Jahren ein Arbeiter:innenstreik brutal niedergeschlagen wurde: In Schangaösenwurden 15 Streikende getötet und Hunderte verletzt.
Am nächsten Tag ‒ dem 3. Januar ‒ fügten die Demonstrant:innen in der Provinz Mangghystau ihren ursprünglichen Forderungen neue soziale und politische Punkte hinzu: Senkung der Lebensmittelpreise, Massnahmen gegen die Arbeitslosigkeit, Lösung des Problems der Trinkwasserknappheit sowie der Rücktritt der Regierung und der lokalen Behörden. An diesem Tag begannen die Demonstrant:innen auch, sich auf den Plätzen und Strassen von Almaty, der Hauptstadt Nur-Sultan und anderen Städten zu versammeln. In einer Reihe von Orten wurden Strassen blockiert, die Demonstrationen lösten sich auch in der Nacht nicht auf.
Am Dienstag, den 4. Januar, kam es zu Zusammenstössen zwischen Demonstrant:innen und der Polizei. In Alma-Ata setzten die Sicherheitskräfte Blendgranaten ein, um die Demonstrierenden zu vertreiben. Im Gegenzug warfen die Demonstrant:innen Polizeiautos um. Am Abend desselben Tages funktionierten das mobile Internet, Messenger und soziale Netzwerke nicht mehr.
Die kasachischen Behörden versuchten, die Gaspreiserhöhung damit zu erklären, dass der Preis nun durch elektronische Ausschreibungen ermittelt werde. Wie sie sagen, „der Markt hat entschieden“. Die Verwaltung der Region Mangghystau erklärte nachdrücklich, dass sich alles im Rahmen der modernen Marktwirtschaft bewege und der vorherige Preis nicht wieder eingeführt würde.
Doch am 4. Januar sah sich die Regierung unter dem Druck der Demonstrationen gezwungen, den Gaspreis im Gebiet Mangghystau auf 50 Tenge pro Liter zu senken. Der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew erklärte, die übrigen Forderungen der Bevölkerung würden gesondert geprüft. Am 5. Januar wurde dann das derzeitige Ministerkabinett entlassen. Der Direktor der Gasverarbeitungsanlage in Schangaösen wurde verhaftet.
Region der totalen Armut
Der Co-Vorsitzende der Sozialistischen Bewegung Kasachstans, Ainur Kurmanow, beschreibt die Situation folgendermassen:
«Die Arbeiter:innen in Schangaösen waren die ersten, die sich erhoben haben. Die Erhöhung des Gaspreises diente nur als Auslöser für die Proteste der Bevölkerung. Schliesslich hat sich der Berg sozialer Probleme schon seit Jahren aufgestaut. Im vergangenen Herbst wurde Kasachstan von einer Inflationswelle heimgesucht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in der Region Mangghystau viele Produkte importiert werden und dadurch dort schon immer 2-3 mal teurer sind als anderswo. Aber auf der Welle steigender Preise Ende 2021 stiegen die Kosten für Lebensmittel noch stärker, und zwar erheblich. Man muss auch bedenken, dass der Westen des Landes eine Region mit hoher Arbeitslosigkeit ist. Im Zuge der neoliberalen Reformen und der Privatisierung wurden dort die meisten Unternehmen geschlossen. Der einzige Sektor, der hier noch arbeitet, sind die Firmen, die Öl fördern. Sie befinden sich jedoch grösstenteils im Besitz von ausländischem Kapital. Bis zu 70 Prozent des kasachischen Öls werden in westliche Märkte exportiert, und auch der grösste Teil der Gewinne geht an ausländische Eigentümer.
In die Entwicklung der Region wird praktisch nicht investiert: Sie ist ein Gebiet der totalen Armut und des Elends. Und im vergangenen Jahr begannen diese Unternehmen mit einer gross angelegten Rationalisierung. Arbeitsplätze wurden gestrichen, die Arbeiter:innen verloren ihre Gehälter und Prämien, viele Unternehmen haben sich in reine Dienstleistungsunternehmen verwandelt. Als das Unternehmen Tengiz Oil in der Region Atyrau 40.000 Arbeiter:innen auf einmal entliess, war das ein echter Schock für ganz Westkasachstan. Der Staat tat nichts, um solche Massenentlassungen zu verhindern. Und man muss wissen, dass ein Ölarbeiter 5-10 Familienmitglieder ernährt. Die Entlassung eines Arbeiters verdammt automatisch die ganze Familie zum Hungertod. Es gibt hier keine anderen Arbeitsplätze als die im Ölsektor und in den Sektoren, die von ihm abhängig sind.
Kasachstan hat ein rohstoffbasiertes Kapitalismusmodell aufgebaut. Der Bevölkerung wurde eine Menge sozialer Probleme aufgebürdet, es gibt eine enorme soziale Schichtung. Die „Mittelschicht“ ist ruiniert, die Realwirtschaft ist zerstört. Die ungleiche Verteilung des Sozialprodukts hat eine erhebliche Korruptionskomponente. Die neoliberalen Reformen haben das soziale Auffangnetz fast völlig beseitigt. Wahrscheinlich haben die Eigentümer:innen der transnationalen Konzerne so gerechnet: 5 Millionen Menschen werden für das Betreiben der „Pipeline“ benötigt; die gesamten 18+ Millionen der kasachischen Bevölkerung sind allerdings zu viel. Das ist auch der Grund, warum diese Revolte in vielerlei Hinsicht ein antikoloniale ist. Die Ursachen für die aktuellen Proteste liegen in der Funktionsweise des Kapitalismus begründet: Der Preis für Flüssiggas ist im elektronischen Handel wirklich gestiegen. Es gab eine Verschwörung der Monopolist:innen, die vom Gasexport ins Ausland profitierten. Das führte zu einer Verknappung des Gases und einem Anstieg der Gaspreise auf dem heimischen Markt. Sie haben die Unruhen also selbst provoziert. Es ist jedoch anzumerken, dass sich die derzeitige soziale Explosion gegen die gesamte Politik der kapitalistischen Reformen der letzten 30 Jahre und deren zerstörerische Ergebnisse richtet.»
Traditionen des Arbeiter:innenkampfes: Spontaner Streik
Die Form des Protests war zunächst ein klassischer „proletarischer“ Streik. In der Nacht vom 3. auf den 4. Januar begann ein wilder Streik in den Betrieben von Tengiz Oil. Bald griff der Streik auf benachbarte Regionen über. Heute hat die Streikbewegung zwei Zentren ‒ Schangaösen und Aktau.
Verschwörungstheoretiker:innen behaupten nun, die Unruhen in Kasachstan seien im Westen sorgfältig vorbereitet worden. Dies zeige sich in der sorgfältigen Organisation und Koordination der Demonstrierenden. In Kurmanows Worten:
«Es handelt sich nicht um einen Maidan, auch wenn viele politische Analytiker:innen versuchen, dies so darzustellen. Woher kommt diese erstaunliche Selbstorganisation? Sie kommt von der Erfahrung und der Tradition der Arbeiter:innen. Seit 2008 wird die Region Mangghystau von Streiks erschüttert, die Streikbewegung begann allerdings bereits in den 2000er Jahren. Auch ohne jeglichen Beitrag der Kommunistischen Partei oder anderer linker Gruppen gab es ständig Forderungen nach einer Verstaatlichung der Ölgesellschaften. Die Arbeiter:innen sahen einfach mit eigenen Augen, wohin Privatisierung und ausländische kapitalistische Übernahme führen. Im Laufe dieser früheren Demonstrationen sammelten sie enorme Erfahrungen im Kampf und in der Solidarität. Schon das Leben in der Wildnis liess die Menschen zusammenhalten. Vor diesem Hintergrund kamen die Arbeiterklasse und der Rest der Bevölkerung zusammen. Die Proteste der Arbeiter in Schangaösen und Aktau gaben dann den Ton für andere Regionen des Landes an. Die Jurten und Zelte, die die Demonstrant:innen auf den Hauptplätzen der Städte aufzustellen begannen, waren keineswegs den Erfahrungen des „Euromaidan“ entnommen: Sie sind in der Region Mangghystau bereits während der lokalen Streiks im vergangenen Jahr aufgestellt worden. Die Bevölkerung selbst hat Wasser und Lebensmittel für die Demonstranten mitgebracht.
In Kasachstan gibt es heute keine legale Opposition mehr, das gesamte politische Feld ist geräumt. Die Kommunistische Partei Kasachstans ist 2015 als letzte aufgelöst worden. Nur sieben regierungsnahe Parteien blieben übrig. Es gibt jedoch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen im Land, die aktiv mit den Behörden zusammenarbeiten, um eine prowestliche Agenda zu fördern. Ihre Lieblingsthemen: die Hungersnot der 1930er Jahre, die Rehabilitierung von Teilnehmern der Basmatschi-Bewegung [nationalistische Bewegung in Zentralasienvon 1916 bis Mitte der 1920er Jahre, Red.] und Kollaborateuren des Zweiten Weltkriegs usw. Die NGOs arbeiten gegenwärtig auch an der Entwicklung der nationalistischen Bewegung, die in Kasachstan durchweg regierungsfreundlich ist. Nationalisten halten Kundgebungen gegen China und Russland ab, die von den Behörden gebilligt werden.»
Unserem Gesprächspartner zufolge sind auch die unheilvollen Islamisten, die angeblich hinter den jüngsten Ereignissen stecken, in Kasachstan äusserst schwach und schlecht organisiert. Wie er uns versicherte, ist das moderne Kasachstan dem Aufbau eines monoethnischen Staates verpflichtet, der Nationalismus ist seine offizielle Ideologie. Alle Berichte über ein „prosowjetisches“ Kasachstan hingegen, wie sie etwa der Fernsehsender Mir verbreitet, sind ein Mythos:
«Bereits 2017 wurde in Kysyl-Orda ein Denkmal für Mustafa Schokai, den Inspirator der Turkestanischen Legion der Wehrmacht [eine Einheit aus anti-sowjetisch eingestellten Kriegsgefangenen 1941, Red.], errichtet. Heute ist der Staat dabei, die Geschichte radikal zu revidieren. Dieser Prozess hat sich insbesondere nach dem Besuch von Nursultan Nasarbajew in den USA vor einigen Jahren intensiviert. Auch die pan-türkische Bewegung wird immer aktiver. In jüngster Zeit wurde auf Initiative von Nursultan Nasarbajew am 12. November 2021 in Istanbul die Union der Türkischen Staaten gegründet. Die kasachische Elite hält ihr Hauptvermögen im Westen. Deshalb haben die imperialistischen Staaten absolut kein Interesse am Sturz des gegenwärtigen Regimes; es ist bereits ganz auf ihrer Seite.»
Aber vielleicht ist bei den geopolitischen Prioritäten Kasachstans nicht alles so eindeutig? Es scheint, dass die kasachische Führung trotzdem dazu neigt, eine mehrgleisige Politik zu betreiben und zwischen Russland, dem Westen, China und der Türkei zu manövrieren. Eine Bedingung kommt allerdings allen ausländischen Partnern hier entgegen: Die lokale „loyale“ Gesetzgebung erlaubt es ausländischen Unternehmen, die Gewinne aus dem Land zu bringen. Wenn möglich, wird jedoch keiner der Global Player davor zurückschrecken, die Regierung in eine noch gehorsamere zu verwandeln. Und natürlich wird die liberale Opposition versuchen, die Massenprotestbewegung unter ihre Kontrolle zu bringen, daran arbeitet sie bereits.
«Der Rücktritt Nasarbajews vom Amt des Präsidenten, um den Sicherheitsrat zu leiten, war von dem Wunsch motiviert, den Anschein von Demokratie zu erwecken ‒ auch gegenüber dem Westen. In Wirklichkeit behält er die volle Kontrolle über alle Machtbereiche und hat seine Macht nur noch vergrössert, während er sich gleichzeitig völlig aus der Verantwortung ziehen kann. Präsident Tokajew ist eine dekorative Figur, ein Spielball innerhalb der Herrscherfamilie. Zweifellos können die derzeitigen Proteste dazu führen, dass einige Fraktionen einen Palastputsch oder ähnliche Aktionen versuchen. Man kann diese Option nicht auf eine Verschwörungstheorie reduzieren. Man sollte gleichzeitig auch die aktuelle Protestbewegung nicht idealisieren. Ja, es handelt sich um eine soziale Basisbewegung mit einer Vorreiterrolle der Arbeiter:innen, die von Arbeitslosen und anderen gesellschaftlichen Gruppen unterstützt wird. Aber in ihr sind ganz unterschiedliche Kräfte am Werk, zumal die Arbeiter:innen keine eigene Partei, keine Klassengewerkschaften, kein klares Programm haben, das ihren Interessen voll entspricht. Die bestehenden linken Gruppen in Kasachstan sind eher Zirkel und können den Lauf der Dinge nicht ernsthaft beeinflussen. Oligarchische und äussere Kräfte werden versuchen, sich diese Bewegung anzueignen oder sie zumindest für ihre Zwecke zu nutzen. Sollte sie gewinnen, werden die Umverteilung des Eigentums und die offene Konfrontation zwischen verschiedenen Gruppen der Bourgeoisie, ein „Krieg aller gegen alle“, beginnen. Aber in jedem Fall werden die Arbeiter:innen gewisse Freiheiten gewinnen und neue Möglichkeiten erhalten, darunter die Gründung eigener Parteien und unabhängiger Gewerkschaften, was ihren Kampf für ihre Rechte in Zukunft erleichtern wird.»
Kasachstans Streitkräfte versuchen, den Demonstrierenden entgegenzutreten
Nach der Veröffentlichung dieses Artikels wurde bekannt, dass es in Almaty und einigen anderen Städten zu schweren Zusammenstössen gekommen ist und die Demonstrant:innen viele wichtige Infrastrukturgebäude in Almaty und anderen Städten in ihre Gewalt gebracht haben. Unter dem Druck der Proteste machte Präsident Tokajew beispiellose soziale Zugeständnisse ‒ er versprach eine staatliche Regulierung von Gas, Benzin und sozial wichtigen Gütern, ein Moratorium für die Erhöhung von Stromrechnungen, subventionierte Mieten für Wohnungen für die Armen und die Einrichtung eines öffentlichen Fonds zur Unterstützung der Gesundheitsversorgung sowie von Kindern. Die Demonstrant:innen forderten auch die Rückkehr zur Verfassung von 1993 und eine Regierung, die sich aus Personen zusammensetzt, die nicht dem System angehören. Und sie fordern nach wie vor niedrigere Lebensmittelpreise und eine Senkung des Rentenalters auf 58-60 Jahre sowie höhere Löhne, Renten, Kindergeld und so weiter.
Die Aktivist:innen der liberalen Opposition beeilten sich zu erklären, dass sie die Bewegung koordinieren.
Am Abend des 5. Januar wurde bekannt, dass Nursultan Nasarbajew nicht mehr Vorsitzender des Sicherheitsrats (SB) ist. Präsident Tokajew nahm seinen Platz ein und erklärte, er wolle „so hart wie möglich“ vorgehen. Zugleich wurde versprochen, dass bald „konsequente politische Reformen“ durchgeführt würden.
Später an diesem Tag forderte Tokajew einen „friedenserhaltenden“ (in Wirklichkeit polizeilichen) Einsatz der Länder der OVKS [Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, 2002 gebildetes Militärbündnis, Red.] (Russland, Weissrussland, Armenien, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan) zur Niederschlagung der Proteste, die von der kasachischen Führung nun als Versuch einer Intervention von aussen bezeichnet wurden. Am Morgen des 6. Januar hatte der OVKS-Rat dem Ersuchen zugestimmt, und es gibt bereits Berichte über russische Truppen in Kasachstan.
Der folgende Text wurde zuerst auf Zanovo-media auf Russisch veröffentlicht.
Die deutsche Übersetzung erschien am 8.1.2022 auf: https://sozialismus.ch/international/2022/kasachstan-farbrevolution-oder-aufstand-der-arbeiterinnenklasse/