von Dieter Braeg

Vor 35 Jahren, am 29. September 1986, starb in Wien Helmut Qualtinger. Ihn verband mit Wien eine Hassliebe, denn er hielt nichts von der Unterwürfigkeit der Wiener. Das Aufbegehren gegen Autoritäten zog sich durch sein ganzes Leben und immer hatte er einen besonders kritischen Blick auf die Mächtigen. Die Wiener Gemütlichkeit, mit der man versuchte, ihn zu umschmeicheln, war ihm zuwider.

Zu Lebzeiten hatte man einen Namen für ihn, er war der «Herr Karl», vor allem ab dem 15.11.1961, denn da wurde der «Herr Karl» (geschrieben von Carl Merz und Helmut Qualtinger) in der Inszenierung von Erich Neuberg im österreichischen Fernsehen uraufgeführt. Mit dem «Herrn Karl» zeigte er die Opportunisten und die Mittäter während der Nazizeit, die das Kriegsende 1945 nicht als Befreiung ansahen, sondern den «Zusammenbruch» betrauerten.

Nicht nur in Österreich trug ihm diese Durchschnittsbürgerentlarvung viele Feinde und Morddrohungen ein. «Herr Karl» war und ist eine Schreckensfigur, damals wie heute. Qualtinger selbst hat mit dieser Figur einmal mehr provoziert. Er thematisierte in diesem einstündigen Monolog den Opportunismus und Antisemitismus der Wienerinnen und Wiener.

Damals wurde im Theater am Kärntnertor, eine Kleinbühne, mit Worten, Klang, Gebärden und Inhalten Zündstoff jener Art geboten, den es nur in Wien geben kann. Da ging es gegen geistige Trägheit und Barbarei, gegen Korruption und Dummheit, gegen jene Sünden wider den Geist, die, solange es Menschen gibt, als giftiger Schimmel durch alle Ritzen dringen.

Qualtinger war damals notwendig für Österreich – und heute wäre er es noch mehr, um jenen Politikerinnen und Politikern die Meinung zu geigen, die zu Handaufhaltern und Meinungsverfälscherinnen wurden.
Wien war damals Provinz, in den 60er Jahren gab es keine Bewegung, damals regierte die ÖVP Österreich ganz allein. André Heller, der Qualtingers Freund war, sagte: «Damals haben sich die Langhaarigen auf der Straße noch gegenseitig angestarrt, weil sie’s so unglaublich fanden, dass in dieser Stadt mehrere von ihnen existierten.»

Qualtinger war Sprechsteller, und wer ihn im kurzen Fernsehfilm Die Zukunft Österreichs (der auch im Internet zu sehen ist) gesehen und gehört hat, wie er in viele unterschiedliche Rollen schlüpft, der hat große Schauspielkunst erlebt.

Es gibt über 200 Sprech- und Gesangsschallplatten von ihm. Wie er Die letzten Tage der Menschheit gelesen hat, das wird allen Ansprüchen gerecht, die Karl Kraus, Autor dieses wohl großartigsten Antikriegsdramas und selbst ein großer Vortragender, gefordert hat.

Anlässlich des 40.Jahrestags von Hitlers Machtübernahme, also 1973, las er im Hamburger Thalia-Theater Texte aus Mein Kampf. Damit ging er auch wiederholt auf Lesereise, unter anderem 1985 durch Österreich. Von der Wiener Lesung am 8. Mai 1985, dem 40. Jahrestag des Kriegsendes, gibt es eine DVD: An einem kleinen Tisch sitzt Qualtinger liest wortgewaltig, was da zu hören ist, entlarvt dieses Verbrecherbuch, da bedarf es keines weiteren Kommentars.

Qualtinger war auch Aktionist, z.B. am 3. Juli 1951, als die Mitarbeiter:innen verschiedener Zeitungsredaktionen am Wiener Westbahnhof warteten, um den großen Eskimodichter und Literaturnobelpreisträger Kobuk («Brennende Arktis und Kocholz») gebührend zu empfangen. Qualtinger, gekleidet in einen Pelzmantel, stieg aus dem Zug und stellte in schönstem Dialekt fest: «Haaß is.»

Beim Begräbnis von Helmut Qualtinger auf dem Wiener Zentralfriedhof hielt der Schriftsteller Peter Turrini die Trauerrede. Hier ein Auszug:

«In den Kommentaren zu Qualtingers Tod steht immer wieder: ‹Er wird uns unvergesslich bleiben.› Das ist ein Satz wie ein Grab, in dem schon mehr verschwunden ist als ein Mensch. Was soll uns unvergesslich, also lebendig bleiben? Jenes lieb gewordene Bild vom ‹Quasi›, an dem sich nun jeder bis zur absoluten Beliebigkeit bedienen kann, oder die Sätze des Schriftstellers Helmut Qualtinger, die treffen, ja verletzen wollen? Helmut Qualtinger ist tot und das ist mehr als traurig. Wenn wir den Schriftsteller Helmut Qualtinger wirklich leben lassen wollen, dann müssen wir endlich auf- und annehmen, wovon dieser Schriftsteller redet: das ganze Ausmaß jener politischen und menschlichen Schweinerei, die unter uns lebt und vielleicht auch in uns lebt. Ich wünsche Ihnen und mir die Bereitschaft dazu.»