Der Angriff palästinensischer Milizen aus dem Gazastreifen am 7. Oktober stellt für Palästinenser:innen wie Israelis einen markanten Einschnitt dar, wird aber völlig unterschiedlich erlebt.

Von Birgit Althaler

Viele Palästinenser*innen sehen sich unabhängig von Religion oder politischer Überzeugung als Teil des Kollektivs, das zu einem mutigen Befreiungsschlag aus Isolation und Perspektivlosigkeit ausgeholt hat. Gaza stand bereits vor dem Überfall für die Kontinuität der Nakba, ein jahrzehntelanges Trauma und für einen von der Weltöffentlichkeit unbeachteten schleichenden Genozid. Die Reaktion Israels bestärkt sie darin, jenem Volk anzugehören, das mit allen Mitteln vertrieben und seiner legitimen Rechte beraubt wird. Einem Volk, das in vielen westlichen Ländern auf taube Ohren, wenn nicht Feindseligkeit und Repression stößt, wenn es die eigene Unrechtserfahrung zur Sprache bringt, wie die Kulturwissenschaftlerin Sarah El Bulbeisi in einem Gastkommentar der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) schreibt.

Die Israelis wurden vom Überfall völlig unvorbereitet getroffen und an eigene Traumata aus der jüdischen Geschichte erinnert. Der Angriff zerstörte die Illusion, dank militärischer Überlegenheit und Duldung der Staatengemeinschaft ein koloniales Unrechtsregimes aufrechterhalten und sich trotzdem in relativer Sicherheit wiegen zu können. Bezeichnenderweise war in Israel die Realität der Besatzung letztes Jahr in den Protesten gegen die Aushebelung einer unabhängigen Justiz kaum ein Thema. Doch wie die für die Rückkehr der Flüchtlinge eintretende NGO Zochrot treffend schreibt, ist niemand sicher, solange nicht alle sicher sind. „Die Sicherheit der Israelis kann nicht von der Unterdrückung und Enteignung der Palästinenser*innen abhängen.“

Neben Betroffenheit und Trauer über die Toten, Verletzten, Verschleppten, Flüchtenden, um ihr Überleben Kämpfenden setzte unmittelbar ein Ringen um die politische und moralische Einordnung der Ereignisse an. Wer verurteilt wen? Wer gibt wem die Schuld? Was genau ist vorgefallen? Wo liegt Versagen, wo Kalkül vor? Welcher Druck, welche Solidarität sind gefordert?

Allein die Einbettung der Ereignisse in den historischen Kontext wurde anfänglich, allen voran von zionistischen Linken, als verwerflich skandalisiert. Viele Palästinenser*innen beklagen zudem den entwürdigenden Umstand, dass sie ungeachtet ihrer eigenen Verluste jeweils zuerst israelische Opfer betrauern und sich von der Hamas distanzieren müssen, bevor sie als legitime Gesprächspartner*innen akzeptiert werden. Der Vorwurf mangelnder Empathie mit jüdischen Opfern wurde zum politischen Druckmittel. Das Insistieren auf der angeblich „beispiellosen“ Brutalität palästinensischer Milizen reiht sich ein in die palästinensische Erfahrung von Dehumanisierung und Entrechtung. Der Historiker Ilan Pappé weist darauf hin, dass selbst von sogenannt progressiven Kreisen eine Sprache verwendet wird, die „Israel immunisiert und nicht zulässt, dass der palästinensische antikoloniale Kampf gerechtfertigt, akzeptiert und legitimiert wird“. Umso wichtiger sei es, die Ereignisse in die Praxis zionistischer Politik der Eliminierung der Palästinenser*innen einzuordnen.

Unbestrittenermaßen war der Überfall von Gewalt und Völkerrechtsverletzungen begleitet. Palästinensische NGOs wie Adalah und antizionistische Solidaritätsgruppen weltweit haben dies verurteilt und doch den Kontext jahrzehntelanger Unterdrückung und das Recht auf Widerstand benannt. Die Frage angemessener „Verurteilung“ insbesondere der Hamas wird aber eingesetzt, um den Palästinenser*innen das Recht auf Selbstbestimmung, aktives Handeln und Widerstand gegen Apartheid und Besatzung – auch mit gewaltfreien Mitteln – abzusprechen. Dieses Vorgehen kritisiert die Gruppe Jüdisch Antikolonial und sieht darin die Behauptung gestützt, „dass der Hauptgrund für mit Palästina solidarische Positionen nicht linke Visionen und der Wunsch nach Gerechtigkeit und Freiheit, sondern Islamismus oder Antisemitismus seien“.

Eine der wertvollen Stimmen der ersten Tage war der Traumaforscher Gabor Maté, der als Kind selbst Verfolgung erfahren hat. Auch er verurteilt die Gewalt palästinensischer Milizen gegen Zivilpersonen, betont aber ebenso klar die Unvergleichbarkeit der Machtverhältnisse, der Gewalterfahrungen und damit der Verantwortung zwischen israelischer und palästinensischer Seite. Emotionen wie Trauer, Wut, Angst, Entsetzen Raum zu geben, sei wichtig, rechtfertige aber nicht unreguliertes Sprechen und Handeln. Essenziell für eine Friedensvision sei die Bereitschaft, die Erfahrungen der andren Seite zu verstehen. In Momenten, wo das Gefühl dominiert, unverstanden oder bedroht zu sein, ist dies eine schwierige Aufgabe. Von dieser Fähigkeit zeugt die israelische Journalistin Amira Hass, die im Gazastreifen viele Gräueltaten der israelischen Armee dokumentiert hat. In einer Podiumsdiskussion Mitte Oktober bekennt sie, dass das Schweigen palästinensischer Freunde zu den israelischen Opfern sie schmerze. Es lehre sie aber auch, so sehr sie die palästinensische Gesellschaft kenne, das enorme Ausmaß ihrer Unterdrückung unterschätzt oder nicht erfasst zu haben.

Bleibt das Thema Gewalt. Das Völkerrecht legitimiert Widerstand gegen eine Besatzungsmacht auch mit Waffengewalt, schreibt aber zwingend die Unterscheidung von Zivilpersonen und Kombattant*innen vor. Damit ist noch nichts über Sinnhaftigkeit und Moralität des bewaffneten Kampfs gesagt. Der Politologe Gilbert Achcar unterstreicht die Bedeutung moralischer Überlegenheit, die Unterdrückte im Kampf gegen ihrer Unterdrücker*innen geltend machen können. David Finkel warnt davor, den Angriff als Fortschritt für den Widerstand und den Befreiungskampf zu interpretieren: „Die Anerkennung des Grundrechts unterdrückter Völker auf Widerstand, auch mit Waffen, entbindet nicht von der Verantwortung, die Methoden und die Politik der Kräfte zu analysieren, die in ihrem Namen handeln.“ Der Journalist Ali Abunimah betont dagegen 2021 in einem Artikel zur Gewalt palästinensischer Widerstandsgruppen, es gebe keine moralische Gleichwertigkeit zwischen einem kolonisierten Volk, das mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln sein anerkanntes Recht auf Widerstand ausübt, und […] Israel, das seine ausgefeilte Rüstungstechnologie einsetze, um die palästinensische Bevölkerung zu terrorisieren und zu unterwerfen. Er zitiert aus Nelson Mandelas Der lange Weg zur Freiheit: „Es ist immer der Unterdrücker, nicht der Unterdrückte, der die Form des Kampfes diktiert. Wenn der Unterdrücker Gewalt anwendet, haben die Unterdrückten keine andere Möglichkeit, als mit Gewalt zu antworten. In unserem Fall war es eine legitime Form der Selbstverteidigung. … Es liegt an euch, nicht an uns, auf Gewalt zu verzichten.“

Priorität gegenüber all diesen Erwägungen, die nicht den Anspruch haben, abschließend zu sein, hat aktuell jedenfalls die Durchsetzung eines sofortigen dauerhaften Waffenstillstands, um das laufende Gemetzel und Zerstörungswerk im Gazastreifen zu stoppen. Die Bedingungen für ein freies Palästina sind längerfristig auszuhandeln. Für fortschrittliche Kräfte beinhaltet das zweifellos die Vision einer säkularen, gleichberechtigten, gemischt ethnisch-religiösen Gesellschaft, wie sie das Denken der palästinensischen Befreiungsbewegungen über Jahrzehnte geprägt hat.

 

aus: Palästina-Info Winter 2023/2024

 

Online unter: https://www.inprekorr.de/630-pal-ba.htm

 

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Aus: die internationale Nr. 3/2024

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