Von Yanis Varoufakis (Pressekonferenz am 13. April 2024)
Heute wurde Yanis Varoufakis nicht nur der Besuch in Deutschland untersagt, sondern auch die Teilnahme an Videokonferenzen über Politik, die in Deutschland stattfinden. Hier ist sein Plädoyer für Menschlichkeit und Gerechtigkeit in Palästina, das ihm das Verbot einbrachte.
Heute hat das deutsche Innenministerium ein „Betätigungsverbot“ gegen mich verhängt, ein Verbot jeglicher politischer Aktivität – nicht nur ein Verbot, nach Deutschland zu reisen, sondern auch an Zoom-Veranstaltungen im Land teilzunehmen. Ich darf nicht einmal ein aufgenommenes Video von mir bei deutschen Veranstaltungen abspielen lassen.
Der Ärger begann gestern, als die deutsche Polizei in einen Berliner Veranstaltungsort eindrang, um unseren Palästina-Kongress aufzulösen, der von der Democracy in Europe Movement 2025 (DiEM25) ausgerichtet wurde. Beurteilen Sie selbst, zu was für einer Gesellschaft Deutschland wird, wenn seine Polizei die nachstehenden Äußerungen verbietet.
Herzlichen Glückwunsch und herzlichen Dank, dass Sie hier sind – trotz der Drohungen, trotz der waffenstarrenden Polizei vor dem Veranstaltungsort, trotz des Aufgebots der deutschen Presse, trotz des deutschen Staates, trotz des deutschen politischen Systems, das Sie verteufelt, weil Sie hier sind.
„Warum ein palästinensischer Kongress, Herr Varoufakis?“, fragte mich kürzlich ein deutscher Journalist. Weil, wie Hanan Ashrawi einmal sagte, „wir uns nicht darauf verlassen können, dass die zum Schweigen Gebrachten uns von ihrem Leid berichten“. Heute hat sich Ashrawis Grund auf bedrückende Weise verstärkt, denn wir können uns nicht darauf verlassen, dass die zum Schweigen Gebrachten, die ebenfalls massakriert werden und hungern, uns von den Massakern und dem Hunger berichten.
Aber es gibt noch einen anderen Grund: weil eine stolze, anständige Bevölkerung, die Bevölkerung in Deutschland, auf einen gefährlichen Weg in eine herzlose Gesellschaft geführt wird, indem es mit einem weiteren Völkermord in Verbindung gebracht wird, der in seinem Namen und mit seiner Komplizenschaft begangen wurde.
Ich bin weder Jude noch Palästinenser. Aber ich bin unglaublich stolz darauf, hier unter Jüd*innen und Palästinenser*innen zu sein – meine Stimme für Frieden und universelle Menschenrechte mit den jüdischen Stimmen für Frieden und universelle Menschenrechte und den palästinensischen Stimmen für Frieden und universelle Menschenrechte zu vereinen. Dass wir heute hier zusammen sind, ist ein Beweis dafür, dass Koexistenz nicht nur möglich ist, sondern dass es sie bereits gibt.
„Warum nicht ein jüdischer Kongress, Herr Varoufakis?“, fragte mich derselbe deutsche Journalist, der sich einbildete, er sei schlau. Ich habe seine Frage begrüßt.
Denn wenn auch nur ein einziger Jude irgendwo bedroht wird, nur weil er oder sie Jude ist, werde ich den Davidstern an meinem Revers tragen und meine Solidarität anbieten – koste es, was es wolle.

„Universelle Menschenrechte sind entweder universell oder sie bedeuten nichts.“

Um es klar zu sagen: Wenn irgendwo auf der Welt Jüd*innen angegriffen würden, wäre ich der Erste, der sich für einen jüdischen Kongress einsetzen würde, um unsere Solidarität zu bekunden.
Ebenso werde ich, wenn Palästinenser*innen massakriert werden, weil sie Palästinenser*innen sind – nach dem Dogma, dass sie bei der Hamas gewesen sein müssen, um tot und palästinensisch zu sein – meine Keffiyeh tragen und meine Solidarität anbieten, koste es, was es wolle. Universelle Menschenrechte sind entweder universell oder sie bedeuten nichts.
In diesem Sinne habe ich die Frage des deutschen Journalisten mit ein paar eigenen Fragen beantwortet:
  • Werden zwei Millionen israelische Jüd*innen, die vor achtzig Jahren aus ihren Häusern in ein Freiluftgefängnis geworfen wurden, immer noch in diesem Freiluftgefängnis gehalten, ohne Zugang zur Außenwelt, mit minimaler Nahrung und Wasser, ohne Chance auf ein normales Leben oder die Möglichkeit, irgendwohin zu reisen, während sie in diesen achtzig Jahren regelmäßig bombardiert werden? Nein.
  • Werden israelische Jüd*innen absichtlich von einer Besatzungsarmee ausgehungert, winden sich ihre Kinder winden auf dem Boden und schreien vor Hunger? Nein.
  • Kriechen Tausende von verletzten jüdischen Kindern ohne überlebende Eltern durch die Trümmer ihrer ehemaligen Häuser? Nein.
  • Werden die israelischen Jüd*innen von den modernsten Flugzeugen und Bomben der Welt bombardiert? Nein.
  • Erleben die israelischen Jüd*innen einen völligen Ökozid an dem wenigen Land, das sie noch ihr Eigen nennen können, ohne einen einzigen Baum, unter dem sie Schatten suchen oder dessen Früchte sie kosten können? Nein.
  • Werden israelisch-jüdische Kinder heute auf Befehl eines Mitgliedstaates der Vereinten Nationen (UN) von Scharfschütz*innen getötet? Nein.
  • Werden israelische Jüd*innen heute von bewaffneten Banden aus ihren Häusern vertrieben? Nein.
  • Kämpft Israel heute um seine Existenz? Nein.
Wenn die Antwort auf eine dieser Fragen ja wäre, würde ich heute an einem jüdischen Solidaritätskongress teilnehmen.
Wir hätten heute gerne eine vernünftige, demokratische, von gegenseitigem Respekt geprägte Debatte darüber geführt, wie wir allen – Jüd*innen und Palästinenser*innen, Beduin*innen und Christ*innen – vom Jordan bis zum Mittelmeer Frieden und universelle Menschenrechte bringen können, mit Menschen, die anders denken als wir.
Leider hat das gesamte deutsche politische System beschlossen, dies nicht zuzulassen. In einer gemeinsamen Erklärung, an der nicht nur die CDU-CSU und die FDP, sondern auch die SPD, die Grünen und bemerkenswerterweise auch zwei führende Vertreter der Partei Die Linke beteiligt waren, hat sich das gesamte politische Spektrum Deutschlands zusammengeschlossen, um sicherzustellen, dass eine solche kultivierte Debatte, in der man durchaus unterschiedlicher Meinung sein kann, in Deutschland niemals stattfinden wird.
Ich sage ihnen: Ihr wollt uns zum Schweigen bringen, uns verbieten, uns dämonisieren, uns anklagen. Deshalb lasst ihr uns keine andere Wahl, als euren lächerlichen Anschuldigungen mit unseren eigenen rationalen Argumenten zu begegnen. Ihr habt das so entschieden, nicht wir.
Sie beschuldigen uns des antisemitischen Hasses. Wir beschuldigen Sie, der beste Freund des Antisemitismus zu sein, indem Sie das Recht Israels, Kriegsverbrechen zu begehen, mit dem Recht der israelischen Jüd*innen, sich zu verteidigen, gleichsetzen.
Sie beschuldigen uns, den Terrorismus zu unterstützen. Wir beschuldigen Sie, den legitimen Widerstand gegen einen Apartheidstaat mit Gräueltaten gegen Zivilisten gleichzusetzen, die ich immer verurteilt habe und immer verurteilen werde, egal wer sie begeht – Palästinenser*innen, jüdische Siedler*innen, meine eigene Familie, wer auch immer. Wir werfen Ihnen vor, dass Sie die Pflicht der Bevölkerung von Gaza nicht anerkennen, die Mauer des Freiluft-Gefängnisses einzureißen, in dem es seit achtzig Jahren eingeschlossen ist – und dass Sie diesen Akt des Einreißens der Mauer der Schande, die ebenso wenig zu verteidigen ist wie die Berliner Mauer, mit Terrorakten gleichsetzen.
Sie beschuldigen uns, den Terror der Hamas vom 7. Oktober zu bagatellisieren. Wir werfen Ihnen vor, die achtzigjährige ethnische Säuberung der Palästinenser durch Israel und die Errichtung eines eisernen Apartheidsystems in Israel-Palästina zu bagatellisieren. Wir beschuldigen Sie, Benjamin Netanjahus langjährige Unterstützung der Hamas als Mittel zur Zerstörung der Zweistaatenlösung, die Sie angeblich befürworten, zu bagatellisieren. Wir beschuldigen Sie, den beispiellosen Terror der israelischen Armee gegen die Menschen in Gaza, im Westjordanland und in Ostjerusalem zu verharmlosen.
Sie werfen den Organisator*innen des heutigen Kongresses vor, sie seien, ich zitiere, „nicht daran interessiert, vor dem Hintergrund des Krieges in Gaza über Möglichkeiten der friedlichen Koexistenz im Nahen Osten zu sprechen.“ Ist das ihr Ernst? Haben sie den Verstand verloren?
Wir werfen Ihnen vor, einen deutschen Staat zu unterstützen, der nach den Vereinigten Staaten der größte Lieferant von Waffen ist, die die Netanjahu-Regierung benutzt, um Palästinenser*innen im Rahmen eines großen Plans zu massakrieren, der eine Zweistaatenlösung und ein friedliches Zusammenleben zwischen Jüd*innen und Palästinenser*innen unmöglich machen soll. Wir werfen Ihnen vor, dass Sie nie die relevante Frage beantworten, die jede/r Deutsche beantworten muss: Wie viel palästinensisches Blut muss noch fließen, damit Ihre (Deutschlands) berechtigte Schuld am Holocaust weggewaschen wird?
Um es klar zu sagen: Wir sind mit unserem palästinensischen Kongress hier in Berlin, weil wir im Gegensatz zum deutschen politischen System und den deutschen Medien Völkermord und Kriegsverbrechen verurteilen, unabhängig davon, wer sie verübt hat. Weil wir gegen die Apartheid im Land Israel-Palästina sind, egal wer die Oberhand hat – so wie wir gegen die Apartheid in den amerikanischen Südstaaten oder in Südafrika waren. Weil wir für die universellen Menschenrechte, Freiheit und Gleichheit von Jüd*innen, Palästinenser*innen, Beduin*innen und Christ*innen im alten Land Palästina eintreten.
Anders als das deutsche politische System und die deutschen Medien verurteilen wir Völkermord und Kriegsverbrechen unabhängig davon, wer sie verübt. Und damit wir uns über die berechtigten und bösartigen Fragen, die wir immer bereit sein müssen zu beantworten, noch klarer werden:
Verurteile ich die Gräueltaten der Hamas?
Ich verurteile jede einzelne Gräueltat, unabhängig davon, wer  Täter oder Opfer ist. Was ich nicht verurteile, ist der bewaffnete Widerstand gegen ein Apartheidsystem, das als Teil eines schleichenden, aber unerbittlichen Programms zur ethnischen Säuberung konzipiert wurde. Anders ausgedrückt: Ich verurteile jeden Angriff auf Zivilist*innen, während ich gleichzeitig jede/n feiere, der ihr/sein Leben riskiert, um die Mauer niederzureißen.
Führt Israel nicht einen Krieg um seine eigene Existenz?
Nein, das ist nicht der Fall. Israel ist ein atomar bewaffneter Staat mit der vielleicht technologisch fortschrittlichsten Armee der Welt und der gesamten Militärmaschinerie der USA im Rücken. Es gibt keine Symmetrie mit der Hamas, einer Gruppe, die Israelis zwar ernsthaften Schaden zufügen kann, aber in keiner Weise in der Lage ist, Israels Militär zu besiegen oder Israel auch nur daran zu hindern, den langsamen Völkermord an den Palästinenser*innen im Rahmen des Apartheidsystems fortzusetzen, das mit langjähriger Unterstützung der USA und der Europäischen Union errichtet wurde.
Haben die Israelis nicht zu Recht Angst, dass die Hamas sie ausrotten will?
Natürlich haben sie das! Die Jüd*innen haben einen Holocaust erlitten, dem Pogrome und ein tief verwurzelter Antisemitismus vorausgingen, der Europa und Amerika seit Jahrhunderten durchzieht. Es ist nur natürlich, dass die Israelis in Angst vor einem neuen Pogrom leben, wenn die israelische Armee einknickt. Indem der israelische Staat seinen Nachbarn die Apartheid aufzwingt und sie wie Untermenschen behandelt, schürt er jedoch das Feuer des Antisemitismus und stärkt jeweils Kräfte bei Palästinenser*innen und Israelis, die sich gegenseitig vernichten wollen. Letztendlich tragen seine Handlungen zu der schrecklichen Unsicherheit bei, die Jüd*innen in Israel und in der Diaspora verzehrt. Die Apartheid gegen die Palästinenser*innen ist die schlimmste Art der Selbstverteidigung der Israelis.

Was ist mit dem Antisemitismus?

Er ist immer eine klare und gegenwärtige Gefahr. Und sie muss ausgerottet werden, vor allem in den Reihen der globalen Linken und der Palästinenser*innen, die für palästinensische Bürgerrechte in der ganzen Welt kämpfen.
Warum verfolgen die Palästinenser ihre Ziele nicht mit friedlichen Mitteln?
Sie haben es getan. Die PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) hat Israel anerkannt und auf den bewaffneten Kampf verzichtet. Und was haben sie dafür bekommen? Absolute Demütigung und systematische ethnische Säuberung. Das hat die Hamas hervorgebracht und sie in den Augen vieler Palästinenser*innen als einzige Alternative zu einem langsamen Völkermord unter Israels Apartheid erscheinen lassen.
Was sollte jetzt getan werden? Was könnte Frieden in Israel-Palästina bringen?
Ein sofortiger Waffenstillstand.
Die Freilassung aller Geiseln – der Hamas und der Tausenden, die von Israel festgehalten werden.
Ein Friedensprozess unter der Schirmherrschaft der UNO, der durch die Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft unterstützt wird, die Apartheid zu beenden und gleiche bürgerliche Freiheiten für alle zu gewährleisten.
Was an die Stelle der Apartheid treten soll, müssen Israelis und Palästinenser zwischen der Zwei-Staaten-Lösung und der Lösung eines einzigen föderalen säkularen Staates entscheiden.

Freunde, wir sind hier, weil Rache eine schlechte Form des Trauerns ist.

Wir sind hier, um nicht für Rache, sondern für Frieden und Koexistenz zwischen Israel und Palästina zu werben.
Wir sind hier, um den deutschen Demokrat*innen, einschließlich unserer ehemaligen Genoss*innen von Die Linke, zu sagen, dass sie sich lange genug mit Schande bedeckt haben – dass zwei Unrechte kein Recht ergeben – und dass das Erlauben, dass Israel mit Kriegsverbrechen davonkommt, das Erbe der deutschen Verbrechen gegen das jüdische Volk nicht verbessern wird.
Über den heutigen Kongress hinaus haben wir in Deutschland die Pflicht, die Diskussion zu verändern. Wir haben die Pflicht, die große Mehrheit der anständigen Deutschen davon zu überzeugen, dass die universellen Menschenrechte das Wichtigste sind. Das „Nie wieder“ bedeutet „Nie wieder“ für jede/n. Für Jüd*innen, Palästinenser*innen, Ukrainer*innen, Russ*innen, Jemenit*innen, Sudanes*innen, Ruander*innen – für alle, überall.
In diesem Zusammenhang freue ich mich, ankündigen zu können, dass die deutsche politische Partei MERA25 von DiEM25 bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im kommenden Juni auf dem Wahlzettel stehen wird – um die Stimme der deutschen Humanist*innen zu erhalten, die sich nach einem Mitglied des Europäischen Parlaments sehnen, das Deutschland vertritt und die Komplizenschaft der EU beim Völkermord anprangert, eine Komplizenschaft, die Europas größtes Geschenk an die Antisemiten in Europa und darüber hinaus ist.
Ich grüße Sie alle und schlage vor, dass wir nie vergessen, dass niemand von uns frei ist, wenn einer von uns in Ketten liegt.