Schriftliche Fassung eines Referats von Gianni Riva, 2. Dezember 2021

Um das Phänomen Sebastian Kurz zu verstehen, muss man einen Blick auf die Vergangenheit der ÖVP werfen. Im (westlichen) Nachkriegseuropa hat es zahlreiche konservative Parteien vom Typus der traditi­onellen ÖVP gegeben. Dabei handelt es sich um Parteien, die sich als so genannte Volks­parteien charakterisieren lassen. Volksparteien deswegen, weil sie klassenübergreifend eine tatsäch­liche Verankerung in der Bevölkerung hatten. Eine der prominentesten dieser Parteien war die italienische DC (Democrazia Cristiana), die ziemlich schnell zerfallen ist.

Die Bünde – Eckpfeiler  der ÖVP

In der ÖVP hat sich dieser Charakter immer in ihrer Organisationsstruktur gespiegelt: im Wirt­schafts­bund, Bauernbund und Arbeiter- und Angestelltenbund, die die Basis der Partei gestellt haben. Zumindest bis vor der Ära Kurz war es so, dass man nicht Mitglied der Bundes-ÖVP sein konnte, sondern Mitglied in einem Bund oder in einer Landesorganisation.

Die (mittel)europäischen Volksparteien zeichneten sich dadurch aus, dass sie in der langen Periode nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Verwerfungen des Kriegs allesamt dazu gezwungen waren, einen moderaten Kurs zu fahren. Um ihre Massenbasis zu erhalten, war es notwendig, einen bestimmten sozialen Ausgleich zu befördern oder zuzulassen. Gleichzeitig hat es in diesen Parteien immer auch einen rabiaten Flügel gegeben. In Österreich steht diese Ideologie in Kontinuität mit den austrofaschistischen Erfahrungen, deren Exponenten (bis zu ihrem Ableben) zwar auch in der Nach­kriegs­zeit in der ÖVP wirksam waren, aber mit ihrer Ideologie keine Mehrheit mehr finden konnten. Das zeigte sich an Themen, die für den sozialen Ausgleich eine geringere Rolle spielten, die jedoch gesellschaftlich enorm relevant waren. Aus diesem ideologischen Lager kam etwa der Wider­stand gegen die Legalisierung der Abtreibung und gegen die Aufweichung der Homo­sexualitäts­gesetze durch die Reform unter dem SPÖ-Justizminister Broda. Hier konnte man diese extrem reaktionär-konservative Politik­haltung am deutlichsten wahrnehmen.

Wirtschaft und Sozialpartnerschaft in den Nachkriegsjahren

In der Sozialpolitik hat sich die ÖVP den Regeln der Sozialpartnerschaft gefügt. Im Nachkriegs­österreich war auch den Bürgerlichen klar, dass es in diesem Bereich kaum andere Möglich­keiten gab. Schließlich war in Österreich nicht genug Kapital vorhanden, das imstande gewesen wäre, eine Industrie aufzubauen. Alle kennen die Legende, dass man die Herman-Göring-Werke durch die Verstaatlichung vor der russischen Beschlagnahme schützen wollte, aber das ist nur ein Teil der Geschichte. Es gab tatsächlich kein österreichisches Kapital, das die Werke – etwa in Form einer Aktiengesellschaft – hätte übernehmen können.

Gleichzeitig war die Wirtschaft aufgrund der Unterversorgung der Bevölkerung in den unmittelbaren Nachkriegs­jahren durch starke planwirtschaftliche Elemente gekenn­zeichnet. Im Zuge dieser Zwangs­bewirtschaftung waren existentielle Lebensmittel, Mieten usw. eingefroren. Die Lohn-Preis-Gesetze sahen einen automatischen Anstieg der Löhne vor, sobald die Preise stiegen. Auslöser für den historischen Streik 1950 war eine Erhöhung der Brotpreise, ohne dass die Löhne angepasst wurden. Der Streik richte sich also gegen die einseitige Aufkündigung dieser Lohn-Preis-Parität.

Andererseits war die Lage in Österreich nicht so katastrophal wie etwa in Großbritannien, wo bis Mitte der 1950er Jahre Lebensmittelkarten im Einsatz waren, obwohl es zu den Siegerstaaten gehörte. Das gilt es zu bedenken, wenn man verstehen will, warum in den konservativen Parteien und vor allem auch in der ÖVP der Konsens herrschte, die Sozialdemokratie und die Arbeiterklasse – zumindest zum damaligen Zeitpunkt – nicht massiv anzugreifen. Man muss also berücksichtigen, dass der österreichische Wiederaufbau und vor allem die Instandsetzung der öster­reichischen Kapital­interessen mit der Einsicht einhergingen, dass man Bündnisse mit der Arbeiterbewegung und ihren Repräsentanten (Sozialdemokratie und Gewerkschaft) schließen muss. Das waren gewissermaßen die Checks and Balances zwischen den antagonistischen Klassen.

Die ÖVP in Opposition

Dieses Gleichgewicht hat bis zur Regierung Kreisky funktioniert. Die Epoche der ÖVP-SPÖ-Koalitions­regierungen wurde 1970 durch die Allein­regierung der Sozialdemokratie unterbrochen. Sie kam deswegen zustande, weil die Konservativen nicht fähig waren, Antworten auf die modernisierte kapitalistische Entwicklung zu geben. Um nur ein Beispiel zu nennen: Als das Gesetz, wonach Frauen nur mit Einwilligung des Ehemannes arbeiten gehen dürfen, reformiert wurde, reagierte die Industrie mit Applaus, weil es zu wenig Arbeitskräfte gab und weil es nun leichter war, die Frauen in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Aber die reaktionären Kreise in der ÖVP wollten das nicht. Auch den Ausbau des Bildungswesens hat man nicht verstanden, da aus ideologischen Gründen die ständisch-bornierte Meinung in der ÖVP vorherrschte, Bildung sei etwas für das Bürgertum, für die Elite, aber nichts für die Arbeiterklasse. Die soll arbeiten gehen und nicht an die Universitäten. Dieses standes­bornierte Denken in Teilen der ÖVP ist Ende der 1960er Jahre durch die ökonomische Entwicklung obsolet geworden.

Nach dem Ende der sozialdemokratisch dominierten Regierungen führte die ÖVP wieder die große Koalition an, indem sie an dem Modell anknüpfte, das davor bestanden hatte. Man war sich aller­dings einig, von einem derart rabiaten Wahlkampf, wie ihn Klaus gegen Kreisky geführt hatte, Abstand zu nehmen. Klaus hatte antisemitisch geprägte und austrofaschistische Elemente in der Bilder­sprache der Plakate aufge­griffen (der berühmteste Sager war: „Ich bin ein echter Österreicher“, was ganz klar gegen den Juden Kreisky gerichtet war), auf die man in Hinkunft verzichtete. Es war schließlich klar, dass es mit solchen massiven ideologischen Angriffen keine große Koalition geben würde.

Die ideologischen Wurzeln von Sebastian Kurz & Co

Dieser Exkurs in die Geschichte ist deshalb wichtig, weil er die Kontinuität dieser reaktionär-autoritären Ideologie aufzeigt. Kurz ist nicht plötzlich vom Himmel gefallen, er ist keine völlig neue Erfindung. Vielmehr hat er an bestehende ideologische Strömungen angeknüpft, und seine Master­minds kommen genau aus dieser Tradition.

Die Weltwirtschaftskrise 2008 hat den Fall der Profitrate extrem verschärft und einen Teil der öster­rei­chischen Industrie massiv getroffen. Die Verwertungsbedingungen des Kapitals sind nicht in einem lang­samen Fluss, sondern auf einen Schlag schwieriger geworden. Aus diesem Grund haben die reaktionären Kräfte in der ÖVP im Bündnis mit jenen Teilen des Kapitals, die enormen Ver­wertungs­schwierigkeiten hatten, den Bruch mit der Sozialpartnerschaft voll­zogen. Von nun an waren die Gewerkschaften, die Sozial­demokratie, die Roten der Hauptfeind. Diese Neu­orientierung der konservativen Politik wurde von der ÖVP-FPÖ-Koalition unter Bundeskanzler Schüssel eingeleitet.

Die Erfindung des Außenfeindes als ideologischer Kitt

Wann immer konservative Parteien eine derart reaktionäre und ungeschminkt neoliberale Kapital­position einnehmen, die durch keine Kompromisse abgefedert wird, wird diese Position durch ein Wording begleitet, dass sie sich ganz stark an rechtsradikale identitäre Strömungen anlehnt. Die sozialpartnerschaftlich verbindende Klammer der Volkspartei („Wir sorgen für alle, für den Haus­besitzer und den Arbeiter.“) fällt weg und erlaubt den Angriff auf die Lohnabhängigen.  Es muss also ein anderes Bindeglied erfunden werden, um Lohnabhängige dazu bewegen, die Partei weiterhin zu wählen. Zu diesem Zweck wird ein Außenfeind definiert: Der Außen­feind, das sind die Migranten, die EU, die „Faulen“,  wobei man unter dem diffusen Begriff der „Faulen“ die einheimische Unterschicht oder auch die Migranten verstehen kann. Im Wesentlichen geht es darum, die gesellschaftliche Solidarität aufzu­kündigen und durch eine Ideologie der Härte zu ersetzen. Das kommt in Schlag­wörtern wie „Eigenverantwortung“, „Effizienz“ und „Leistungsmaximierung“ zum Ausdruck. Diese Haltung geht oft mit der Verachtung schwacher Gruppen einher, etwa im Rahmen einer ökono­mistischen Logik, oder mit dem Beharren auf etablierten Vorrechten, die häufig im Gestus der eigenen Überlegenheit eingefordert werden.

Die Debatte um die Mindestsicherung bzw. deren Ein­schränkung und die Diskussion über die Arbeits­losen­unterstützung zeigen, dass die ÖVP seit 2010 ein völlig rabiates Wording hat. Bis zum Erbrechen werden die immer gleichen Formulierungen wie das Amen im Gebet wiederholt: die soziale Hänge­matte, die Unwilligen, die Arbeits­verweigerer. Man braucht ein konstituierendes klassenüber­greifendes Element („Wir, die Fleißigen, gegen die Anderen“), um bei Wahlen zu reüssieren: „Jeder, der will, kann ja was machen. Und die, die nix wollen, für die wollen wir auch nichts zahlen, weil die wollen ja nicht.“

Diese Haltung ist ein wichtiges konstitutives Element, wenn bürgerliche Parteien in eine reaktionäre Epoche eintreten. Mit einiger Verzögerung, erst unter Kurz, wurde zusätzlich die gesamte Palette rechts­radikaler Hetze gegen Migranten fast wortgleich übernommen. Für Differenzierungen gab es bei diesen verbalen Verschärfungen keinen Platz mehr. Das Credo lautet nun: „Die Migranten haben uns ins Elend gestürzt, denn ohne sie wäre Österreich ein wunderbares Land.“ In diesem Fall wird das „Wir“ um die völkische Variante angereichert: „Wir sind das Volk“.

Diesen Slogan haben zwar derzeit die Corona-Leugner für sich gepachtet, aber die ursprüngliche Absicht bestand darin, der FPÖ mitzuteilen, dass sie nicht das Monopol auf die Behauptung „Wir sind das Volk“ hat. Denn „wir“, die Konservativen, mit unserer Landbevölkerung, mit unserer Wähler­schaft, wir sind das Volk und wir müssen uns gegen die Übernahme dieses schönen Landes durch die Migranten und den „politischen Islam“ schützen.

Zur Strategie der türkisen ÖVP

So viel zum Hintergrund und zur Vorgeschichte. Weiters ist es wichtig zu verstehen, dass bürgerliche Parteien, die eine Linie wie die ÖVP einschlagen (und derartige Versuche gibt es in mehreren europäischen Ländern), Elemente der Kampagne von Donald Trump übernommen haben.

Man lügt systematisch und verbreitet Fake News. Das ist kein Zufall, sondern bewusst geplant, um die Themenführerschaft zu erreichen und gleichzeitig – und das ist das Perfide daran –, die Gegner­schaft zu diffamieren. (Das kann auch die Soziologie bestätigen.) Das Wording ist bekannt, etwa: „Die Gutmenschen haben wieder protestiert.“ Gutmenschen, das sind Linke, Schwule, Antifa, die SPÖ, die Gewerkschaften, Leute, die nichts von der Ökonomie verstehen und die Republik ins kommunistische Unglück führen wollen – die haben uns wieder angegriffen. Und wenn Sebastian Kurz sagt: „Wir werden ständig angepatzt“, dann ist es das Ziel, angepatzt zu werden. Die Lüge und die gleichzeitige Diffamierung all jener, die die Lüge durchschauen und anprangern, werden so lange wiederholt, bis die Leute sagen: „Wieso werden die ständig nieder­geprügelt, obwohl sie eine gute Politik machen?“ Als Kritiker, etwa als liberaler linker Sozial­demokrat, hat man dann immer das Nachsehen: Sagt man etwas, dann heißt es: „Das sind die üblichen Verdächtigen, die uns immer anpatzen.“ Das stärkt die eigene Klientel. Sagt man nichts, geht das auch nicht. Dieses Instrumentarium hat Trump mit Steve Bannon und dem Breitbart-Medium perfekt entwickelt. Es ist sozusagen die Mastervorlage, wie man auf dieser Ebene Politik macht und gleichzeitig einen unglaublichen Keil in die Gesellschaft treibt, die Entsolidarisierung vorantreibt und demokratische Strukturen aushöhlt. Die ÖVP unter Kurz zeichnete sich durch eine Verachtung des Parlaments aus. Mit läppischen Antworten auf parlamentarische Anfragen wurden die Abge­ordneten verhöhnt – nach dem Motto: „Die hindern uns mit diesem schäbigen Parlamentarismus nur an der gezielten Arbeit; wir haben wegen dieser Anfragen so viel unnötigen Aufwand; wir haben Besseres zu tun, als uns mit dem ganzen Müll zu beschäftigen.“

Diese politische Entwicklung wurde bewusst herbeigeführt. Sebastian Kurz hat diese Richtung nicht zufällig eingeschlagen. Wenn man seine Reden im Internet nachliest, muss einem klar sein, dass es einen irrsinnigen Apparat braucht, um diese Rhetorik zu perfektionieren. Da steckt nicht nur viel Training dahinter, man braucht auch gute Nerven, um jede Frage eines Journalisten beinhart mit stereotypen Fake News, aber mit geschliffener Rhetorik zu beantworten. Das kann man nicht von heute auf morgen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass Kurz völlig empathielos und unemotional ist.

Jörg Haider (FPÖ) war anders, denn er war ein rhetorisches Naturtalent mit viel Erfahrung, der gelegentlich auch entgleist ist. Aber bei ihm hat man immer gemerkt, dass er frei redet, dass nicht alles ein­studiert ist. Kurz hingegen wich in seinen Reden nicht einmal für eine Sekunde vom Manuskript ab. Ich behaupte einmal (obwohl ich es nicht belegen kann), dass es einen Master­mind oder eine Gruppe in der ÖVP hinter dem Projekt Kurz gibt bzw. gab. Das Projekt Kurz ist aber letztlich daran gescheitert, weil es aus dem Ruder gelaufen ist.

Das liegt zum einen daran, dass die politischen Protagonisten einfach zu blöd waren (das spricht für die These der Masterminds). Es gehört schon eine Portion Blödheit dazu, die Chats, die man aus­tauscht, im Backup zu archivieren. Zum anderen waren sie zu korrupt. Korruption ab einer gewissen Größe schafft immer Schwierigkeiten (in diesem Fall innerhalb der ÖVP), weil immer irgend­einer das Gefühl hat, zu kurz zu kommen, und der ist dann bös. Es ist nicht möglich, jeden gleich zu bedienen. Irgendjemand ist immer der Meinung, dass er eigentlich mehr verdient hätte: „Ich hab so viel getan für die Bewegung und krieg dann nichts.“ Folglich gibt es undichte Stellen, Whistleblowers, die etwa der WKStA Akten zuspielen. Das ist in einem derartigen System nicht zu verhindern. Gleich­zeitig hat Kurz eine echte Hybris entwickelt. Offensichtlich war er tatsächlich der Meinung, der Superstar zu sein. Aber das war er nicht, er war vielmehr die Sprechpuppe für ein ideologisches Projekt.

Ich meine, dass es zwei wichtige Dinge gibt, die man bedenken muss. Erstens: Wie geht man mit diesen systematisch geplanten Lügen um, ohne Gefahr zu laufen, ins offene Messer der ewigen Empörung zu rennen? Es reicht ja nicht, auf die offensichtlichen Lügen hinzuweisen, denn das glauben die Anhänger von Kurz nicht. Die Argumente kommen schließlich von den „üblichen Ver­dächtigen“. Dabei wäre es wichtig, auch die Anhängerschaft von Kurz für eine alternative Politik zu gewinnen. Schließlich gibt es auch in diesem Wählersegment einen beträchtlichen Anteil an Lohn­abhängigen. Es sind ja nicht alle Rechtsradikale.

Die Demontage der Hoheitsverwaltung

Zweitens: Die Besetzung wichtiger Positionen im Beamtenapparat wirkt langfristig. In den Ministerien wurden Leute installiert, die teilweise nicht einmal 30 Jahre alt sind. Es sind zwar nicht alle prag­matisiert, weil selbst im Bundesdienst die Pragmatisierung ziemlich weit zurück­gedrängt wurde und auch leitende Funktionen (etwa Sektionsleitungen) nur auf Zeit – in der Regel für fünf Jahre – ver­geben werden. Für eine Verlängerung des Vertrags müssen sich diese Personen wieder bewerben und sie tun natürlich alles, um schmeichelweich und konform zu sein, um ihren Posten zu behalten. Dazu kommt, dass den Sektionschefs ein Generalsekretär vor die Nase gesetzt wird: gewissermaßen als „Über-Sektionschef“, wobei das – zumindest in einzelnen Ministerien – schon vor der Ära Kurz an der Tagesordnung war. Noch gefährlicher sind allerdings die aufgeblasenen Minister­büros (vor allem die für die Öffentlichkeitsarbeit zuständigen Mitarbeiter), die als persönliche Berater des jeweiligen Ministers außerhalb der normalen Beamten­hierarchie stehen. Sie gehen zwar mit dem Minister, aber werden meistens durch leitende Funktionen innerhalb der Ministerialbürokratie versorgt. Als Ministersekretäre regieren sie in den Beamtenapparat hinein, obwohl sie von nichts eine Ahnung haben. Während man sich früher der Expertise der Fachbeamten bediente und diese auch schätzte, wurde die Beamtenschaft durch die Übermacht der Ministerbüros entmündigt. Auch diese Ent­wicklung hat bereits vor der Ära Kurz eingesetzt; sie ist eine Folge der Neoliberalisierung der staat­lichen Verwaltung. Seit Schüssel geht es darum, den Staatsapparat massiv an die Kandare zu nehmen.

Da sich kaum jemand für die Funktionsweise der Verwaltung interessiert, war es möglich, mittels Message Control zu vermitteln, dass die „starre“ Bürokratie einer zukunftsfesten Ausrichtung der Verwaltung im Wege steht. Der Umbau der Hoheitsverwaltung wurde von den Medien freundlich begleitet. Viele, auch viele Linke, haben applaudiert, als es der „Bürokratie“ an den Kragen ging: Ohne zu differenzieren, wurden die Beamten – egal, ob schwarz oder rot – als Faulenzer und reaktionäre Bagage definiert.

Traditionell hat die Linke den Standpunkt vertreten, die Beamtenschaft sei per se reaktionär und das starre Beamtenschema sollte abgeschafft werden. Heute wären wir froh über Sektionschefs, die unter dem Schutz der Pragmatisierung Widerstand leisten könnten. In den Ministerien hat es – unab­hängig von der Parteizugehörigkeit – immer anständige Leute gegeben, die in erster Linie Sachpolitik betrieben haben. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass in letzter Zeit derartig viele Gesetze vom VfGH (Verfassungsgerichtshof) aufgehoben werden, weil die Idioten nicht einmal imstande sind, ein Gesetz verfassungsgemäß zu formulieren. Bis vor wenigen Jahren gab es in den Ministerien noch Juristen, die wussten, wie ein Gesetz auszu­schauen hat, wenn es Hand und Fuß haben soll. Der Umbau der Hoheitsverwaltung ist eine Katastrophe, der leider viel zu wenig Beachtung geschenkt wird.

Es wurde aber nicht nur in den zentralen Beamtenapparat eingegriffen, wie an der Zerschlagung der Sozial­versicherung oder die Besetzung hoher Posten im staatsnahen Sektor abzulesen ist. Zur Illustration ein weiteres Beispiel aus dem Schulbereich:  Ein SPÖ-naher Salzburger Qualitätsmanager (früher hieß das Schulinspektor) wurde über Nacht, ohne informiert zu werden, von dem großen Schul­bezirk, für den er bisher zuständig war, in den Lungau, den kleinsten Bezirk, versetzt, um den lukrativeren Posten für einen Parteigänger frei zu machen. So reißt man sich nach und nach die Republik unter den Nagel.

Ein Rücktritt nach dem anderen

Ich komme jetzt zum tagesaktuellen Teil, dem vor einer halben Stunde erfolgten Rücktritt von Alexander Schallenberg als Kurzzeit-Bundeskanzler und die voraussichtliche Übernahme des Amts durch Karl Nehammer. ZackZack (Online-Medium) kommentiert das folgendermaßen: „Die ÖVP wird wieder really black.“ Die nächsten Tage werden sehr schnell zeigen, in welche Richtung es gehen soll. Wäre die ÖVP für eine Fortsetzung der Kurz-Linie, dann hätte Schallenberg als Platzhalter für Kurz bleiben können. Er hat ja immer betont, dass er nie vorhatte, Bundeskanzler zu werden, und außer­dem hat er innerparteilich keine Macht hinter sich. Aber da Kurz begriffen hat, dass er nicht mehr zurück­kehren kann, erübrigt sich auch der Platzhalter.

Nehammer hat deshalb den Posten nicht unmittelbar von Kurz übernommen, weil er dann von Kurz’ Gnaden als Parteiobmann abhängig gewesen wäre. Kurz hatte so viel Macht, wie kein Parteiobmann in der ÖVP je gehabt hat. Jede Personalentscheidung musste über Kurz laufen; sogar die Bestellung der National­­rats­kandidaten in den Bundesländern konnte er bestimmen. Die Länder haben ihm ja ein diktatoren­­mäßiges Pouvoir in die Hand gegeben.

Karl Nehammer steht für Niederösterreich, für die Landeshauptleute, für den ÖAAB, für die alte ÖVP. Er verkörpert kein Nachfolgeprojekt der Kurz-Truppe. Schützenhöfer (Steiermark) und Mikl-Leitner (NÖ) sind gegen die bisherige Linie bereits auf Distanz gegangen. Wir werden in den nächsten Tagen sehen, wie die Entwicklung weitergeht. Noch wissen wir nicht, ob Nehammer sein eigenes Team haben wird oder ob Raphael Bonelli aus dem Kanzleramt verschwindet. Möglicherweise wird der rabiate und mit faschistoiden Elementen durchsetzte Kurs der ÖVP gebremst. Andererseits ist der Hass der ÖVPler, auch in den Bundesländern, gegen alles was „rot“ ist oder aus der Gewerkschaft kommt, ungebrochen. Die Frage ist, welche Konsequenzen das für die Wahlbewegungen hat, ob die ÖVP weiterhin versuchen wird, die FPÖ mit einem rechtsradikalen Kurs rechts zu überholen.

Fragen und Diskussion

Frage: Die ÖVP hat ja gezeigt, dass sie, was Koalitionen betrifft, ziemlich flexibel ist. Wird sie diesen flexiblen Kurs beibehalten oder siehst du für die Zukunft die Festlegung auf eine oder den Ausschluss einer bestimmten Koalition?

Gianni: Die ÖVP will nicht mit der SPÖ koalieren, weil es ihr Ziel ist, die SPÖ zu zer­stören. Und das würde nicht funktionieren, wenn sie eine Koalition mit der SPÖ einginge. Seit Schüssel fährt die ÖVP einen völlig rabiaten Anti-Rot-Kurs. Aber auch die SPÖ würde in einer Koalition mit der ÖVP nur verlieren. Am liebsten hätte die ÖVP eine neuerliche Koalition mit der FPÖ. Die müsste allerdings den (derzeitigen Parteiobmann) Kickl austauschen, aber das wird nicht so schnell passieren.

Kommentar: Der Kampf wird um diejenigen Wähler verschärft geführt werden, die Kurz mit seiner Politik von der FPÖ geholt hat. Um diese Wähler wird zwischen ÖVP und FPÖ ein sehr harter Kampf entbrennen.

Gianni: Nicht zu vergessen, die MFG! Will man zynisch sein, könnte man sagen: Es wäre gar nicht so schlecht, wenn die MFG ins Parlament käme, weil dadurch das reaktionär-faschistoide Lager gespalten würde. Aber die MFG würde im Parlament natürlich keine Rolle spielen. De facto würde es auf ein Splitting der faschistoiden Stimmen hinauslaufen.

Kommentar: Die ÖVP ist jetzt in einer ziemlich vertrackten Situation, weil die Ära Kurz den Nieder­gang der Konservativen, die vom Klientelismus geprägt waren und sich vor allem auf die Landes­fürsten gestützt hatten, für die Dauer von fünf Jahren lang unterbrochen hat. Aber programmatisch bringt sie praktisch nichts zustande. Der CDU geht es ähnlich; sie sucht verzweifelt nach einem Kurs. Der einzige, der eine klare Linien verfolgt, ist der Herr Merz, der für eine konservative und rechte, aber nicht für eine faschistische Politik steht. So extrem und opportunistisch wie der Kurz ist er nicht.

In Österreich sehe ich aber in keiner Weise irgendeinen strategischen Ansatz, der der ÖVP aus der Malaise helfen könnte, selbst wenn sie den Herrn Nehammer als Bundeskanzler oder Parteivor­sitzenden beruft, denn er repräsentiert nicht den Aufbruch für etwas Neues. Er repräsentiert Sicher­heit – und das ist meines Erachtens zu wenig. Die ÖVP wird mit Nehammer auf 22 bis 25 % kommen, aber nicht auf mehr. Sie wird wieder auf das Niveau zurückfallen, das sie vor Kurz hatte.

Kurz war in jeder Hinsicht völlig schamlos, er hat sich überall bedient, hat von seinen Rhetorik­schulungen profitiert und den tollen Schwiegersohn abgegeben, und das ist der Nehammer nicht. Kurz hat vor allem das Produkt Kurz verkauft, aber nicht mehr. Er hat nicht das Produkt ÖVP verkauft, denn in der ÖVP gibt es de facto nur die Landesparteien und die Bünde. Mit einem Wort: Die ÖVP hat nicht mehr diesen Drive nach vorne.

Deutschland ist für mich ein gutes Parade­beispiel, weil dort die Grünen teilweise die Funktion der CDU übernehmen bzw. inhaltliche Angebote machen können, etwa beim Thema Umwelt. Meines Erachtens ist die ÖVP in einem ziemlichen strategischen Dilemma. Das gilt auch für die SPÖ, aber das ist eine andere Geschichte. Die ÖVP wird nicht so schnell aus ihrem Dilemma herauskommen. Sie hat kurzfristig gewonnen und ist jetzt desaströs gescheitert.

Kommentar: Man muss beachten, dass weite Schichten der Bevölkerung das Versagen der Regierung, ein völliges Politikversagen, insbesondere was die Corona-Politik betrifft, bemerkt haben. Die Gesundheitslandesrätin in der Steiermark hat bei den Testungen und Impfungen alles locker laufen lassen, was den Zorn unter den niedergelassenen Ärzten, die normalerweise eher konservativ sind, hervorgerufen hat. Man braucht sich bloß anhören, was die Leute über die Gesundheits­politik der ÖVP oder der Grünen sagen, wobei den Grünen zugestanden wird, dass sie von der ÖVP am Handeln gehindert werden.

Die Legitimation der ÖVP wird auch von vielen ihrer Wähler auf Grund einer extrem miserablen Regierungspraxis in Frage gestellt. Man muss auch sich auch vor Augen halten, dass etwa zwei Drittel der Bevölkerung keine Coronaleugner sind, sondern eher möchten, dass zügig und relativ rasch etwas geschieht, damit die Situation endlich stabiler und besser wird. Möglicherweise wird es der ÖVP, wenn nicht ein neuer Heiland kommt, wie der Christdemokratie in Italien ergehen.

Was die Seilschaften betrifft, laufen in der Steiermark mehrere Dinge gleichzeitig. Die Freiheitliche Partei ist von einem Korruptionsskandal erschüttert, da sich die Funktionäre in Graz mit dem Geld der Steuerzahler bereichert haben. Der Leiter des Stadtrechnungsamts, ein FPÖ-Funktionär, musste gehen, weil er € 700.000 unterschlagen hat. In der Landespolitik, wo das Umweltressort, das für die Umweltprüfungen (UVP) zuständig ist, von der SPÖ geleitet wird, gibt es berechtigte Anschuldi­gungen, dass sich gewisse Kraftwerke oder Industriebetriebe die Umweltbescheide selbst geschrieben haben.

Wenn dann so ehrenwerte Männer wie der Präsident des Naturschutzbundes, der schon bei der Jungen ÖVP war, sagen, in diesem Land spielt der Naturschutz nur eine kosmetische Rolle und es ist alles eine Farce, da bröselt es an Schichten, die sich der ÖVP zugerechnet haben. Zumindest in der Steiermark sehe ich das. Dabei hat der Schützenhöfer eine eher integrative Funktion und ist mehr oder minder ein Großkoalitionär.

Frage: Gibt es bestimmte Sektoren des Kapitals oder des Finanzkapitals, die auf die ÖVP setzen, oder kannst du skizzieren, ob es Absetzbewegungen gibt? Auf welche Strömung der Bourgeoisie setzt denn die ÖVP noch im Moment?

Gianni: Die große Industrie ist vom Kurs der ÖVP nicht begeistert. Zum einen ist sie gegen die Einreise­beschränkungen, weil sie ausländische Arbeitskräfte haben will. Dieses Bashing gegen die EU-Aus­länder, etwa die Rumänen, das stinkt denen gewaltig. Zum anderen gefällt ihnen die fragwürdige Haltung der ÖVP innerhalb der EU nicht, denn es hat Nachteile für den Standort Öster­reich, wenn es Bündnisse mit Polen und Ungarn eingeht. Für Österreich ist die Achse Deutsch­land-Frankreich-Italien entscheidend, aber nicht Ungarn-Polen. Es gibt also einige Bereiche, über die die Industrie wenig amüsiert ist.

Dazu kommt die Politik während der Corona-Pandemie. Ein Vertreter der Industrie hat anlässlich einer Pressekonferenz geäußert, dass er die Verteilung der Coronagelder nicht nachvollziehen kann, wenn man den Beitrag einzelner Wirtschaftssektoren zum BIP berücksichtigt, denn es war die Industrie, die Österreich durch die Coronakrise getragen hat, und nicht die Seilbahn­besitzer. Das war schon eine ziemliche Ansage an die Regierung.

Ob die genannten Beispiele Belege für klare Absetzbewegungen sind, lässt sich nicht sagen. Aber es gibt Industriellenflügel, die über diese Politik der ÖVP unglücklich sind, vor allem, weil die ÖVP über­haupt kein inhaltliches Programm hat. Das ist ein Kennzeichen dieses politischen Systems (wie auch des Trumpismus in den USA). Das Einzige, was die Kurz-Partie interessiert hat, war die Frage, wie man die Macht erlangt. Und natürlich: Überall Rot raus. Man muss den Sozial­demokraten eine aufs Haupt geben. Aber es gibt absolut keine Ideen für das Land, weder energiepolitisch noch verkehrs­politisch noch industrie­politisch, auch keine dezidiert neoliberalen Ansätze. Außerdem sind Kurz und sein Umfeld auch beratungs­resistent.

Nehmen wir das Beispiel die VOEST, die einen Wasserstoff-Hochofen in Betrieb hat, wofür die VOEST vom Land Oberösterreich Null Unterstützung bekommen hat. In einem Forschungsprojekt mit der ETH-Zürich hat sie gemeinsam ein Patent entwickelt und daher das Pouvoir erhalten, bei der öster­reichischen Bundesregierung 1,5 Milliarden an Förderung zu beantragen. Aber die Lobby-Arbeit bei der EU musste die VOEST selbst machen und bezahlen. Kein einziger von den schwarzen Idioten hat sie bei der EU unterstützt. In der VOEST findet man sicher keine Fans der Regierung.

Kommentar: Diese geringe Profiltiefe hängt doch auch damit zusammen, dass die Stärke der ÖVP auf jenen Ländern beruht, die sich sehr stark auf den Fremdenverkehr stützen. Auch die Fähigkeit, die Corona-Pandemie zu bekämpfen, scheitert an einer extremen Provinzialität und am Mangel an Infrastruktur. Länder wie Portugal oder Italien, auf die hierzulande mit Ver­achtung geblickt wird, schaffen einen besseren Umgang mit der Pandemie. In Portugal wurde eine hohe Impfquote erzielt, weil die Leute von staatlicher Seite über den Impftermin informiert wurden. Bei uns hat das überhaupt nicht funktioniert.

Kommentar: Was diese Hilflosigkeit bei der Corona-Impfung betrifft, haben sich die Landesfürsten wieder einmal durchgesetzt. Auch wenn die Gesundheitsagenden originär im Gesundheits­ministerium angesiedelt sind, wurde die Ausführung den Landesräten übertragen, die de facto die Macht haben. Sie haben die Corona-Strategie an sich gerissen, aber immer gezögert, obwohl die erforderlichen Strukturen größtenteils vorhanden waren. Am Anfang der Pandemie gab es auch die Diskussion, ob man die ÖGK (Gesundheitskasse) hätte einbinden sollen. Das wurde abgelehnt, obwohl die ÖGK die Strukturen hatte. Da hat sich sogar die schwarz dominierte ÖGK ziemlich aufge­regt. Jetzt haben wir die unterschiedlichsten Impfquoten, also Wien versus Oberösterreich oder Salz­burg.

Kommentar: Es gab einen interessanten Artikel im Standard von der Politologin Sieglinde Rosen­berger, die darauf hingewiesen hat, dass Probleme bei der Pandemiebekämpfung dadurch verur­sacht wurden, dass die Entscheidungskompetenz zu Kurz verlagert worden war. Er hat eine Ent­scheidungs­befugnis bekommen, obwohl es so etwas in Österreich eigentlich gar nicht gibt. Das konnte man daran feststellen, dass Gesundheitsminister Anschober mit der Verkündung der Masken­pflicht warten musste, weil der Herr Kurz noch in Brüssel weilte. Der Anschober ist ja letztlich an solchen Praktiken gescheitert. Oder ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit: Der jetzige Gesund­heits­minister Mückstein wollte einen Runden Tisch, weil er sich über den Ernst der Lage bewusst war. 20 Minuten später verkündete Kanzler Schallenberg: Den Runden Tisch gibt es nicht.

Gianni: Das ist ein wichtiger Punkt, den ich im Referat nicht ausgeführt habe, der aber eng mit der Unfähigkeit der Regierung zusammenhängt, denn diese scheinbare Richtlinienkompetenz hat der Kurz nur über mediale Arbeit hergestellt, aber nicht de jure. Der Mückstein hätte nur sagen müssen, „Ich bin Gesundheitsminister und ich mache die Verordnung“, aber die Grünen haben befürchtet,  dass es in der Koalition grimmig werden könnte. Warum hat sich der Anschober nicht hingestellt und zum Kurz gesagt: „Leck mich am Arsch! Ich mach dir nicht den Kasperl. Wer ist jetzt Gesundheits­minister, ich oder du?“ Es gibt kein Durchgriffsrecht des Bundeskanzlers. Das hat der Kurz über die Medien mitgeteilt, und die haben mitgespielt und das Durchgriffsrecht nie in Frage gestellt. Der Kurz stellt sich hin und sagt: „Ab morgen gibt es Tests.“ Vorher hat der Anschober gesagt: „Wir bereiten die Tests vor“. Der Kurz ist einfach vorgeprescht, obwohl es weder Testkits noch sonst etwas gegeben hat und hat seinen Minister desavouiert. Und jetzt probiert man das gleiche Spiel beim Mückstein – dieses unglück­selige Spiel mit der Message Control gegenüber den Medien – und greift auf die Politik zurück, die der Kurz mit der Boston Consulting, mit der Mei-Pochtler (Beraterin von Kurz) entwickelt hat. Die Leute, die im Hintergrund einen Masterplan haben, die wissen schon, was sie tun.

Kommentar: Du hast gesagt, dass der Kurz der Sprecher eines politischen Projekts ist. Boston Consulting, der Blümel, der Schmid, usw. – die sind jetzt weg. Dem Nehammer haben wir attestiert, dass er für die schwarze, nicht für die türkise ÖVP steht. Wird sich künftig etwas ändern oder nicht? Ist es egal, ob wir türkis oder schwarz haben? Mich würde auch deine Einschätzung der Rolle der Grünen inter­essieren, die sich ja angeblich nie durchsetzen. Aber die Gewessler (Umwelt­ministerin) hat gestern mit ihren Evaluationen zu den Straßenbauprojekten ein hartes Statement abgegeben und nicht herumgeeiert. Es scheint, dass 80 % der geplanten Straßenbaupläne gestrichen werden. Und ich glaube, die wird das schon durchsetzen. Aber was bedeutet das jetzt alles?

Gianni: Zunächst einmal zur schwarzen oder türkisen ÖVP: Natürlich hat die ÖVP jetzt ein Problem, weil sie das türkise Projekt mit dem Nehammer nicht mehr weiterverfolgen kann. Weil da gehören zwei dazu: einer, der sich führen lässt, und ein anderer, der führt und ein Umfeld aufbaut. Aber die müssen sich irgendwie vertragen. Es ist ja nicht so, dass Teile der Partei sagen können: „So, jetzt laden wir den Nehammer ein und erklären ihm, was er tun soll.“ Der muss ja auch mitspielen. Ich glaube nicht, dass es mit dem Nehammer so weitergeht.

Die Frau Mei-Pochtler, die wichtigste Frau im Kurz’schen Think Tank, kommt von Boston Consulting und ist immer noch dort. Da reden wir nicht von Legoklötzchen, sondern von richtig großem Geld. Aber warum investieren die in so ein Projekt in Österreich? Offensichtlich geht es darum, eine Achse aufzubauen, um die EU zu schwächen: die Achse Ungarn, Österreich, Polen und – nicht zu vergessen – die Slowakei. Ein Investment in Öster­reich ist relativ billig. Eine Übernahme der CDU würde viel Geld kosten, denn da müsste man hunderte Leute dafür bezahlen, dass sie die CDU-Zentrale über­nehmen. In Österreich hat es gereicht, 20 Hans­wurste zu bezahlen. Und wenn man die Biografie vom Herrn Bonelli googelt, dann sieht man, dass der aus konservativ-reaktionären italie­nischen Univer­sitäten kommt, wo Boston-Consulting große Spenden und Foundations hat. Wenn die ÖVP die türkise Marke reparieren will, hat sie marketing-mäßig ein ziemlich schwieriges Problem.

Kommentar: Ich weiß nicht, ob man die IV (Industriellenvereinigung) und die WKO (Wirtschafts­kammer Österreich) nicht unterschätzt.

Kommentar: Schon der Haider hat sich dafür ausgesprochen, die 2. Republik zu beenden. Da hat er sich mit dem Schüssel getroffen. Und diese Linie hat auch der Kurz vertreten. Meiner Ansicht nach wird sich an dieser Linie der ÖVP – und jetzt komme ich zurück zu den Interessen des Kapitals – nichts ändern. Die Sozialpartnerschaft hat zweifellos gewisse Errungenschaften gebracht, weil es sozusagen ein Stillhalteabkommen zwischen der traditionellen Arbeiterbewegung / Gewerkschaft und der ÖVP gegeben hat. Das hat man dann immer so verbrämt mit den „gemeinsamen Erfahrungen in der Lagerstraße“, also im KZ. Der eigentliche Grund war aber, wie du ja ausge­führt hast, dass es keine Bourgeoisie gegeben hat, die die von den Nazis aufgebaute Industrie übernehmen hätte können. An dieser Linie, die ich als Schüssel-Kurs bezeichnen möchte, wird sich von Seiten der ÖVP nichts ändern. Die Frage ist allerdings, ob sie diese Stärke auch nach dem Sturz von Kurz auf­bringt, der es ja sehr gut geschafft hat, durch „emotionalen Kitt“ die Wählerschaft zu bewegen und  damit viele Stimmen von der FPÖ abzuziehen. Oder wird in der Hinterhand von Seiten der Industrie eine Koalition aus Grün-Pink-SPÖ favorisiert, die dann auch Infrastrukturprojekte zuwege bringt? Aber am Grundkurs der ÖVP wird sich meines Erachtens nichts ändern.

Gianni: Dem stimme ich zu. Es geht ja nur ums Etikett. Es geht um die Frage: Macht die ÖVP mit Türkis weiter? Aber ich bin überzeugt davon, dass sich an den politischen Positionen der ÖVP nichts ändern wird. Unter den Landeshauptleuten sind der Schützenhöfer und die Mikl-Leitner die einzigen zwei alten Schwarzen, die anderen sind türkis.

Was Corona betrifft, haben die Landeshauptleute einfach kein Geld in die Hand genommen. Schaut euch Wien an! Diese Container, die überall herumstehen, sind doch nicht gratis, die hat auch nie­mand gespendet. Wien gibt pro Tag enorme Summen für die Infrastruktur und das Personal aus.

Und im Burgenland haben sie es genauso gemacht. Ich fange jetzt keine Debatte zu Doskozil (SPÖ-Landes­haupt­mann vom Burgenland) an, aber in Bezug auf Corona war er einfach super. Nur ein Beispiel: Man hat sich gefragt, wie man die 80-Jährigen ohne Internet erreichen soll. Also gibt es einen mobilen Impfbus, der auch am Wochenende im Einsatz ist. Ohne Rücksicht auf den Daten­schutz hat man sich von den Gemeinden die Adressen der alten Leute besorgt. Und dann ist man zu der 80-jährigen Oma gefahren und hat angeläutet: „Es warat zwecks dem Impfen“. Da hat sich klarerweise niemand gewehrt. Also hat man ruckzuck die 80-Jährigen durchgeimpft. Aber das kostet natürlich Geld.

Kommentar: Eine Anmerkung zum Datenschutz: In der Steiermark war man bis Mai 2021 der Meinung, dass man aus Datenschutzgründen keinen Brief an die Ungeimpften verschicken kann. Aber jetzt geht es auf einmal.

Gianni: Ich möchte noch mit einem Satz auf die ÖVP zurückkommen: Von der Bundes-ÖVP wird es kein Zurück zu den alten sozialpartnerschaftlichen Strukturen geben. Der zweite wichtige Punkt ist unser Verständnis von der Sozialdemokratie. Die SPÖ betreibt zweifellos eine neoliberale Wirt­schafts­­politik, aber sie hat nicht vor, den Sozialstaat abzubauen. Das ist ein immanenter Wider­spruch, den zwar wir sehen, aber nicht die SPÖ. Insofern können wir ihr nicht vorwerfen, dass sie den Sozialstaat zurückfahren will. Aber es ist ein Unterschied, ob man etwas bewusst anstrebt oder ob man einen politischen Spagat macht, der sich nicht ausgeht. Das ist für unsere Einschätzung der Sozial­demokratie wichtig, und auch für die Art der Kritik, die wir ihr gegenüber entwickeln. Die Kritik muss nach wie vor eine solidarische sein, denn es handelt sich nicht um eine Kritik am Klassengegner, auch wenn die SPÖ neoliberale Politik verfolgt. Dieser Punkt ist auch wichtig, wenn man über zukünftige Koalitionen nachdenkt. Mir ist klar, dass alles andere als eine Koalition Rot-Pink-Grün eine echte Katastrophe wäre.

Kommentar: Ich hab noch eine Frage, unabhängig von den Personalien. Wenn man sich den Nieder­gang der konservativen Parteien ansieht, so war es immer entscheidend, dass sie sich von gewissen sozialen Milieus losgelöst haben. Die Milieus haben sich auf Grund der Veränderung der Klassenlage gewandelt. Wie stellt sich das konkret in Österreich dar? Welche klassischen Milieus haben sich von der ÖVP gelöst? Und welche werden sich von der ÖVP lösen? Und welche Milieus stehen noch zu ihr, egal, ob sie jetzt türkis oder schwarz firmiert?

Gianni: Da muss man nach Wahlebene unterscheiden. Wenn man sich die Ergebnisse der eben statt­gefundenen Wahl in Oberösterreich anschaut, dann spricht die ÖVP Milieus an, deren soziale Basis gar nicht mehr existent ist. Nehmen wir etwa die Ergebnisse in ländlichen Gemeinden: Dazu muss man im Hinterkopf behalten, dass wir in Österreich gerade einmal 2,5 % Bauern haben. Aber dann sehen wir, dass es in einer Gemeinde nur mehr drei Bauernhöfe gibt, aber 500 Leute die ÖVP gewählt haben. Diese Wähler haben ökonomisch eine ganz andere Basis. Sie sind keine Bauern, sondern Angestellte, Akademiker, alles Mögliche, aber die Leute wählen über Generationen schwarz, weil die Familie seit hundert Jahren schwarz gewählt hat. Das macht ein ziemlich träges Element. Das gilt aber nur für regionale Wahlen. Bei Bundeswahlen schaut es anders aus. Die Unter­schiede zwischen Bundeswahlen und Regionalwahlen sind immer spannend.

Frage: Wie geht es jetzt mit dem  grünen Koalitionspartner weiter?

Gianni: Die Grünen werden in der Koalition bleiben. Heute ist ja nicht nur deswegen ein Feiertag, weil der Kurz zurücktritt, sondern weil die Gewessler einen klaren Standpunkt zu diversen Straßenbau­projekten bezogen hat. Das wird bei den Grünen vieles wettmachen, was in anderen Bereichen dieser Koalition passieren wird. Die Gewessler ist die einzige Grüne, die sich nicht um den Kurz, den Ludwig (Wiener SPÖ-Bürgermeister) oder wen auch immer kümmert. Die hat einfach gesagt: „Ich mach das jetzt! Ich bin Ministerin. Aus. Punkt.“ Sie hat gemeint, sie will sich nicht in zehn Jahren vorwerfen lassen, dass sie heute feig gewesen ist.

Man weiß nicht, was nach den nächsten Wahlen sein wird. Die umstrittenen Straßen- und Tunnel­bauprojekte sind nicht auf ewig gekippt, aber immerhin aufgeschoben, etwa in der Lobau, obwohl der Ludwig nicht nach­lässt. Jetzt werden sie erst einmal ein Jahr herumeiern. Dann werden sie kein Geld haben. Und so wird das hin und her gehen. Und letztendlich werden sie urplötzlich wieder über eine Donauquerung donauabwärts nachdenken. Das war schon einmal geplant, weil dort der National­park Donauauen auf einer Länge von 8 km unterbrochen ist. Auf einmal fällt ihnen wieder ein, was man bereits vor 20 Jahren diskutiert hat: Wir könnten ja dort eine Brücke bauen. Eine Brücke kostet schlappe 300 Millionen, aber man vergräbt lieber zwei Milliarden (!) in einen Tunnel. Wie gesagt, es ist noch alles offen, aber ein Ende ist angesichts des finanziellen Hand­lungs­­spielraums auch der nächsten Regierung ziemlich wahrscheinlich, weil das Geld total knapp wird. Aber für die Grünen ist die Gewessler natürlich ein Segen. Der müssten sie die Füße küssen und sie auf einer Sänfte durch die Gegend tragen, weil der Rest der grünen Regierungs­mannschaft eher durchwachsen ist.

Kommentar: Wobei sie gut beraten wären, noch weiter in die Offensive gehen.

Gianni: In einem interessanten Kommentar im Standard wird argumentiert, dass es die ÖVP geschafft hat, alle Straßenbauprojekte der SPÖ umzuhängen. Die Schuld wird dem Faymann (ehemaliger SPÖ-Ver­kehrs­minister und Bundeskanzler) gegeben, der 2007 durch die Lande getourt ist und jedem Bürgermeister eine Umfahrung versprochen hat. Der Hintergrund der Geschichte aber ist folgender: Wenn die ASFINAG (Autobahnen- und Schnellstraßen-Finanzierungs-Aktiengesellschaft) eine Ortsum­fahrung baut, dann zahlt der Bund den Bau und die Erhaltung. Wenn der Bürgermeister oder das Land eine Landesstraße baut, dann zahlt das Land Bau und Erhaltung. Daher wollte der Ludwig, dass die Stadtstraße ein Zubringer zu einer hochrangigen Autobahn ist, damit der Bund zahlen muss. Wenn das nicht der Fall ist, muss die Gemeinde Wien zahlen. Daher geht es jetzt vielleicht auch kleiner.

Die Geschichte ist noch nicht zu Ende: Die Chat-Protokolle werden noch genug Details zu den Praktiken der ÖVP und ihrer Entourage liefern.

Fortsetzung folgt.