von Nikos Chilas
Wenn ein europäischer Mensch in den 1970er Jahren den Wilden Westen pur erleben wollte, musste er nicht die lange USA-Reise antreten. Eine Bahnreise von Saloniki nach Athen hätte genügt.
Die Wiederentdeckung der Langsamkeit auf der eingleisigen Strecke, die fallweise steile Neigung zwischen den Gleisen, die stundenlangen Unterbrechungen der Fahrt sowie das mit Samt gepolsterte Interieur der Abteile schufen eine Atmosphäre, die an die Anfänge der US-Eisenbahn Mitte des Jahrhunderts erinnerte. Nur die „Indianer“ fehlten, um das Klischee aus den einschlägigen Western zu vervollständigen. Dafür war aber die Gefahr einer Entgleisung oder des Zusammenstoßes mit einem entgegen fahrenden Zug nicht viel geringer als in dieser so weit zurückliegenden Zeit .
Seit damals hat sich technisch viel verbessert: Die Züge fahren auf zweigleisigen Strecken und sie sind – in der Theorie – mit moderner Technologie ausgerüstet – auch die Bahnhöfe. Die Gefahr ist aber geblieben. Das Zugunglück von 28. Februar 2023 in Tempi, einem Tal nördlich der Stadt Larissa, dass das Leben von 57 und die Verletzung von mindestens 85 Fahrgästen kostete, ist der Beweis dafür. Dabei hätte es nicht so kommen müssen: Der Frontalzusammenstoß eines Passagierzuges, der mit 160 km Geschwindigkeit unterwegs war, mit einem Güterzug, der auf demselben Gleis in entgegengesetzter Richtung fuhr, wäre vermeidbar – hätte das Sicherungssystem nur normal funktioniert.
Hat es nicht. Laut der Staatlichen Bahninfrastrukturgesellschaft (OSA) war das Überwachungssystem der Strecke 2019 zerstört und seitdem nicht mehr instandgesetzt worden. Das Bahnpersonal ist zudem mangelhaft dafür ausgebildet. ,,Die Milliarden, die über die Jahrzehnte für Technik ausgegeben wurden, sind weggeworfenes Geld“ sagt ein Gewerkschaftsvertreter. ,,Die hochmodernen Sicherheitssysteme sind praktisch tot“. Der Unfall war die direkte Folge solcher Mängel und Auslassungen.
Vergebliche Warnungen
An Warnungen hat es nicht gefehlt . Schon im April 2022 ist Christas Katsioulis, Vorsitzender der Technischen Kommission der ERGOSE (einer Tochtergesellschaft der OSE), wegen der Missstände im Sicherheitsbereich der Bahn zurückgetreten. Seine Warnung, das Fehlen von Fernbedienung und -kontrolle an einer Teilstrecke der Linie Athen-Saloniki, in der die Züge mit 200 km/h verkehren, berge tödliche Gefahren, blieb unerhört. Und dasselbe Schicksal hatte, wenige Tage vor dem Unfall, eine Depesche der Griechischen Gewerkschaft der Lokomotivführer:innen an das Transportministerium, in welcher der katastrophale Zustand der Infrastruktur der Bahn, das chronische Nicht-Funktionieren der Signalanlagen und der elektronischen Sicherung beklagt sowie auf drei Fälle von Entgleisungen, die alle Ende 2022 stattfanden, hingewiesen wurde (Kathimerini vom 2.3.2023).
Den Zugverkehr zu regeln, ist eine Quiz-Frage in Griechenland. Die Angestellten der Bahnstationen haben meistens keine Ahnung davon, was und wann sich auf den Bahngleisen bewegt. Ihr Kompass ist in der Regel die berufliche Erfahrung und die Intuition. ,,Wir wissen immer, wo die Delivery-Träger mit unseren Pizzas sind, nie aber unsere Züge“ sagte einer von denen.
All diese Fakten strafen die ursprüngliche Behauptung des konservativen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis Lüge, der Unfall wäre auf einen „menschlichen Fehler“ zurückzuführen. Wahr an dieser Behauptung ist nur, dass der Stationsvorsteher von Larissa ein falsches Signal gab, das den fatalen Zusammenstoß verursachte. Ebenso wahr ist aber, dass er, a) nicht genau wusste, wo sich die Züge befanden, b) keine echte Ausbildung für diesen Job hatte und insofern total überfordert war, und c) nicht über ein Sicherheitssystem, das seinen Fehler quasi automatisch hätte korrigieren können, verfügte. Der Fehler lag also in erster Linie am System und an jenen, die es im fehlerhaften Zustand hielten.
Der GAU der Privatisierung
Die Mutter aller Bahnunfälle in Griechenland ist zweifellos die Privatisierung der Eisenbahn. Sie hatte bereits 2005 unter der konservati- ven Regierung der Nea Demokratia begonnen, wurde aber erst nach 2010 im Zuge der griechischen Finanz- und Wirtschaftskrise unter dem Druck der Gläubiger des Landes richtig forciert. Die Privatisierung gelang – was u.a. die Entlassung von tausenden Bahnbeschäftigten, die Stilllegung von vielen Bahnstrecken, die Einschränkung der angebotenen Dienstleistungen und die saftige Erhöhung der Fahrkartenpreise zur Folge hatte. Dazu kam eine bis dato unvorstellbare Verschlechterung der Ausbildung (sie dauert nur noch wenige Monate, statt, wie früher, mehrere Jahre), die sich negativ auf die Sicherheit auswirkt. Die innerbetrieblichen Schulungen sind größtenteils abgeschafft worden. Das Wissen der Alten wird dadurch nicht an die Jüngeren weitergegeben. ,,So droht die Arbeitserfahrung von Generationen von Bahntechniker:innen unwiderruflich verloren zu gehen“ kommentierte die Wochenzeitung Epohi (5.3.2023).
Die Privatisierung fiel leicht, weil sie auch von der Koalitionsregierung von Konservativen und Sozialdemokraten unter Antonis Samaras (2012 – 2015) gewollt war. Das staatliche Bahnuntgernehmen OSWE wurde in fünf Teile zerlegt, von denen die zwei (Trainose und Eessty) feilgeboten wurden. Der wichtigste davon, Trainose, ist 2016 für einen Spottpreis an die Hellenic Train, eine Tochtergesellschaft der italienischen Ferrovie dello Stato Italiane (FS) gegangen: 45 Millionen plus die Schulden von OSE. Demgegenüber standen eine Bahnflotte und ein blühendes Bahngeschäft, dessen Wert in die Milliarden geht.
Pikanterie am Rande: Der letzte Akt des Verkaufs wurde von der von Syriza angeführten Regierung vollzogen. „Die Linksregierung ist im Bereich der Privatisierungen deutlich erfolgreicher als ihre bürgerlichen Vorgänger“, erkannte die Neue Zürcher Zeitung (16.7.2016). Allerdings hat Syriza den ursprünglich programmierten „plötzlichen Tod“ der OSA, der den Verkaufspreis des Unternehmens gegen Null senken sollte, abgewendet – um dies dann als Paradebeispiel eines erfolgreichen Widerstandes gegen die Gläubiger zu verkaufen. Seitdem ist das Bahnwesen in Griechenland zweigeteilt: Der sehr einträgliche Passagier- und Gütertransport wird von der FS-Tochter Hellenic Train betrieben, die höchst defizitäre Erhaltung der Bahninfrastruktur von der staatlichen OSA.
Opfer Nr. 2: die Regierung Mitsotakis
Das Bahnunglück hat auch ein zweites Opfer: Die Regierung Mitsotakis. Ihr ursprüngliches Insistieren auf den „menschlichen Fehler“ als Ursache des Unglücks hat sie viele Sympathie gekostet. Ihre Reaktion darauf war, erstens, die Wahlen, die ursprünglich für Anfang April vorgesehen waren, auf einen unbestimmten Termin zu vertagen; und zweitens, die Massendemonstrationen, die im Namen der Opfer in vielen Städten stattfinden, mit Gewalt zu stoppen. Der Wilde Westen kehrt zurück nach Griechenland – nicht mit Pfeilen und Revolverkugeln, wohl aber mit chemischen Granaten und Knüppeln.
Der Artikel erschien zuerst in Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie Heft 61, Frühjahr 2023, auf S 65 f.,
siehe: https://www.lunapark21.net/inhalt-heft-61/#more-9934
Italienische Bahn FS
Yannis Varofakis, Ex-Finanzminister in der Syriza-Regierung, behauptete, die italienische Staatsbahn, Muttergesellschaft der Hellenic Train, sei „marode“. Die Fs hat ihre grichische Erwerbung in einem maroden Zustand belassen beziehungsweise sie dahin versetzt. Die FS lässt, wie die Deutsche Bahn, auf einem Hochgeschwindigkeitsnetz schicke Züge, „le Frecce“, rollen. Gleichzeitig baut sie Nebenstrecken ab und lässt trausende kleinere Bahnhöre verfallen. Griechenland ist für die FS-Top-Manager eine Nebenstrecke. Im Übrigen hat die FS Erfahrungen mit schrecklichen Bahnunfällen – und wie man die Verantwortung leugnet. Am 29. Julni 2009 entgleiste in Biareggio, Ligurien, ein Güterzug, beladen mit Butan. Es kam zu Explosionen, die 32 Menschen dsa Leben kosteten. Der damalige FS-Generaldirektor Mauro Moretti wurde zu einer hohen Haftstrafe verurteilt – die er nie antreten musste, da er in Revision ging und diese sich bis zur Verjährung hinzug. Als Dankeschön wurde Moretti Chef von Leonardo, des größten europäischen Rüstungskonzerns.
LP21-Redaktion
Nikos Chilas ist – zusammen mit Winfried Wolf – Autor des Buches „Griechische Tragödie“, das 2016 und 2018 auf Deutsch und – in deutlich erweitererter Fassung – 2020 in griechischer Sprache erschien.