Rezension von Angela Klein
Der Mediziner und Historiker Karl Heinz Roth hat eine umfassende Studie über die Pandemie, ihre Bekämpfung und ihre Folgen vorgelegt.* Die Themen, die er untersucht, reichen vom Ursprung der Pandemie in China, ihre Ausbreitungswege und Besonderheiten bis zu ihren medizinischen, sozialen und ökonomischen Folgen. Dabei ist sein Ansatz von vornherein global.
Die Arbeit ist ungeheuer materialreich und detailversessen. Dennoch lässt einen das Buch in gewisser Weise ratlos. Vielleicht wurde es zu früh geschrieben: Da es den Verlauf der Pandemie von Dezember 2019 bis Anfang Mai 2021 skizziert und die Maßnahmen der Regierenden in diesem Zeitraum bewertet, kann es die neuen Entwicklungen, die mit der dritten und vierten Welle eingetreten sind, nicht behandeln, die vielleicht das eine oder andere Urteil korrigiert hätten.
An den Anfang seiner Untersuchung stellt Roth «das große Rätsel»: Warum wurden die Empfehlungen der Nationalen Pandemiekommission, die diese seit 2012 veröffentlicht und mehrfach aktualisiert hatte, von den Regierenden nicht befolgt? Hierin sieht Roth zurecht die «Ursünde», die die deutsche Regierung allerdings mit allen anderen teilt, einschließlich der chinesischen. Erst durch sie wurde der Geist aus der Flasche gelassen und alle bisherigen Versuche, ihn wieder einzufangen, haben nicht gefruchtet.
Warum aber haben die Regierenden die Empfehlungen nicht befolgt? Die Erklärung klingt ein bisschen bemüht: Nachdem die Atomschutzübungen in den 90er Jahren eingestellt worden seien, sei dieses Personal in den Katastrophenschutz übernommen worden und habe nun Pandemieübungen abgehalten, die mit völlig unrealistischen, katastrophistischen Annahmen bis hin zum Zusammenbruch des Gesundheitssystems operiert hätten. Deshalb habe man eine spezielle Vorbereitung auf einen Pandemiefall für überflüssig gehalten. Alle Vorsorgemaßnahmen für die allgemeine Infektionshygiene wurden nun ausgeklammert, schreibt er, stattdessen wurden unsichere Impfstoffe und wirkungslose Medikamente gelagert. Auch der zunehmende Einfluss der großen Pharmakonzerne auf die WHO hätten in diese Richtung gewirkt.
Roth belegt seine Lösung des «großen Rätsels» nicht, leitet sie nur her. Freilich stellt sich die Frage, ob zur Begründung nicht gereicht hätte, worauf er viel später im Buch detailliert hinweist: dass nämlich das Gesundheitswesen – nicht nur in Deutschland – systematisch unter dem neoliberalen Diktat abgebaut wurde und mit ihm auch vorhandene, im Sinne des Pandemieplans notwendige Vorkehrungen wie Schutzanzüge, Masken, Notbetten, Personal usw.
Der Vorrang des Impfens vor der nichtpharmazeutischen Vorsorge ist ja auch nicht neu: Der Streit, was wichtiger sei, die Einwirkung auf die Umwelt oder der Impfstoff, begleitet die Medizin seit Ende des 19.Jahrhunderts. Sie wurde damit beantwortet, dass beides notwendig ist. Pandemiepläne enthalten deshalb auch beides, aber kapitalistische Regierungen tendieren dazu, ersteres zu vernachlässigen, weil es nur ein Kostenfaktor ist.
Nur auf die Ursünde zu verweisen und von hier aus alles aufzurollen scheint zudem etwas selbstgerecht, wenn der Autor im Vorwort selbst zugibt, das zum damaligen Zeitpunkt verfügbare Wissen habe für eine belastungsfähige Stellungnahme nicht gereicht, und er selbst noch bis März 2020 die Pandemie auf die leichte Schulter genommen habe. Er hat sich dann zwei Jahre zurückgezogen, um die Seuche zu studieren. Die Zeit hatte die Politik nicht.
Wie das Virus sich wirklich entwickelt, haben wir alle erst lernen müssen. Denn, darauf legt Roth großen Wert, es unterscheidet sich von früheren SARS- und auch Influenzaviren, weil es im Anfangsstadium unerkannt bleibt und trotzdem ansteckend ist. Das macht es so schwer zu erkennen, wer krank ist und sich von anderen fernhalten muss und wer nicht. Deshalb sind auch alle akuten Präventionsmaßnahmen (Maske, Test, Abstand, Quarantäne) zwangsläufig unspezifisch, ihre Durchsetzung setzt auf eine gesamtgesellschaftliche Solidarität – und das in einer sozial zutiefst gespaltenen Gesellschaft.
Vorsorge als Thema im Klassenkampf
Der Zusammenhang mit der neoliberalen Sparpolitik ist so einfach wie entscheidend. Seine Missachtung böte ausreichend Stoff für eine Breitseite gegen das kapitalistische System und könnte den Schwurblern den Wind aus den Segeln nehmen. Doch leider steht er nicht im Mittelpunkt von Roths Arbeit. Stattdessen konzentriert er sich auf die Kritik am Lockdown – eine Maßnahme, die konsequent und flächendeckend nur in den Monaten März und April durchgesetzt wurde, dann unterbrochen und im darauffolgenden Herbst nur noch «light» durchgeführt wurde.
Sie hat, das beschreibt er, regelmäßig dazu geführt, dass Inzidenzen und die Belastungen in den Krankenhäusern zurückgingen, während sie nach Lockerungsphasen, die zu früh kamen oder zu spät beendet wurden, wieder in die Höhe schnellten. Roth behauptet, der Lockdown habe auf die Todesfälle keine Auswirkung gehabt. Darüber streiten die Gelehrten. Die Johns Hopkins University hat gerade eine Metastudie herausgebracht, die diese Behauptung untermauern möchte, doch die Studien, auf die sie sich stützt, kommen vielfach zu einem anderen Ergebnis.
Die negativen sozialen und psychischen Folgen eines Lockdowns sind unbestreitbar, und mit Leichtigkeit lässt sich den Regierenden Maßlosigkeit, Inkohärenz und vor allem Ignoranz gegenüber den ärmeren Bevölkerungsschichten nachweisen, die am meisten unter der Pandemie zu leiden hatten. Roth zählt diese Folgen alle auf. Dass Lockdowns allerdings umso notwendiger werden – wenigstens, solange es keinen Impfstoff gibt –, je weniger vorsorgende Maßnahmen getroffen wurden, liegt auf der Hand. Wenn er ein Fehler war, dann also ein abgeleiteter Fehler – schlimm genug, aber der Hase liegt dann woanders im Pfeffer.
Roth schlägt aber einen anderen Bogen. Seine These lautet: Angesichts der Besonderheiten des Virus ist es nur begrenzt möglich, es einzudämmen. Ein pauschaler Lockdown bringt deshalb nichts, kann die Ausbreitung des Erregers höchstens verlangsamen. Stattdessen plädiert er dafür, der Abschirmung der chronisch Kranken und Alten die höchste Priorität einzuräumen, «dann würden die Hospitalisierenden und Sterbefälle rasch zurückgehen». Der Rest kann den Selbstschutzmaßnahmen der Bevölkerung überlassen werden, für die Tests, Masken und ähnliches bereitgestellt werden muss.
Da ist er nicht weit von der Politik entfernt, die die Bundes- und Landesregierungen spätestens seit der dritten Welle und zumal seit Omikron immer deutlicher betreiben. Überspitzt gesagt und auf die gegenwärtige Situation übertragen läuft sie darauf hinaus: Impfpflicht für die Alten, Kranken und Beschäftigten in Krankenhäusern und Heimen; der Rest kann durchseucht werden, der stirbt ja nicht daran. Auch für Roth sind die Todesfälle der einzige Maßstab, an dem staatliche Intervention zu messen ist; Spätfolgen, die dramatisch sein können, gehören nicht dazu.
Vor allem aber fragt man sich, wie die Alten und Schwerkranken so vom Rest der Welt abgeschottet werden können, dass sie mit dem Virus nicht in Berührung kommen. Denn dieses wird schließlich von außen in die Pflegeheime getragen, die Beschäftigten dort wären also ebenfalls abzuschirmen, ebenso deren Umgebung. Wenn man die Pandemie aber national nicht bekämpfen kann, nur global, dann kann man noch viel weniger ein Krankenhaus oder Altenheim zu einer Insel im Meer von Infizierten machen – jedenfalls nicht, wenn man keine chinesischen Methoden anwenden will.
Selbstschutz – keine individuelle Maßnahme
Das Konzept des Selbstschutzes ist zentral, Roth behandelt es jedoch allein auf der individuellen Ebene. Kollektive Maßnahmen des Selbstschutzes wie sie etwa Interessenvertretungen in Betrieben ergreifen könnten – und oft genug gegen den Kapitaleigner durchkämpfen müssen –, geraten Roth nicht in den Blick.
Dabei gibt es epidemiologische Studien aus England wie aus Kalifornien, die klar zeigen, dass prekär Beschäftigte in der Massenproduktion, Landwirtschaft, Lebensmittelindustrie, Logistik, im Sicherheitsgewerbe, in Taxibetrieben und in allen möglichen Formen der Pflegearbeit ein überdurchschnittliches Risiko hatten, an Covid-19 zu erkranken und zu sterben – teilweise zweimal so hoch wie in der übrigen Bevölkerung.
Das sind handfeste Gründe für vorübergehende Stilllegungen, vor allem aber für die Durchsetzung der geltenden Arbeitsschutzregeln und für grundlegende Änderungen der kapitalistischen Arbeitsbedingungen. Die betriebliche Ebene ist für Roth aber kein Kampfplatz gegen die Pandemie.
Gegen Ende des Buches spricht Roth davon, es brauche zwischen dem Lockdown und der Durchseuchung einen «dritten Weg». Vergeblich sucht man nach einer Stelle, wo er ihn ausführen würde. Es bleiben nur eingestreute Hinweise auf den Schutz der Alten und Selbstschutz. Roth kommt damit einer liberalen Position sehr nahe. Das Rückgrat seiner Staatskritik bildet die Verletzung der Freiheitsrechte, nicht die Verletzung des sozialstaatlichen Schutzauftrags, den der Staat deshalb – und bewusst – verfehlt, weil ihm die Interessen der Pharmaindustrie wichtiger sind und weil er das Risiko der Erkrankung und ihre Folgen auf den Einzelnen abwälzen, mithin privatisieren will. Dieses Verhalten liegt vollständig auf der Linie der neoliberalen Politik der letzten 25 Jahre.
Das arbeitet Roth aber nicht heraus, weil der Sozialstaat für ihn im Zusammenhang mit der Pandemie kein Thema ist. Ein funktionierender Sozialstaat ist aber Bedingung für mehr Freiheit, kein Gegensatz. Wer täglich um seine Existenz kämpfen muss, für den gibt es keine Freiheit ohne soziale Sicherheit. Freiheit muss man sich leisten können.
Für die Linke erschließt sich der Freiheitsbegriff vom Sozialen her; sie muss aufpassen, dass sie Freiheit und soziale Sicherheit nicht in Gegensatz zueinander bringt.
Am Schluss spricht Roth vom Entstehen eines biotechnisch/medizinischen Komplexes, der an die Seite des militärisch-industriellen tritt. Ein solcher Komplex lebt davon, dass die Menschen krank sind und nicht gesund. Deswegen ist es höchste Zeit, dass Linke für die Vorsorge kämpfen.
*Karl Heinz Roth: Blinde Passagiere. Die Coronakrise und die Folgen. München: Verlag Antje Kunstmann, 2022. 503 S., 30 Euro.