Von Andrei Losin (Wien)

In Österreich, Deutschland und anderen Ländern Westeuropas leben wir in einer Idylle. Blicken wir aber nach Osten und Süden, sehen wir auf dem Balkan, wie der Krieg dort weiter schwelt, und die Ukraine geht in Rauch in Trümmern auf, wo sie noch vor kurzem eine bessere wirtschaftliche Entwicklung erhofft hat. Und blicken wir Richtung Norden und Westen, sehen wir, wie unzählige Waffen von allerlei Produktion, Herkunft und Qualität allesamt Richtung Ukraine eilen. Es sind die Hilfslieferungen des Westens.

Wir werden eine Bluthochzeit erleben, die vom Imperialismus beider Lager gefeiert wird, vom Westen und Russland gemeinsam.

Ein unerträglicher Anblick! Wir Linke haben gehofft, nie wieder ein solches Schauspiel in Europe zu sehen zu. Krieg, Ausbeutung, Morden, alle diese Attitüden des Imperialismus, die wollen wir nicht!

Wie können wir der Ukraine und den russischen Völkern helfen, den Krieg zu beenden? Was ist unseren Kräften angemessen?

„Die Waffen nieder!“ sagen die einen.

„Völlig unmöglich!“, sagen die anderen. Denn wenn Krieg sofort aufhört, was wird dann aus den okkupierten Territorien? Was wird mit Annexionen und Kontributionen? Wenn es Verhandlungen gibt, werden auf beiden Seiten die gleichen Kontrahenten sitzen, die vor dem Krieg jahrelang vergeblich miteinander verhandelt haben.

Wir wollen nicht warten, bis die Meinungsverschiedenheiten im linken Lager aufhören.

Uns schwebt ein anderer, unblutiger Weg vor, der Ukraine zu helfen. Einer, der Putins Reservoir an Rekruten schmälert und damit die Ukraine stärkt – russische Wehrdienstverweigerer, die vor der Einberufung fliehen.

Der Westen stellt sich taub

Es sind vor allem junge Männer im wehrpflichtigen Alter, aber auch Frauen, deren Beruf sie zum Wehrdienst verpflichtet. Sie fliehen vor dem Dienst in Putins Armee und dem sehr wahrscheinlichen Tod in der Ukraine. Sie wollen nicht töten und nicht getötet werden. Ihr Gewissen lässt nicht zu, dass sie Teil dieser schreckliche Maschinerie werden.

Sie fliehen hauptsächlich in die Nachbarländer Russlands, für die keine Visumspflicht besteht – Kasachstan, Georgien, Armenien, die Mongolei. Diese Länder gewähren einen Aufenthalt, aber meist nur für kurze Dauer, etwa für eine Jahr. Niemand weiß, was danach geschieht. Ihr Status danach ist ungewiss. Nach abgelaufener Aufenthaltsfrist besteht die reale Gefahr, zurück nach Russland abgeschoben zu werden, wo ihnen Gerichtsverfahren, Gefängnis und Einberufung in der Armee sicher sind.

Verlässliche Zahlen sind schwer zu gewinnen. Allgemein wird angenommen, dass es um über eine halbe Million Flüchtlinge geht. Unter ihnen gibt es IT-Spezialist:innen und ausgebildete Fachkräfte in europäischen Mangelberufen. Viele leben in der Hoffnung, ein Visum für eines der begehrten Länder zu erhaschen. Der Rest versucht, wenn überhaupt, sich mit halb legalen Jobs – da nicht im Besitz von Arbeitsbewilligungen – über Wasser zu halten. Sie flüchteten meist spontan und in Eile, ihr Hab und Gut, ihr gewohntes Leben hinter sich lassend. Ohne Geld.

Im April 2023 hat die russische Regierung beschlossen, neue Soldaten online zu rekrutieren. Das bedeutet, dass russische Staatsbürger:innen von nun an ihre Einberufungsurkunde auf ihr elektronisches Bürger:innenkonto erhalten werden. Wenn dieses Dokument verschickt wird, ist es russischen Bürger:innen gesetzlich verboten, das Land zu verlassen, eine Wohnung zu verkaufen oder zu kaufen oder Kredite bei der Bank aufzunehmen. Diejenigen, die im Ausland weilen, sind verpflichtet, sich der zuständigen Einberufungsbehörde zu stellen. Sich nicht zu stellen wird als Wehrdienstverweigerung gewertet und kriminalisiert. Ein Auslieferungsantrag wird an das jeweilige Aufenthaltsland geschickt und die Auslieferung nach Russland verlangt. Über etliche solche Fälle wurde bereits in den Medien berichtet.

Der Westen will von diesen Leuten keine Notiz nehmen. Die wenige, die es in die EU schaffen, werden in das Herkunftsland abgeschoben. Dies geschah zum Beispiel einem tschetschenischen Flüchtling, der es über die Türkei und Kroatien nach Österreich schaffte. Sein Asylantrag wurde abgelehnt und die Ausreise nach Kroatien befohlen. Es ist bekannt, dass Kroatien in solchen Fällen die Flüchtlinge in die Türkei abschiebt. Die Türkei lässt diese aber nicht einmal ins Land, sondern verfrachtet sie direkt mit dem Flugzeug zurück nach Russland. Derzeit wartet er in einem Lager in Österreich auf das Ergebnis seines zweiten Asylantrags.

Die Situation der „wirklichen Deserteur:innen“, derjenigen, die bereits eingezogen wurden und dann aus der Armee flüchteten, ist kaum besser.

Beckmessertum

So rüsten sich die EU und Österreich zur Verteidigung der Festung Europa. Selbst von linken Kreisen ist weder Hilfe noch Anteilnahme zu erwarten. Man hört hier Äußerungen der Art: „man kann nicht alle Deserteure ins Land lassen“, „unter ihnen können auch Kriegsverbrecher sein“ oder „es können darunter die Putin-Sympathisanten und Kriegsbefürworter sein, die bloß ihr eigenes Leben retten wollen“.

Wir sagen – was soll das? Für uns sind sie die Helden.

Auch wenn sie bloß ihr Leben retten wollen, leisten sie trotzdem einen Beitrag zur Schwächung von Putins Armee. Sie töten nicht mehr.

Ist es nicht an der Zeit mit solchen Diskussionen aufzuhören?

Diesen Menschen zu helfen, verlangt nicht eine Stellungnahme zum Krieg in Ukraine. Es geht schlicht um Menschenleben und Menschenrechte. Recht auf Leben und Recht auf freie Wahl des Aufenthaltsorts. Es ist unsere humanitäre Aufgabe, diesen Menschen zu helfen!

Deshalb verlangen wir für diese Flüchtlinge:

1. Erleichtertes politisches Asyl

2. Aufenthaltsgewährung in den Ländern, wo die Flüchtlinge gerade sind, indem die EU, ähnlich wie in Fall der Türkei und Syriens, diesen Ländern materielle Unterstützung dafür zukommen lässt. Damit die Flüchtlinge dort länger bleiben können, sie eine materielle Unterstützung genießen und Arbeitsplätze für sie geschaffen werden.
Es würde allen Seiten zum Vorteil gereichen: Wirtschaftlich schwachen Ländern würde geholfen, und die Bevölkerung in den Ländern der EU müssten keine „Migrantenhorden“ befürchten;

3. Wehrdienstverweigerer müssen als Deserteur:innen anerkannt werden.

Das ist eine unblutige Hilfe für die Ukraine. Keine Kanonen, keine Raketen.

Jeder, der vor der Mobilmachung flüchtet, jeder Deserteur aus Putins Armee erhöht die Chance der Ukraine, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Ein Deserteur erlaubt wahrscheinlich einem ukrainischen Soldaten zu überleben.

Geben wir ihnen also eine Chance auf eine menschliche Existenz. Würdigen wir sie!

Andrei Losin
#Russians Against War_Vienna, LINKS-Wien