Gegen den Krieg in der Ukraine: Weder Washington noch Moskau, sondern internationalistischer Anti-imperialismus

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2023-05-03T15:15:31+02:0022. Februar 2022|
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Gegen den Krieg in der Ukraine: Weder Washington noch Moskau, sondern internationalistischer Anti-imperialismus

Weder Washington noch Moskau, sondern internationalistischer Anti-imperialismus

Von Spectre-Redaktion | 22.02.2022

Die Regierung Biden schürt die Angst vor einem drohenden Krieg mit Russland wegen der Ukraine. Das Regime von Wladimir Putin hat mehr als 100.000 Mann russische Truppen an den Grenzen der Ukraine zusammengezogen. Die USA und die NATO-Mitgliedstaaten leisten Hilfe, liefern Waffen und mobilisieren Truppen, um die Ukraine auf die Konfrontation mit Moskaus Truppen vorzubereiten. Europa und die Welt stehen am Abgrund einer schrecklichen Feuersbrunst.

In Wirklichkeit tragen die USA die Hauptverantwortung

In dieser explosiven Situation müssen die Sozialist:innen in den USA in erster Linie eine klare Haltung gegen Washingtons Kriegstreiberei einnehmen und sich gleichzeitig gegen Russland und seine imperialen Ambitionen stellen. Wir sollten eine friedliche Beilegung der Krise fordern, die das Recht der Ukraine auf Selbstbestimmung anerkennt und die Rechte der nationalen Minderheiten des Landes schützt.

Ein imperialer Konflikt

Die Behauptung von Washington, dass Russland die Schuld an dem Konflikt trägt, ist schlichtweg falsch. In Wirklichkeit tragen die USA die Hauptverantwortung. Die Clinton- und die Bush-Regierung haben die NATO nach Osteuropa ausgedehnt, es aus Russlands früherer „Einflusssphäre“ entfernt und der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Vorherrschaft Washingtons untergeordnet.

Washingtons Interessen in der Ukraine und in ganz Osteuropa sind räuberischer Natur. Es benutzt die NATO, um seine Herrschaft über eine neoliberale Ordnung durchzusetzen, die die Region auf der Suche nach billigen Arbeitskräften und natürlichen Ressourcen ausbeutet.

Der ganze Zweck der NATO ist, um die berüchtigte Bemerkung ihres ersten Generalsekretärs Lord Ismay zu paraphrasieren, „to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down“ (die Russen draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten). Die USA kleiden dieses imperiale Projekt wie immer in die Sprache von Demokratie und Menschenrechten. Nach dem Gemetzel und den Kriegsverbrechen in Afghanistan und im Irak klingt diese Rhetorik jedoch hohl.

Russland verfolgt ebenfalls räuberische Interessen. Russland ist eine kapitalistische Petro-Macht, die ihre Waffen an eine Reihe ruchloser Verbündeter wie Baschar al-Assad in Syrien verkauft, dessen Regime Putin in einem konterrevolutionären Krieg gegen die Bevölkerung des Landes unterstützt hat. Russland will seine Kontrolle über seinen früheren Einflussbereich gegenüber den USA und der NATO wieder geltend machen.

Seine Behauptungen über den Antiimperialismus sind nicht glaubwürdiger als Washingtons Berufung auf die Menschenrechte. Putins Niederschlagung des Aufstandes in Kasachstan ist nur das jüngste Beispiel für das Bestreben seines Regimes, den russischen Staat wieder als Großmacht zu etablieren.

In diesem Konflikt zwischen den USA und Russland sollten wir uns keine Illusionen über die EU machen. Sie ist kein „neutraler Vermittler“. In der Tat war der Versuch der EU, die Ukraine in ihren wirtschaftlichen Orbit zu integrieren, einer der Auslöser für die russische Aggression in diesem Land. Es trifft zu, dass derzeit einige EU-Staaten im Vergleich zu den USA weniger erpicht auf einen Krieg um die Ukraine sind, aber nicht aus einer pazifistischen Gesinnung heraus.

Die meisten dieser Staaten haben ihre eigene schreckliche Geschichte des Kolonialismus. Und viele haben mit den USA in ihren brutalen Kriegen im 20. Jahrhundert und bis ins neue Jahrtausend hinein kollaboriert, am schrecklichsten im Irak und in Afghanistan.

Ihre Zurückhaltung ist mehr als alles andere das Ergebnis ihrer Abhängigkeit von russischem Gas und Öl. Deutschland hat sich beispielsweise bereit erklärt, russisches Gas über die gerade fertig gestellte Pipeline Nord Stream 2 zu beziehen, wobei die endgültige Genehmigung in der Klemme zwischen dem konkurrierenden Interesse, die europäischen Verbündeten und die USA zu beschwichtigen, und dem Bedarf an billigem russischen Gas steckt.

Ein gefährlicher und langwieriger Konflikt

Während sich die USA und Russland in militärischem Spiel mit dem Feuer üben, versuchen sie aktiv eine diplomatische Einigung zu erzielen. Es ist unwahrscheinlich, dass eine solcher Deal zustande kommen kann. Die USA werden Russlands Forderung, die NATO solle ihre Expansion in Osteuropa stoppen, nicht zustimmen, und die USA werden Russlands Versuch, seinen früheren Einflussbereich zurückzuerobern, nicht tolerieren. Diese Tatsachen machen einen Krieg zu einer gefährlichen Möglichkeit.

Beide Mächte haben viel zu gewinnen, wenn sie die Feindseligkeiten verschärfen. Putin will den Widerstand im eigenen Land gegen seine Korruption, die Bereicherung der russischen Milliardärsklasse und die Unterdrückung des politischen Widerstands neutralisieren. Er hofft, dass eine Welle des Groß­machtnationalismus gegen die USA und die NATO seine schwindende Unterstützung im eigenen Land stärken wird. Ermutigt wird er durch die tiefe Spaltung des Westens und ‒ dank der dramatisch gestiegenen Öl- und Erdgaspreise ‒ durch den wirtschaftlichen Aufschwung Russlands.

Biden steht einer Nation vor, die von einer Krise in die nächste stolpert. Er sieht sich mit einer aggressiven republikanischen Opposition konfrontiert, die ihm vorwirft, er sei ein schwacher imperialer Präsident, und die auf seinen chaotischen Rückzug aus Afghanistan hinweist. All dies hat seinen Versuch untergraben, die Verbündeten der USA zu vereinen, um China und Russland in Schach zu halten. Eine Demonstration der Schwäche gegenüber der Ukraine würde diese Bemühungen weiter gefährden, während eine Demonstration der Stärke es ihm ermöglichen könnte, seine innenpolitische Opposition zu neutralisieren, seine Popularität in einem Ausbruch nationalistischer Kriegsbegeisterung wiederherzustellen und die imperiale Führungsrolle der USA wieder zu behaupten.

Wir müssen auch „Gegentrends“ erkennen, die die Wahrscheinlichkeit eines Krieges mindern. Weder die USA noch Russland glauben, dass ein tatsächlicher militärischer Konflikt in ihrem Interesse ist. Er würde die fragile Weltwirtschaft, insbesondere in Europa, stören.

Er würde die bereits angespannten Beziehungen zwischen den USA und China, das deutlich gemacht hat, dass es auf der Seite Russlands stehen wird, weiter belasten. So würde jeder Konflikt zwischen den USA und Russland China auf die Seite Moskaus ziehen und die gesamte neoliberale Weltordnung destabilisieren.

Das wahrscheinlichste Ergebnis ist daher ein langwieriges Patt wegen der Ukraine und sogar ganz Osteuropa. Die Militarisierung dieses Patts bedeutet, dass alle möglichen Ereignisse, einschließlich Unfälle, zu der schrecklichen unbeabsichtigten Folge eines Krieges führen können.

Der Hauptfeind steht im eigenen Land!

Die Sozialist:innen in den USA und in der ganzen Welt müssen in dieser Krise eine klare Antikriegsposition einnehmen, die auf der Erkenntnis beruht, dass weder Washington noch Moskau eine Kraft des Fortschritts darstellen. Beide Seiten haben nur räuberische, imperialistische Ambitionen.

Hier in den USA besteht unsere Hauptaufgabe darin, unserer eigenen Regierung entgegenzutreten. Der Hauptfeind der Arbeiter:innen und der unterdrückten Völker in den Vereinigten Staaten sitzt nicht im Kreml, sondern in Washington und an der Wall Street ‒ der US-Staat und seine herrschende Klasse.

Wie zu erwarten, steht die überwältigende Mehrheit der Demokratischen Partei geschlossen hinter Biden. Selbst einige so genannte Progressive wie der Abgeordnete Ro Khanna unterstützen Biden, während andere schweigen. Nur einige wenige Ausreißer:innen stellen sich offen gegen die Regierung Biden.

Auch die Republikaner haben sich im Großen und Ganzen hinter die Regierung gestellt. Wie fast immer sind sich die beiden kapitalistischen Parteien, die sich in innenpolitischen Fragen (mit Ausnahme der Militärbudgets) an die Gurgel gehen, bei der Durchsetzung der imperialen Vorherrschaft Washingtons einig.

Gegen diese Einheitsfront der herrschenden Klasse sollten wir dem weisen Rat des deutschen Revolutionärs Karl Liebknecht folgen. Während des Ersten Weltkriegs erklärte er: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“ Zugleich stellte er klar, dass dies nicht der einzige Feind ist. Als antiimperialistischer Internationalist verstand er den Kampf der deutschen Arbeiter:innen als Teil eines globalen Kampfes der gesamten Arbeiterklasse und der unterdrückten Völker gegen die kapitalistischen Herrscher jedes einzelnen Landes der Welt.

In diesem Sinne erklärte er: „Der Hauptfeind des deutschen Volkes steht in Deutschland: der deutsche Imperialismus, die deutsche Kriegspartei, die deutsche Geheimdiplomatie. Diesen Feind im eigenen Lande gilt’s für das deutsche Volk zu bekämpfen, zu bekämpfen im politischen Kampf, zusammenwirkend mit dem Proletariat der anderen Länder, dessen Kampf gegen seine heimischen Imperialisten geht.“ https://www.marxists.org/deutsch/archiv/liebknechtk/1915/05/feind.htm

Unsere internationalistische Verantwortung besteht in Anbetracht des Kriegs darin, den militärischen Plänen unserer eigenen herrschenden Klasse entgegenzutreten und gleichzeitig die Bemühungen fortschrittlicher Kräfte im Ausland zu unterstützen, den Manövern ihrer Herrschenden entgegenzutreten. Nur ein solcher globaler Kampf kann die kapitalistischen Wurzeln der imperialen Rivalität zerreißen und dauerhaften Frieden sichern. Wir müssen mit Karl Liebknecht ausrufen: „Nieder mit den Kriegshetzern diesseits und jenseits der Grenze!“

Gegen Washingtons Rivalen und für Selbstbestimmung

Wir dürfen uns nicht die Illusion leisten, dass „der Feind meines Feindes mein Freund“ sei. Zu viele Linke, darunter auch das International Committee der Democratic Socialists of America, ignorieren Russlands Großmachtstreben und die Tatsache, dass seine Aggression gegen die Ukraine die Krise ausgelöst hat. Noch schlimmer ist, dass einige Linke Russland weiterhin als so genannte „antiimperialistische Macht“ unterstützen, die legitime Gründe habe, sich gegen die USA zu stellen.

Eine solche Haltung verrät das Recht des ukrainischen Volkes auf Selbstbestimmung gegen russische Bedrohungen sowie die Solidarität mit den russischen Arbeiter:innen und mit den unterdrückten Völkern, die gegen Putins tyrannische Herrschaft kämpfen. Sie isoliert die Kriegsgegner:innen auch von der Mehrheit der US-Bevölkerung, die zwar der Kriegstreiberei der USA skeptisch gegenübersteht, aber auch die russische Kriegstreiberei ablehnt.

In diesem Zusammenhang ist zu wiederholen, dass Russland ein kapitalistischer Staat mit eigenen imperialen Interessen ist, auch wenn es weniger mächtig ist als die USA. Wir sollten nicht vergessen, dass Putin die extreme Rechte in der ganzen Welt aktiv unterstützt, auch innerhalb der Republikanischen Partei. Es ist kein Zufall, dass Tucker Carlson auf Fox News die USA auffordert, Russland gegen die Ukraine zu unterstützen.

Bedingungslose Ablehnung eines Krieges zwischen den USA und Russland bedeutet nicht Gleichgültigkeit gegenüber den Rechten und der Freiheit der Menschen in der Ukraine. Das Land wurde historisch von Russland sowohl unter dem Zarismus als auch unter der stalinistischen Sowjetunion unterdrückt. Washington hofft, es für seine eigenen imperialen Zwecke zu nutzen.

Die sozialistische Linke muss daher für das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine eintreten. Nur das ukrainische Volk sollte über sein Schicksal entscheiden. Sozialist:innen sollten auch die Rechte der nationalen Minderheiten in der Ukraine verteidigen, einschließlich der russischsprachigen im Donbass im Osten des Landes. Ihre Sprache muss offiziell anerkannt werden, und sie müssen das Recht auf politische Autonomie innerhalb der Ukraine haben.

Weder die USA noch Russland werden sich für diese Rechte einsetzen. Vielmehr hat ihr Eingreifen die rechten Kräfte auf allen Seiten gestärkt und die nationale Spaltung und Unterdrückung verschärft und vertieft. Jede Lösung, die die Unabhängigkeit der Ukraine und die Rechte ihrer nationalen Minderheiten respektiert, muss vom ukrainischen Volk ausgehen, nicht von Großmächten wie den USA oder Russland.

Internationalismus von unten

Sozialist:innen müssen fortschrittliche Kräfte unterstützen, die für Demokratie und Gleichheit in der Ukraine kämpfen, und internationale Solidarität von unten gegen imperiale Intervention und Krieg aufbauen. Unsere Verbündeten sind die Gewerkschaften, feministischen Gruppen, Umwelt-, Studierenden- und Antikriegsorganisationen, die sowohl in Russland als auch in der Ukraine und in der ganzen Welt aktiv sind. Ihnen sind wir unsere Solidarität schuldig.

Solch ein Projekt ist nicht utopisch. Die Antikriegsstimmung ist in der ganzen Welt weit verbreitet. In den USA hat die lange Besetzung des Irak und Afghanistans durch Washington eine tiefe Ablehnung des Krieges unter Arbeitenden und Unterdrückten hervorgerufen. In Russland hat es nach seinem letzten imperialen Abenteuer in der Ukraine, als er die Krim eroberte, Massenproteste und Widerstand gegen Putin gegeben. In der EU haben die Menschen nach dem Irakkrieg genug von der Kriegstreiberei.

Und in ganz Osteuropa regt sich der Widerstand gegen die dortigen Regime ebenso wie gegen Russland. Drei Jahrzehnte neoliberale Politik von Washington in Osteuropa haben auch die Illusionen untergraben, dass diese irgendeine Art von Alternative zu Moskau darstellt. Sozialist:innen auf der ganzen Welt sollten alle Versuche unterstützen, diese Unzufriedenheit in aktiven Widerstand gegen Krieg und Imperium zu organisieren.

14. Februar 2022

Original: https://spectrejournal.com/against-war-in-ukraine/

Aus dem Englischen übersetzt von Wilfried

Wir veröffentlichen diese Erklärung mit Zustimmung der Genoss:innen des „editorial board“ des US-amerikanischen Spectre Journal.

Der Redaktion von Spectre gehören an: Amanda Armstrong-Price, Tithi Bhattacharya, Kate Doyle Griffiths, Aaron Jaffe, Zachary Levenson, Holly Lewis, David McNally, Charlie Post, Vanessa Wills.

Die deutsche Übersetzung erschien zuerst auf der Webseite der ISO.