von Moritz Binzer*
Eine Delegation von Zapatistas befindet sich derzeit auf einer Rundreise durch Europa. Die Einreise über Paris, ihrem ursprünglichen Zielort, war ihnen verwehrt worden. Am 14. September konnten die über hundert Aktivist:innen endlich in Wien landen.
Bereits im Juni hatte eine Vorhut, bestehend aus sieben Delegierten, mit dem Segelschiff Spanien erreicht. Wie die meisten Aktivitäten der zapatistischen Bewegung hatte die Schiffsreise hohen Symbolwert. Die Delegierten wollten am 13.August in Spanien sein, an dem Tag, an dem vor 500 Jahren die Aztekenstadt Tenochtitlán von den Spaniern im heutigen Mexiko unter der Führung von Hernán Cortés eingenommen wurde. Der Tag gilt in der offiziellen Geschichtsschreibung als Jahrestag der Conquista. Die zapatistische Bewegung ist Beweis dafür, das es trotz dieses Genozids nie gelungen ist, den indigenen Widerstand zu brechen. Sie sehen sich damit in einer antikolonialen Tradition.
Auch ihr Aufstand 1994 im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas begann an einem geschichtsträchtigen Tag. Das Freihandelsabkommen NAFTA zwischen Mexiko, den USA und Kanada trat am 1.Januar 1994 in Kraft. Es stellte die Privatisierung von Land und eine weitreichende Öffnung der mexikanischen Märkte für Lebensmittelimporte in Aussicht und bedrohte damit unmittelbar die kleinbäuerliche Landwirtschaft. Die ländlichen Gemeinden, aus denen sich die Bewegung größtenteils rekrutiert, sahen darin einen erneuten Angriff auf ihre Autonomie und befürchteten eine weitere Verschlechterung ihrer (Über-)Lebensbedingungen.
Allerdings beschränkten sich die Botschaften der Zapatistas von Anfang an nicht auf den Kampf indigener Gruppierungen im mexikanischen Kontext. Bereits mit der Veröffentlichung der ersten comunicados, Texten, die die Zapatistas in regelmäßigen Abständen verfassen, wurden linke Bewegungen überall auf der Welt angesprochen und aufgefordert, eine «Internationale der Hoffnung» zu bilden. Es verwundert also nicht, dass die Zapatistas als wichtige Geburtshilfe der globalisierungskritischen Bewegung gelten.
Avantgarde wollten sie nie sein
Ein weiterer Grund für die hohe Faszination, die die zapatistische Bewegung auf Aktivist:innen überall auf der Welt ausübt, dürfte in ihren unkonventionellen Herangehensweisen und ihrem Politikverständnis begründet liegen. Die Zapatistas schreckten nie davor zurück, mit althergebrachten Vorstellungen vieler traditioneller linker Gruppen zu brechen. Sie brachten damit frischen Wind in viele Strategiebestimmungen und nahmen Einfluss auf internationale Debatten.
So richteten sich ihre revolutionären Bestrebungen nicht auf die Eroberung der Staatsmacht, sondern hatten die Ausweitung von Autonomie und den Aufbau von Räten zum Ziel, gekoppelt an selbstverwaltete Strukturen, die alle wichtigen Bereiche des Lebens umfassen. In den zapatistischen Gemeinden und Verwaltungszentren ist ein ausgeklügeltes Bildungs-, Handels-, Gesundheits- und Rechtssystem entstanden.
Das zapatistische Einflussgebiet wächst weiterhin. 2019 sind fünf neue caracoles, so nennen die Zapatistas ihre Verwaltungszentren, dazugekommen. Auch die Einnahme einer Avantgarderolle lehnt die EZLN, die Guerilla der zapatistischen Bewegung, strikt ab und tat dies bereits kurz nach ihrem Aufstand 1994 kund: «Dies ist der Moment, um euch allen mitzuteilen, dass wir den Platz nicht einnehmen wollen und nicht einnehmen können, von dem sich einige erhoffen, dass wir ihn einnehmen, den Platz, von dem aus alle Meinungen, alle Wege, alle Antworten, alle Wahrheiten ausgehen. Das werden wir nicht machen.»
Stattdessen nahm ein transnationaler Dialog zwischen verschiedenen Bewegungen einen hohen Stellenwert ein. Mit einer Vielzahl internationaler (oder, wie die Zapatistas scherzhaft sagen, intergalaktischer) Treffen und Delegationsreisen versuchten die Zapatistas, Netzwerke zu knüpfen, Impulse zu setzen, Kampagnen zu initiieren und einen Austausch über unterschiedliche Praktiken und Strategien zu ermöglichen. Die aktuelle Reise durch Europa und anschließend durch andere Teile der Welt ist ein weiterer Ausdruck dieser Bestrebung. Es geht ihnen darum, das Europa von «unten» und «links» kennenzulernen.
Ein Sprecher der zapatistischen Bewegung und Teilnehmer der Reise, Subcomandante Moises, sagte dazu bei der Ankunft in Wien: «Wir sind nicht für große Massenveranstaltungen gekommen. Wir sind gekommen, um mit denen zu sprechen, die mit uns sprechen wollen. Wir möchten erfahren, wofür sie kämpfen, wie sie kämpfen und wie sie denken. Wir möchten, dass alle ihre Augen öffnen, ihr Bewusstsein öffnen, von allen, die auf dem Land und in den Städten leben.»
*Der Autor ist in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv. Er war 2012/2013 als Menschenrechtsbeobachter über CAREA e.V. in zapatistischen Gemeinden.