Phil Hearse und Sarah Parker berichten über die neueste demokratiefeindliche Aktion des türkischen Staates (25. März 2021)
Die führende linke Formation der Türkei, die kurdisch geführte Demokratische Volkspartei (HDP), die drittgrößte Partei im Parlament, wurde am 17. März vom türkischen Verfassungsgericht verboten, zweifellos auf Anweisung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Gleichzeitig wurden in einem Versuch, die Partei zu enthaupten, 687 ihrer führenden Köpfe formell für fünf Jahre von der Ausübung öffentlicher Ämter ausgeschlossen, darunter viele unter den Tausenden von Parteianhängern, die bereits im Gefängnis sitzen. Einigen von ihnen drohen lebenslange Haftstrafen. Die Journalistin Frederike Geerdink, eine genaue Beobachterin der türkischen politischen Szene, sagt, dass „jede relevante Person, die man sich vorstellen kann, auf dieser Liste steht.
Gleichzeitig wurde der führende HDP-Parlamentsabgeordnete Ömer Faruk Gergerlioğlu aus dem Parlament ausgeschlossen und ihm die parlamentarische Immunität entzogen, ein sicheres Zeichen für eine bevorstehende Strafverfolgung.
Der Vorwand für diese Maßnahmen war die Beteiligung der Partei an Anti-Regierungs-Protesten im Jahr 2014. In Wirklichkeit ist es Teil der langfristigen Vorbereitungen für die Kommunalwahlen 2023. Ziel ist es, Mehrheiten für Erdoğans islamistische AKP (Gerechtigkeits- und Wohlfahrtspartei) und ihre Verbündeten, die faschistische Nationale Parteibewegung (MHP), zu sichern, indem sie Kommunen und Bürgermeister(*innen?) in Gebieten gewinnen, in denen die HDP stark ist, vor allem im Südosten des Landes. Offenbar hat der MHP-Führer Devlet Bahçeli am stärksten auf das Verbot gedrängt, wahrscheinlich aus dem Kalkül heraus, dass die MHP ihre Stimmen stärken könnte, wenn die HDP vom Spielfeld entfernt wird.
Wenige Tage nach der Bekanntgabe des Parteiverbots demonstrierten Hunderttausende Menschen kurdischer Herkunft und viele andere während der Feierlichkeiten zu Newroz, dem kurdischen Neujahr, ihre Unterstützung für die HDP. Die Beteiligung in Istanbul war massiv, ebenso wie in Izmir und auch in Amed (Diyarbakir) und Van im türkischen Kernland im Südosten des Landes. Die Kurdinnen nennen es Nordkurdistan.
Die Mobilisierung in Istanbul richtete sich explizit gegen Faschismus und gegen Erdoğans Entscheidung, die Türkei aus der Istanbul-Konvention, einem unverbindlichen Menschenrechtsabkommen des Europarats gegen Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt, auszutreten, die nach Ansicht der türkischen Regierung im Widerspruch zu „Familienwerten“ steht. Gewalt gegen Frauen und Morde an Frauen sind in der Türkei weit verbreitet. Der Rückzug aus der Konvention ist eine eklatante Demonstration der patriarchalen und frauenfeindlichen Ausrichtung der AKP-Version des Islamismus.
Seit dem gescheiterten Militärputsch im Jahr 2016 sitzen Zehntausende Regimegegner*innen im Gefängnis und mehr als 90.000 Lehrer*innen, Journalist*innen und Beamt*innen wurden aus ihren Jobs entlassen. Regimefeindliche Zeitungen und Fernsehsender wurden geschlossen.
Trotz der Schließung vieler HDP-Büros und der Inhaftierung hunderter ihrer Mitglieder ist die breite Unterstützung dieser Partei immer noch ein Stachel im Fleisch von Erdogan. Seine Regierung ist auch mit einer wachsenden Wirtschaftskrise konfrontiert. Das Wirtschaftswachstum der Türkei wurde durch ausländische Investitionen angeheizt, die hohe Zinssätze benötigen. Auf der anderen Seite erfordern die Netzwerke der AKP-Unterstützung und der Klientelismus unter der Mittelschicht und den Armen billige Kredite, und das bedeutet, die Zinsen niedrig zu halten. Letzte Woche entließ Erdoğan den Präsidenten der Zentralbank, Naci Agbal, weil er die Zinssätze auf 16% erhöht hatte. Das vorhersehbare Ergebnis war ein massiver Wertverlust der türkischen Lira auf den internationalen Märkten, was mit Sicherheit die Inflation und einen Rückgang des Lebensstandards fördern wird.
Ein zentraler Faktor in der türkischen Wirtschaftskrise sind die ausufernden Militärausgaben, die sich seit 2008 verdoppelt haben. Die türkische AKP ist ein Beispiel für den modernen Faschismus an der Macht, dennoch muss Erdoğan auf das Gewicht und die Macht des Militärs Rücksicht nehmen. Die riesige Armee des Landes wird gebraucht, um die innere Ordnung aufrechtzuerhalten, vor allem gegen die regimekritische kurdische Bevölkerung, aber auch gegen die kurdischen Bevölkerungen in Syrien und im Irak.
Die Türkei wendet sich bei ihren Waffenlieferanten von den USA ab und Russland zu, das ihr ein ausgeklügeltes Raketenabwehrsystem verkauft hat. Auch die Rüstungsproduktion spielt in der türkischen Version der militärischen Aufrüstung eine immer größere Rolle.
Der oben verlinkte Artikel von Maya Heighway Sekine zeigt die zunehmende „organische Zusammensetzung“ der türkischen Militärausrüstung, d.h. ihre Hinwendung zu High-Tech-Ausrüstung wie Drohnen. Drohnen sind weniger anfällig für die Demoralisierung der türkischen Soldaten und wurden in der Türkei, in Syrien und im Irak sowohl gegen antitürkische Kämpfer als auch gegen Zivilisten auf brutale Weise eingesetzt.
Die enorm reiche Familie Erdoğan ist tief in diesen militärisch-industriellen Komplex verstrickt. Die Drohnentechnologie wurde von einer britischen Firma namens EDO MBM unterstützt, und ihre Exporte in die Türkei wurden von der britischen Regierung zusammen mit anderen Waffen lizenziert. EDO MBM stellt die Bombenträger her, die es der Türkei ermöglichen, ihre Drohnen in tödliche Bomber zu verwandeln.
Im Jahr 2014 gewann der Präsidentschaftskandidat der HDP, der Ko-Vorsitzende Selahattin Demirtaş, fast 10 % der Stimmen. Im darauffolgenden Jahr gewann die HDP 13% bei den Parlamentswahlen, was Erdoğans AKP die absolute Mehrheit raubte. Der Aufstieg der HDP wurde durch die Bewegung der kurdisch dominierten Gebiete im Südosten des Landes angeheizt, autonome, selbstverwaltete Gemeinden zu schaffen, ein Schritt, der mit brutalen militärischen Angriffen beantwortet wurde, bei denen Tausende von Zivilisten starben.
Kurdisch geführte Kämpfer, die in den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) organisiert sind, spielten eine Schlüsselrolle beim Sieg über die mörderische islamistischen Sekte ISIS (IS) im Norden Syriens. Hunderte von ihnen starben in diesem Kampf, vor allem in den 2014 erbittert geführten Kämpfen zur Befreiung der Stadt Kobanî an der syrisch-türkischen Grenze, bei denen sie von amerikanischen Luftangriffen unterstützt wurden. Während dieser Belagerung standen große Kräfte türkischer Panzer und Artillerie an der Grenze und beobachteten, während die türkische Polizei versuchte, Freiwillige und Waffen daran zu hindern, über die Grenze zu gelangen, um den SDF zu helfen.
Die Verluste der SDF waren insgesamt viel höher, wobei oft die Zahl von 13.000 Toten genannt wird. Das ist das Opfer, das die kurdisch geführte SDF, der auch arabische Kämpfer und internationale Freiwillige angehörten, im Kampf gegen ISIS gebracht hat. Niemand bestreitet, dass es die SDF waren, die die Hauptkraft waren, die ISIS besiegte.
Nachdem ISIS größtenteils besiegt worden war und die Aufmerksamkeit der USA nachließ, gab Donald Trump Erdoğan grünes Licht, in Nordsyrien einzumarschieren und zu versuchen, das Netzwerk der befreiten, kurdisch geführten Gebiete zu zerstören, das von den Einwohner*inneen „Rojava“ genannt wird. Rojava wurde zum Zentrum eines historischen Experiments von selbstverwalteten autonomen Regionen und Städten, das die Frage der Führung von Frauen in den Mittelpunkt seiner politischen Praxis stellte.
Nun aber ist die türkische Armee in den Nordirak eingebrochen und versucht, die Gebirgsstützpunkte der PKK (Kurdische Arbeiterpartei) zu zerstören, die bisher als uneinnehmbare Festung der Bewegung fungierten.
Das Verbot der 2012 gegründeten HDP, die eine breite Koalition linker Kräfte hinter der kurdischen Führung versammelt, zeigt, dass die AKP weiterhin das Drehbuch des modernen Faschismus nutzt. Es wird kein Raum für abweichende Meinungen geduldet. Der Krieg gegen kurdische Rechte und Selbstbestimmung wird verschärft werden. Und die Notwendigkeit der Solidarität mit dem Kampf des kurdischen Volkes ist größer denn je.
Links: Neue Welle des Widerstands an türkischen Universitäten
Schließen Sie sich diesen Sonntag, den 28. März, Yanis Varoufakis MP, Niki Ashton MP, Sevim Dagdelen MP und der Führung der HDP an, um über die Krise der politischen Repression in der Türkei zu diskutieren. Registrieren Sie sich hier.
Phil Hearse ist Mitglied von anti*capitalist resistance und Mitautor des kürzlich erschienenen Buches System Crash: an activist guide to making revolution.
Sarah Parker ist Mitglied von anti*capitalist resistance und eine langjährige Kämpferin für die Rechte der Kurd*innen.
Der Artikel erschien bei anti*capitalist resistance: https://www.anticapitalistresistance.org/post/turkey-bans-largest-left-wing-party
Übersetzung: Wilfried Hanser