von Kurt Hofmann

Eben erst hat sie begonnen: die Fußball-Europameisterschaft 2021, erstmals verteilt auf mehrere Länder und viele Austragungsstätten.

Das war zwar schon vor Covid-19 keine prickelnde Idee, doch die UEFA in ihrem Lauf hält bekanntlich weder Ochs noch Esel auf, also sind beim nun, in Zeiten wie diesen, anlaufenden Großprojekt, in den Stadien einmal etwas mehr und einmal etwas weniger ZuschauerInnen zugelassen, und Ungarns Ministerpräsident Orban wünscht sich gar für den Auftritt in Budapest (so es der europäische Verband denn zulässt) ein volles Haus. 60.000 auf engstem Raum, da verbreitet sich wohl nicht nur gute Laune…

Der Weltverband FIFA  wiederum plant für nächstes Jahr die Weltmeisterschaft in Katar. Da diese im (europäischen) Winter stattfindet, müssen für den guten Zweck sowohl nationale Meisterschaften als auch internationale Bewerbsspiele umorganisiert werden. In Katar wurden Städte wie Stadien neu errichtet, entworfen von hochangesehenen ArchitektInnen, Wunderwerke der Baukunst, vergleichbar den Pyramiden und ermöglicht durch Arbeitsbedingungen wie einst beim Pyramidenbau. Über diese Menschenrechtsverletzungen empört, bekundeten, in Deutschland und anderswo, renommierte Teams kollektiv ihren Unmut. Immerhin war dies anders als anno 1978. Damals fand die WM im faschistischen Argentinien statt und die teilnehmenden Teams, falls sie dies überhaupt registrierten, reagierten allenfalls mit einer „Da müssen wir durch“-Mentalität.

2021 ist die Symbolik besser: zwar fahren alle hin, aber nur mit schlechtem Gewissen und der geballten Faust in der Hosentasche…

Glaubensfragen

Halleluja, die Super-League, das Exklusiv-Projekt der reichsten Klubs ist dank eines Fanaufstands Geschichte! Hierbei seien, so UEFA-Präsident Ceferin, nicht die Ehre und das mögliche Erringen von Trophäen im Vordergrund gestanden, vielmehr ging es: „ … nur um das Geld von ein Dutzend Klubs. Ich will sie nicht das Dreckige Dutzend nennen.“ Starke Worte von einem, dem der schnöde Mammon und Milliardenprofite, wie die anstehende „Reform“ der Champions League zeigt, gewiss völlig fremd sind…

Mit der vielbeschworenen „Unschuld des Fußballs“, welche angeblich durch die Super League bedroht war, verhält es sich aber wie mit der Jungfräulichkeit Mariens: man muss halt daran glauben …  Manche Fans haben sich ohnedies Glaubensgemeinschaften angeschlossen: „Meine Religion ist Bayern/Dortmund/Schalke/Köln“ … heißt es dann. Dagegen ist wenig einzuwenden, es gibt Kulte mit schlechteren Heilsversprechen, einzig bei „Meine Religion ist Deutschland“ wird es unappetitlich …

Die erfolgreiche Verhinderung der Super League, der nachdrückliche Protest diverser Teams gegen die WM in Katar, all dies steht dabei für ein System der (moralischen) Ablasszahlungen. Danach ist der Weg ins Himmelreich des  Fußballs wieder geebnet. Denn der Skandal gilt stets als die Ausnahme von der Regel. Geld schießt keine Tore?: It’s the capitalism, stupid!

Die Pleite

Eine Niederlage, jede Niederlage, gilt seit geraumer Zeit in der Sportberichterstattung als „Pleite“. Was aber ist eine Pleite? Eine Pleite ist der Bankrott, die Zahlungsunfähigkeit, das finanzielle Ende einer Firma – auch im Fußball sind Pleiteunternehmen nicht unbekannt. Wenn aber jede Niederlage, egal wie sie zustande gekommen ist, schon als Pleite bezeichnet wird, dann wird das Bild einer erbarmungslosen Gesellschaft sichtbar, welche „Fehler“ nicht toleriert, weil der Einsatz zu hoch sei. Die Botschaft von der „Pleite“ richtet sich daher nicht an die Fußballprofis, sondern an die lohnabhängigen Fans: Sprache ist verräterisch.

Die Wette

11.April 2017: Auf dem Weg zum Westfalenstadion, wo das Hinspiel von Borussia Dortmund im Champions League-Viertelfinale gegen AS Monaco stattfinden soll, erfolgt ein Attentat auf den Mannschaftsbus der Dortmunder. Mehrere Sprengsätze explodieren, ein Spieler wird dabei schwer verletzt. Weil der mittlere Sprengsatz zu hoch angebracht war, bleiben schlimmere Folgen aus. Solange ein „islamistischer“ Hintergrund vermutet wird, hält das Interesse der Medien an, als die Motive des wahren Täters bekannt werden, flaut es schlagartig ab. Der 28jährige Sergej W. hatte die Tat begangen, weil er mit einer Wette auf (durch das Attentat) sinkende Kurse der BVB-Aktie einen Gewinn erzielen wollte.

Nicht der Täter, vielmehr dessen Denkungsweise, nicht die Denkungsweise, vielmehr deren Selbstverständlichkeit und punktgenaue Anpassung an die systemimmanenten Anforderungen von „Erfolg“ ließen den perfiden Zusammenhang offenbar werden. Die Tat von Sergej W. war ebenso verwerflich wie folgerichtig. Er, der seinen Vorbildern gerecht werden, dazugehören wollte, ist gescheitert, weil er ein Amateur, ein Dilettant war. Es ist leicht für die Professionals, die Meister des Großen Spiels, sich von „so einem“ zu distanzieren.

Aber auch das etwas kleinere, beliebte Spiel mit dem Ball ist nicht zufällig in diese Geschichte hineingeraten, war nicht nur auf der Seite der Opfer, wie die Reaktion der Dortmund-Bosse, das abgesagte Spiel schon am nächsten Tag nachzuholen, ohne auf die Spieler und die Bedenken des Trainers Tuchel Rücksicht zu nehmen, zeigt. Wer Rücksicht nimmt, bleibt zurück, sagen die Meister des Großen Spiels.

Gerechtigkeit

Aber wie kommt denn der Fußball, die verfolgte Unschuld, in die Nähe von derlei dubiosen Gestalten? (denen es doch „nur“ ums Geld geht…)

Lassen wir die Beantwortung dieser Frage einstweilen beiseite und widmen wir uns dem Regelwerk. Zwar ist klar festgelegt, was sein darf und was nicht (vgl.: Die Zehn Gebote), sieht man von zeitgenössischen Streitfragen wie jener, welches Hands absichtlich sei und welches nicht, ab, dennoch bedarf so manches der Auslegung, des Feingefühls. Dafür zuständig: der Schiedsrichter.  Vieles von dem, was dieser tut – oder nicht tut – erweckt den Unmut der Fans. Ergo wurde der VAR, der Video Assistent Referee, eingeführt. Da gibt es also nun eine von außen agierende Instanz, die sich meldet (oder melden sollte), wenn bei spielentscheidenden Szenen strittige Entscheidungen zu klären wären. Nach Ansicht der vom VAR gelieferten Videobilder kann der Schiedsrichter dann dem gesäten Misstrauen folgen (oder auch nicht). Da wird der Spielfluss zwecks Entscheidungsfindung minutenlang unterbrochen, während die FernsehkonsumentInnen derweil entnervt feststellen, dass die ihnen vom Sender angebotenen unterschiedlichen Kameraperspektiven einer Szene auch unterschiedliche Schlussfolgerungen zulassen… Es bleibt das Gefühl der möglichen Ungerechtigkeit, und das ist gut so, denn der Disput über Entscheidungen gehört zum Reiz des Spiels. Von den Eltern über die Arbeitsstelle bis zur staatlichen Autorität: vieles ist autoritär strukturiert, wenngleich Zweifel stets angebracht sind. Nur der Fußball lässt Zweifel nicht nur zu, sondern lebt vom Disput.

Vom Fußball lernen heißt, denken lernen: dass es die eine, unantastbare Wahrheit nicht gibt. Schiri, wir wissen, wo dein Auto steht…

Linker Fußball?

Die Erkenntnis, dass der Fußball Teil des („Großen“) Spiels, Part of the Game, ist und es auch hier kein richtiges Leben im Falschen gibt, heißt aber nicht, dass ein analytischer Umgang mit dem Fußball als Spiegel der Gesellschaft oder der Versuch eines Gegenentwurfs obsolet wären. Da könnte das Entdecken einer gewissen Widerborstigkeit (siehe: Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit) hilfreich sein, gewiss aber nicht die Auslagerung wortreichen politischen Unverständnisses auf den Fußball: „Kannten sich die Leute vor drei Jahrzehnten  noch bestens in den diversen chinesischen Wegen zur deutschen Revolution aus, kommentieren sie heute versiert die Verschiebungen  der fußballerischen Gemengelagen. (…) Die Diskussionen über Pressing und Verschieben wären die Diskussionen des ‚richtigen Moments‘,  des richtigen politischen Handelns.“ merkt Klaus Theweleit dazu ironisch an. (Klaus Theweleit/Tor zur Welt)

Einen Gegenentwurf, wie „linker“ Fußball aussehen sollte und wie er sich vom Fußball der Rechten unterscheidet, hat der bedeutende argentinische Trainer Cesar Luis Menotti Mitte der 1980er – Jahre in Form eines Manifestes formuliert: „Der Fußball der Rechten reproduziert und untermauert die in dieser Gesellschaft gültigen Wertvorstellungen. Es ist die Art von Fußball, bei der nur der Gewinn zählt, und Gewinn heiligt alle Mittel. Gemeint sind nicht nur eine ultradefensive Taktik, Ausdruck von Raffgier und Spekulation (…) sondern auch der Einsatz aller erdenklichen faulen Tricks. Er ist krank und macht krank, weil er wie alle Konsumartikel dem Wesen nach hinfällig und vergänglich ist: Was gewinnt, ist gut, weil es sich gut verkauft. (…) Der Fußball der Linken hingegen ist im Sinne einer Lebensäußerung eine Sache des Talents, bei der die Intelligenz an oberster Stelle steht und der Sieg soviel taugt wie die Mittel, mit denen man ihn erringt. (…) Beim Fußball der Linken spielen wir nicht einzig und allein, um zu gewinnen, sondern um besser zu werden, um Freude zu empfinden, um ein Fest zu erleben (…).  Wir sagen weiterhin, dass es einen Fußball der Linken gibt, der seinen Ursprüngen treu geblieben ist (…). Dieser Fußball dient der Lebensfreude, der spielerischen und schöpferischen Freiheit…“

Sprachregelungen

In der Fußballberichterstattung der letzten Jahre ist eine gewisse Abrüstung zu bemerken: so wird ein besonders erfolgreicher Stürmer nicht mehr als „Bomber“ tituliert und die Mannschaft wird nicht mehr zur „Truppe“ umorganisiert. Dafür ist, wie schon erwähnt, vermehrt von Niederlagen als „Pleiten“ die Rede (mit bemerkenswerter subtexturaler Bedeutung) und die „Halbzeitpause“, ein Pleonasmus, macht der Dummheit alle Ehre. Da lobe ich mir die altbewährten, immer noch heißgeliebten Plattitüden. Zum Beispiel: Das Runde muss ins Eckige! Und vor allem: Der Ball ist rund!

Aus SOZ, Sozialistische Zeitung, Juni 2021 https://www.sozonline.de/2021/06/teil-des-spiels/