Ungestört führt die Türkei ihren bereits vierten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Nordostsyrien, der im vergangenen Oktober eskalierte. Das Schweigen des Westens ist ohrenbetäubend. Ein kritischer Blick auf die Zerstörung einer Region, für die auch Deutschland eine Verantwortung trägt.

In der Politik wird der Ausdruck »rote Linie« häufig als symbolischer Ausdruck für unnachgiebige Standpunkte verwendet. Diese metaphorische Grenze dient als Warnung. Wer sie überschreitet, muss mit ernsthaften Konsequenzen rechnen. Das Problem: Im Ernstfall sind die tatsächlichen Folgen oft weniger drastisch als zuvor angedeutet, in vielen Fällen kommt es zu überhaupt keinen (spürbaren) Maßnahmen. Diese Diskrepanz stellt eine ernsthafte Herausforderung für die Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit von roten Linien in der internationalen Politik dar – mit fatalen Folgen.
Ein prominentes Beispiel ist die berühmte rote Linie, die Barack Obama im Jahr 2012 in Syrien zog. Im August warnte der damalige US-Präsident das syrische Regime vor schwerwiegenden Konsequenzen im Falle eines Chemiewaffeneinsatzes gegen das eigene Volk. Nur vier Monate später erfolgte der erste dokumentierte Angriff mit Giftgas in Homs. Entgegen ihrer Androhungen taten die USA – nichts.
Das Ausbleiben einer Reaktion ermutigte nicht nur das syrische Regime, weiterhin Kriegsverbrechen, einschließlich weiterer Chemiewaffenangriffe zu verüben, es schuf auch einen gefährlichen Präzedenzfall. Die Untätigkeit scheint eine Art »Freifahrtschein« für Verletzungen internationaler Normen in Syrien geworden zu sein, den unter anderen auch die Türkei für ihre Zwecke nutzt.

Die türkische Versuchung in Syrien

Im August 2016 griff die Türkei zum erstenmal völkerrechtswidrig den Nordosten Syriens an. Sie deklarierte ihr Vorgehen als Kampf gegen den IS und die YPG, den militärischen Arm der kurdisch dominierten Selbstverwaltung. Diese macht inzwischen ein Drittel Syriens aus, ethnische und religiöse Minderheiten leben dort gleichberechtigt miteinander. In der YPG sieht die türkische Regierung einen Ableger der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und damit eine Terrororganisation.
Im Januar 2018 folgte die sog. »Operation Olivenzweig«, mit der die türkische Armee den kurdischen Kanton Afrin einnahm. International hallten kurzzeitig Forderungen nach einem Ende der Gewalt, verstummten aber schnell wieder. Konsequenzen gab es keine, tatsächlich hält die Türkei bis heute straffrei Afrin besetzt und unterdrückt die dortige kurdische Bevölkerung.
Im Oktober 2019 startete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erneut einen Angriffskrieg gegen Nordsyrien mit dem erklärten Ziel, die YPG von der türkisch-syrischen Grenze zurückzudrängen und dort eine »Sicherheitszone« zu schaffen, in die syrische Schutzsuchende aus der Türkei zwangsumgesiedelt werden sollen. Die internationale Kritik wurde lauter und mehrere Staaten, darunter Deutschland, stoppten ihre Waffenexporte in die Türkei. Wirksame Konsequenzen, um ein Ende der Invasion zu erzwingen, gab es nicht.

Einladung zur Straffreiheit

Im Winter 2022 startete Erdogan seine jüngste Militäroperation gegen den syrischen Nordosten, um das besetzte Territorium zu erweitern. Bis heute erfolgen Angriffe mit Drohnen und Kampfjets in unterschiedlicher Intensität. Gleichbleibend ist hingegen die Tatenlosigkeit der Weltgemeinschaft. Auch als im Oktober 2023 der türkische Außenminister Hakan Fidan die Infrastruktur und Energieversorgung in Nordostsyrien zu legitimen Zielen erklärte, schwieg der Westen und schaute bewusst weg, als die Gewalt eskalierte und innerhalb weniger Tage ein Großteil der zivilen Infrastruktur im Nordosten Syriens zerstört wurde.
Schlimmer als das dröhnende Schweigen wiegt die bewusste Ignoranz des Westens: Im November 2023, also kurz nachdem die Türkei öffentlich zivile Infrastruktur zu legitimen Zielen deklarierte und nicht zögerte, diese zu bombardieren, empfing Bundeskanzler Olaf Scholz den türkischen Präsidenten mit Handschlag in Berlin. Kritische Töne zum völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gab es dabei keine. Stattdessen warb der Kanzler um eine Neuauflage des EU-Türkei-Deals – der finale Dolchstoß im Rücken der syrischen Zivilbevölkerung. Denn die Bundesregierung lässt Erdogan nicht nur gewähren, sie möchte auch ein Abkommen zulasten derer schließen, die unter seinen Angriffen leiden und fliehen müssen.

Angriffe auf den Nordosten

Angesichts der Tatenlosigkeit der Weltgemeinschaft ist die Bilanz des vergangenen Jahres verheerend: Insgesamt 930mal griffen türkische Streitkräfte die kurdische Selbstverwaltung an, in 78 Prozent der Fälle zielten sie auf Wohngebiete. Die türkischen Angriffe richteten sich auch gegen landwirtschaftliche Betriebe, Industrieanlagen, Wasserwerke, Ölraffinerien, Elektrizitätswerke, Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen.
Die Angriffe haben dramatische Folgen für die Zivilbevölkerung: Zerstörte Infrastruktur bedeutet, dass ganze Ortschaften ohne Wasser und Elektrizität sind. Zerstörte Bildungseinrichtungen bedeuten, dass Kinder nicht mehr zur Schule gehen können. Zerstörte Gesundheitszentren bedeuten, dass Kranke und Verletzte nicht mehr versorgt werden.
Ein Ende ist nicht in Sicht, ganz im Gegenteil. Während der Weihnachtstage intensivierte die Türkei erneut ihre Angriffe auf die Region und zerstörte dabei gezielt eine Sauerstofftankfabrik und ein Nierendialysezentrum in Qamishli sowie eine Klinik in Kobane/Ayn al-Arab. Das bringt Hunderte Patient:innen sogar in Lebensgefahr. Angesichts des umfassenden Embargos gegen Nord- und Ostsyrien sind beschädigte und zerstörte Kraftwerke, Fabriken, Warenlager, Nahrungsmitteldepots und vor allem medizinische Einrichtungen nicht zu ersetzen. Mit der systematischen Zerstörung der Infrastruktur ist die Versorgung sowohl von privaten Haushalten als auch von Geflüchtetencamps massiv gefährdet.
Hinzu kommt, dass die Türkei in großem Maße Menschen in den Norden Syriens abschiebt – pro Monat mittlerweile um die 20000 Personen. Insgesamt zwei Millionen sollen es nach Erdogans eigener Aussage werden. Mit seinem Angriffskrieg sorgt der türkische Präsident bewusst und gezielt für die ethnische Massenvertreibung der ortsansässigen kurdischen Bevölkerung. Dieses Handeln stellt eine eklatante Missachtung internationaler Normen dar.

Ethnische Säuberung auf türkisch

Die Türkei plant die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung bis ins Detail: Türkische Besatzungstruppen arbeiten fleißig am Bau von neuen Wohneinheiten und Gemeinden, in denen die mehrheitlich arabischen Geflüchteten dann zwangsumgesiedelt werden sollen. Hier kann man von einem echten und geplanten Bevölkerungsaustausch sprechen. Dieser bedroht massiv das syrische Sozialgefüge, verschärft die stark angespannte humanitäre Situation und ist eine fortschreitende Bedrohung für Frieden und Stabilität in der Region.
Die Türkei agiert nicht nur in klarem Widerspruch zum Völkerrecht, sie verstößt auch gegen die Grundsätze des NATO-Abkommens und begeht zahlreiche, gut dokumentierte Kriegsverbrechen. Gemäß Artikel 8 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) von 1998 gelten absichtliche Angriffe auf Zivilist:innen und Krankenhäuser als Kriegsverbrechen, es sei denn, es liegen überzeugende Beweise vor, dass sie militärische Ziele darstellen. Das ist hier wieder einmal nicht der Fall.
Das humanitäre Völkerrecht, integraler Bestandteil des Kriegsrechts, fungiert als unerlässlicher Schutzmechanismus für Zivilist:innen und medizinisches Personal in Zeiten bewaffneter Konflikte. Seine Wirksamkeit hängt jedoch maßgeblich von der Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft ab, Verstöße zu ahnden. Ohne effektive Strafmaßnahmen durch Staaten oder internationale Organisationen verschwindet das Völkerrecht in der Bedeutungslosigkeit. Seine konsequente, effektive Umsetzung und Durchsetzung ist deshalb unerlässlich.
Konsequenzen für all diese Rechtsbrüche gibt es von Seiten der Bundesregierung oder der EU bislang keine. Auch deshalb, weil sich die EU mit dem EU-Türkei-Deal erpressbar gemacht hat – die Türkei hält in deren Auftrag die syrischen Geflüchteten von Europa fern. Sie sind ein Faustpfand für Erdogan, der seine Interessen damit ungehindert durchdrücken kann. Der Preis: Millionen Menschen sitzen im Nordwesten fest, unter katastrophalen humanitären Bedingungen, im Nordosten werden Hunderttausende vertrieben und eine bereits instabile Region wird weiter destabilisiert.
Die katastrophale humanitäre Lage, geprägt von zerstörter Infrastruktur, medizinischer Notlage und Bevölkerungsaustausch, ist ein direktes Ergebnis der internationalen Untätigkeit. Darüber hinaus haben sich europäische Staaten von einem Despoten abhängig gemacht. Die so oft beschworenen »roten Linien« der Politik erweisen sich erneut als brüchig, wenn es um die konkrete Durchsetzung von Konsequenzen geht.
Die Ignoranz des Westens verstärkt nicht nur die Gefahr weiterer Menschenrechtsverletzungen, sie sendet auch ein gefährliches Signal an andere Akteur:innen. Die Türkei findet bei ihrer systematischen Missachtung des Völkerrechts eine erschreckende Handlungsfreiheit, während die Weltgemeinschaft in ihrer Tatenlosigkeit eine Mitschuld an den Verbrechen trägt.

Die Autorin ist Pressesprecherin von Adopt a Revolution


Zuerst erschienen in
SoZ – Sozialistische Zeitung

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