Das Gesundheitssystem kollabiert und die Massen zahlen für die Kaltschnäuzigkeit des Modi-Regimes
von Hassan Jan
Am 1.Mai hat Indien als erstes Land der Welt die Schwelle von 400.000 täglichen Neuerkrankungen mit 3.689 Todesfällen überschritten. Das düstere Bild einer älteren Frau mit einer Sauerstoffflasche auf der Straße vor einem mit Covid-Patienten überfüllten Krankenhaus, in dem keine Betten mehr zur Verfügung stehen, entlarvt den durch und durch kriminellen Charakter der herrschenden Klassen, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit.
Die katastrophale zweite Welle von Covid-19 hat die Prahlerei von Premierminister Narendra Modi zunichte gemacht, der sich im Januar dieses Jahres damit brüstete, das Coronavirus nicht nur besiegt, sondern auch die Welt gerettet zu haben.
Im September letzten Jahres veröffentlichte ein von der indischen Regierung eingesetztes Komitee zur Bekämpfung der Pandemie einen Bericht, wonach die indische Bevölkerung die Herdenimmunität bereits erreicht habe und man davon ausgehe, dass die Inder aufgrund ihrer genetischen Ausstattung eine Ausnahme seien. Der Gesundheitsminister der extrem rechten Regierungspartei BJP empfahl sogar den Verzehr von Kuhurin, um eine Coronavirus-Infektion zu heilen. Solche idiotischen Annahmen, gepaart mit einem kaputten Gesundheitssystem, das von der Gier der Konzerne beherrscht wird, haben zu dem gegenwärtigen Chaos beigetragen, das die ohnehin verarmten, vom Coronavirus geplagten indischen Massen, die jetzt auf den Straßen dahinvegetieren, noch weiter quält.
Die Krematorien haben kein Brennholz mehr, weil immer mehr Leichen zur Einäscherung gebracht werden. Die Forstbehörde hat Sondergenehmigungen zum Fällen von Bäumen erteilt, um Holz für Feuerbestattungen zu beschaffen. Parks und Parkplätze werden als behelfsmäßige Krematorien genutzt.
Laut einem Bericht der Agentur Reuters hatten indische Wissenschaftler die Regierung bereits Anfang März vor einer neuen und ansteckenderen Variante des Virus gewarnt, doch die Regierung schenkte den Warnungen keine Beachtung und vertrat weiter die törichte Annahme, Indien habe das Virus bereits besiegt. Obwohl das Land der größte Impfstoffproduzent der Welt ist, hinkt es bei der Impfung immer noch hinterher, nur 11 Prozent der Bevölkerung sind bisher geimpft.
Auf der einen Seite leidet Indien unter akutem Mangel an allen medizinischen Einrichtungen einschließlich der Sauerstoffversorgung; auf der anderen Seite meldet der von der BJP regierte Bundesstaat Uttar Pradesh, einer der am schlimmsten betroffenen, dass «alles in Ordnung» sei, und hat jedem, der einen Mangel an medizinischen Einrichtungen in Krankenhäusern meldet, mit Verhaftungen und rechtlichen Schritten gedroht.
Die BJP-Schläger bringen jede Stimme zum Schweigen, die ihre kriminelle Nachlässigkeit in Frage stellt. Die faschistische Bewegung Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), deren politischer Arm die BJP ist, hat eine Erklärung herausgegeben, in der sie davor warnt, dass «destruktive antiindische Kräfte in der Gesellschaft diese Umstände ausnutzen können, um eine Atmosphäre der Negativität und des Misstrauens im Land zu schaffen».
Viele Medien und ihre Reporter vor Ort haben die Authentizität der offiziellen Zahlen über tägliche Infektionen und Todesfälle in Frage gestellt und halten sie für stark untertrieben. Interviews mit Beschäftigten von Feuerbestattungsanlagen, auf denen es in diesen Tagen ununterbrochen brennt, widersprechen den offiziellen Verlautbarungen. Es wird vermutet, dass die Krankenhäuser in Absprache mit oder unter dem Druck der Regierung die Zahl der Todesfälle zu niedrig angeben und ihre wahre Zahl zwei- bis fünfmal höher ist als offiziell angegeben.
Der Fluch der Privatisierung
In der aktuellen Welle von Covid-19 ist das ohnehin kaputte Gesundheitssystem Indiens kollabiert. Die aktuelle BJP-Regierung und bereits frühere Regierungen haben mit neoliberalen Reformen die sowieso dürftige Gesundheitsinfrastruktur weiter abgebaut. Offiziell gibt Indien 1,25 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) für das Gesundheitswesen aus, aber nach einer Untersuchung von Dipa Sinha von der Ambedkar-Universität in Delhi sind es tatsächlich nur 0,34 Prozent des BIP.
In derselben Untersuchung wird festgestellt, dass Indien in bezug auf Qualität und Zugang zur Gesundheitsversorgung auf Platz 145 (von 180 Ländern) und hinsichtlich der Priorisierung der Gesundheit im Staatshaushalt auf Platz 179 (von 189 Ländern) liegt. Von 1990, als die neoliberalen Wirtschaftsreformen begannen, bis 2010 stagnierten die öffentlichen Gesundheitsausgaben zwischen 0,9 und 1,2 Prozent des BIP.
Diese Reformen und die anschließende Privatisierung des Gesundheitssektors haben sich als Alptraum für die verarmten Massen erwiesen. Eine Lancet-Studie aus dem Jahr 2016 zeigt, dass 78 Prozent des Gesundheitswesens in städtischen Gebieten und 71 Prozent in ländlichen Gebieten vom privaten Sektor kontrolliert werden. Die Privatisierung des Gesundheitswesens hat zu einem sprunghaften Anstieg der Gesundheitskosten geführt.
Laut einer Schätzung werden 40 Prozent der Menschen, die ins Krankenhaus eingeliefert werden, aufgrund der hohen Kosten für Medikamente und Behandlungen lebenslang verschuldet oder unter die Armutsgrenze gedrückt. Indiens Economic Survey 2013 hat geschätzt, dass die hohen Kosten für Gesundheitsausgaben jedes Jahr 39 Millionen Menschen in die Armut treiben.
Pandemie als Mittel der Spaltung
Die Prioritäten der hindufundamentalistischen BJP-Regierung wurden von der indischen Aktivistin und Schriftstellerin Arundhati Roy aufgedeckt: «In Kevadia gibt es kein Krankenhaus. Es gibt nur die Statue of Unity, die nach dem Vorbild des Freiheitskämpfers und ersten stellvertretenden Premierministers Indiens, Sardar Vallabhbhai Patel, gebaut wurde. Mit 182 Metern Höhe ist sie die höchste Statue der Welt und kostete 422 Millionen US-Dollar.»
Seit dem Beginn der Corona-Pandemie hat die BJP-Regierung, anstatt das Virus mit gesundheitlichen Sofortmaßnahmen zu bekämpfen, die Pandemie als Instrument für ihre spalterische Politik verwendet. Muslime werden für die Verbreitung des Coronavirus verantwortlich gemacht. Sie werden regelmäßig schikaniert und verspottet. BJP-Funktionäre bezeichnen Muslime offen als «menschliche Bomben» und beschuldigen sie des «Corona-Jihads».
Der rein konfessionelle Charakter der indischen Regierung zeigte sich, als sie trotz aller Warnungen von Gesundheitsexperten ein Hindu-Fest am Ganges erlaubte, zu dem über drei Millionen Menschen aus ganz Indien zusammenkamen. Experten sind der Meinung, dass dieses Fest den Anstieg der neuen Covid-19-Fälle begünstigt habe. Die Spaltungstaktik der Regierung soll die schiere Inkompetenz, Fahrlässigkeit und Gleichgültigkeit der herrschenden Klassen gegenüber der Notlage der Massen verbergen.
Indien hatte genug Zeit, die notwendigen Vorkehrungen für die zweite Welle zu treffen. Anstatt sich auf zukünftige Pandemien vorzubereiten und die Gesundheitseinrichtungen zu verbessern, erklärte der indische Premierminister den Sieg über das Coronavirus und versetzte die Nation in einen Feiermodus. Die BJP verabschiedete im Februar eine Resolution, in der Modi für seine «Führungsrolle bei der Vorstellung Indiens in der Welt als stolze und siegreiche Nation im Kampf gegen Covid-19» gelobt wurde. «Es kann mit Stolz gesagt werden, dass Indien Covid-19 unter der fähigen, sensiblen, engagierten und visionären Führung von Premierminister Narendra Modi besiegt hat.»
Abgewirtschaftet
Die idiotische Führung der «größten Demokratie der Welt» ist eigentlich ein Ausdruck der tiefen Krise des indischen Kapitalismus. Es gab eine Zeit, in der der indische Kapitalismus von Leuten wie Jawaharlal Nehru geführt wurde, die sich zumindest den Anschein gaben, Indien zu einem modernen kapitalistischen Staat zu entwickeln. Aber nach Trotzkis Theorie der permanenten Revolution ist die Bourgeoisie der kolonialen oder ehemals kolonialen Länder aufgrund ihrer historischen Verspätung völlig unfähig, die Gesellschaft zu entwickeln und die Aufgaben einer bürgerlich-demokratischen Revolutionen zu verwirklichen.
Trotz aller verblüffenden Zahlen über das Wirtschaftswachstum haben Armut und Elend im letzten Jahrzehnt weiter zugenommen. Laut einem Bericht von Oxfam India vom Januar 2020 besitzt das reichste 1 Prozent in Indien mehr als das Vierfache des Vermögens von 70 Prozent (953 Millionen) der Bevölkerung.
Dieses Vermögensgefälle bewirkt eine chronische soziale Krise. Der Aufstieg der BJP ist ein Hinweis darauf, dass die klassische indische Bourgeoisie den Kampf um die Errichtung eines modernen kapitalistischen Staates verloren hat. Die herrschenden Klassen sind mehr denn je darauf angewiesen, religiösen Hass zu schüren, um ihre krisengeschüttelte Herrschaft aufrechtzuerhalten. Zunächst schien die Pandemie der Modi-Regierung Auftrieb zu geben, indem sie einen Vorwand lieferte, die Massenbewegung gegen den diskriminierenden Citizen Amendment Act zu zerschlagen, aber jetzt entlarvt dieselbe Pandemie die gefühllose Haltung dieser extrem rechten Regierung.
Quelle: Asian Marxist Review, 7.Mai 2021 (www.marxistreview.asia/indias-covid-disaster-the-masses-are-paying-for-the-callousness-of-modi-regime/).
Der Artikel erschien in deutscher Übersetzung in SOZ, Sozialistische Zeitung, Juni 2021 https://www.sozonline.de/2021/06/indiens-covid-katastrophe/