von Kurt Hofmann

Als erstes Filmfestival im deutschsprachigen Raum hat das Festival «Crossing Europe» unter Beachtung strenger Präventionsmaßnahmen und bei großem Publikumsinteresse wieder physisch stattgefunden.

Mila. Griechenland 2020, Regie: Christos Nikou
Eine Pandemie: Das auslösende Virus verdammt seine Opfer zu Gedächtnisverlust. Das Leben, welches sie zuvor geführt haben, die Erinnerung an ihre Liebsten, ja selbst ihr Name: all dies scheint gelöscht. Freilich hat der fürsorgliche Staat schon einen Plan entwickelt, wie die Betroffenen wieder ins Leben zurückfinden könnten: Sie erhalten nach der Behandlung im Spital eine Wohnung sowie ein wenig Taschengeld und müssen «lebensnahe» Aufgaben lösen, um wieder in den Alltag und (eine neue) Identität zurückzufinden…

Aris, der Protagonist, wird an der Endhaltestelle eines Busses vom Fahrer gefragt, wo er denn eigentlich hinwoll(t)e. Doch das weiß er nicht, ebensowenig, wie er später «Angaben zur Person» machen kann. Im neuen, vorgeplanten Leben ist er verpflichtet, ein elektronisches Tagebuch zu führen und Rechenschaft über all seine Schritte abzulegen. Immerhin sei ja alles zu seinem Besten, mit Hilfe des staatlichen Programms könne er wieder ins Leben finden. So sagen es ihm seine Instruktor:innen, die sich als freundliche Kontaktpersonen ausgeben.

Die Kontrolle über sein Leben soll Aris allerdings auf diese Weise nicht wiedergewinnen, sondern dauerhaft verlieren. Die Pandemie hat einen Überwachungsstaat ermöglicht, der die gedächtnislosen Probanden dauerhaft bespitzelt und darüber wacht, dass die vorgegebenen Regeln strikt eingehalten werden, Privatsphäre ist nicht vorgesehen. Dennoch trifft Aris auf Mila, eine Schicksalsgefährtin. Vorsichtig, voller Scheu, nähern sich die beiden einander an. Doch bald schon fühlt sich Aris ausgenützt, verraten. Wollte Mila von ihm nur zwecks Erfüllung ihres vorgegebenen Programmes profitieren…?

In Christos Nikous Mila überschreitet der Staat Grenzen, die den Opfern der Pandemie angekündigte «Rettung» entpuppt sich als Falle, in der die Gedächtnislosen wie Versuchskaninchen gefangen sind… Eine Science-Fiction-Story, nahe an der (satirisch überhöhten) Realität, die sich auch in teils skurillen, zugleich erschreckend genau erfassten Details widerspiegeln.

Pari. Griechenland 2020, Regie: Siamak Etemadis
Von Teheran nach Athen: Pari und ihr um vieles ältere Ehemann sind angereist, um ihren Sohn nach Jahren wiederzusehen. Doch dieser holt sie nicht vom Flughafen ab und ist auch, als die Eltern nach mühsamer Suche (nur Pari spricht ein wenig Englisch) dessen Wohnung erreichen, dort nicht anzutreffen. Was sie schließlich herausfinden, zerstört ihre Illusion. Das Studium habe er längst abgebrochen, heißt es da, Kontakt zur iranischen Community habe er schon gar nicht. Der streng konservative Vater ist entsetzt und will heimreisen. Doch Pari stellt sich erstmals gegen eine Entscheidung ihres Mannes. Sie will so lange bleiben, bis sie ihren Sohn gefunden hat. Doch die Stadt, in der sich dieser so gut auskennt, dass ihr keiner von denen, die sie fragt, dessen mögliches «Versteck» nennen kann, ist für sie eine terra incognita. Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes legt Pari ihre Ängste ab, trifft auf Lebensstile, die ihr bis dahin fremder waren als ein anderer Kontinent, überschreitet Grenzen. Pari sucht weiter nach ihrem Sohn, doch sie hat schon etwas Wertvolles gefunden: ihr Selbst.
Pari ist die Geschichte einer Befreiung, in der der Weg das Ziel ist und Pari, eine Schattenexistenz, ihr bislang fremdbestimmtes Leben, gegen ein Eintauchen in neue Welten eintauscht, selbst Schatten wirft…

The Wire. Belgien 2021, Regie: Tiha K. Gudac
Ein Flusstal an der Grenze zwischen Slowenien und Kroatien: Hier verläuft die Kupa und hier ist auch mit Stacheldraht eine künstliche Trennungslinie errichtet worden, um Flüchtlinge abzuwehren und eine weitere vermutete Lücke entlang der sagenumwobenen «Balkanroute» zu schließen.
Tiha K. Gudac hat in ihrer Doku The Wire die Anrainer zu der handstreichartig errichteten Trennlinie befragt. Und siehe da, viele sind dagegen, doch nicht aus Freundlichkeit. Einige vermissen den Tourismus, andere den Kontakt mit Nachbarn auf der anderen Seite. Dass vor Ort einst 20000 Partisan:innen ermordet wurden, dessen wird zwar – rituell – gedacht, doch das kritische Bewusstsein bleibt im Historischen verhaftet…
Kaum jemand äußert sich offen xenophobisch, doch nur eine gibt einer Familie von Schutzsuchenden, die es noch vor Errichtung des Stacheldrahtzauns in einen der Grenzorte geschafft hat, Obdach. Sie wird misstrauisch beäugt – und ausgegrenzt.
The Wire wirft einen kenntnisreichen Blick auf ein sich immer stärker abschottendes Europa.