von Wilfried Hanser
Die ÖVP hat bei den Nationalratswahlen etwa 30% ihrer Wähler:innen verloren, wurde von der rechtsextremen FPÖ überholt und findet sich auf dem 2. Platz wieder. Trotzdem befindet sie sich in einer komfortablen Situation: Sie kann mit ihren nur noch 26,3 % weiterhin den Kanzler stellen und sich den oder die Koalitionspartner:innen aussuchen. Rechnerisch kann sie wahlweise entweder mit der rechtsextremen FPÖ, mit der Sozialdemokratie (mit knapper Mehrheit) oder mit zwei unterschiedlichen Varianten einer Dreierkoalition (mit SPÖ + Neos oder mit SPÖ + Grüne) weiterregieren.
Der Wahlsieger FPÖ sitzt im Moment hingegen allein im Wartezimmer: Niemand von den anderen Parlamentsparteien will derzeit mit ihm in einer Regierung sitzen. Niemand von den Chef:innen der anderen Parteien will sich an einer Koalition mit der FPÖ beteiligen. Kanzler Nehammer hat sich bisher darauf festgelegt, keinesfalls mit Kickl, dem Chef der FPÖ regieren zu wollen, sehr wohl aber mit der FPÖ – ohne Kickl.
Bekanntlich konnte die FPÖ unter Kickl ihr Wahlergebnis auf 28,8% beinahe verdoppeln. Vor 5 Jahren war sie noch wegen der IBIZA-Korruptionsaffaire massiv abgestürzt und flog aus der Regierung. Sie musste auch ihren damaligen Parteiobmann Strache in die Wüste schicken. Diese Auferstehung der FPÖ wie Phönix aus der Asche wird parteiintern Kickl und seiner provokanten Konfrontationsstrategie zugeschrieben, weshalb dieser fester denn je im Sattel sitzt. Kickl hetzt in nie dagewesener Weise gegen Flüchtlinge, Klimaaktivist:innen, das Gendern, die Grünen, den neuen sozialdemokratischen Parteichef Babler und gegen „das System“ und die „Systemparteien“, also pauschal gegen alle politischen Gegner. Er spielt bewusst mit Nazi-Sprech wie „Volkskanzler“ oder will „Flüchtlinge konzentriert in Lagern halten“. Er surft auf der Welle der Corona- und Klimawandel-Leugner, heizt sie weiter an und schreckt vor keinem bisherigen Tabu zurück. Diese Strategie ging auf Wahlebene offenbar auf. Kickl konnte das beste Ergebnis seit Gründung der FPÖ einfahren. Trotzdem sitzt Kickl jetzt auf der Wartebank, weil er bis dato gerade wegen dieser Konfrontationsstrategie keinen Koalitionspartner findet. Er gilt als unberechenbar und rücksichtslos rabiat im Parteiinteresse. Mit seinem Erfolg konnte er allerdings auch alle potentiellen Kritiker oder Konkurrenten innerhalb seiner Partei kaltstellen. Parteiinterne Kritiker sind keine zu vernehmen.
Die Sozialdemokratie unter ihrem neuen moderat reformistisch und kämpferisch auftretenden Parteiobmann Andreas Babler steht als Nummer 3 (21,2 %) vor einem heiklen strategischen Dilemma und hat gleichzeitig mit massiven internen Querschüssen von mindestens zwei unterschiedlichen Fraktionen zu kämpfen. Letztere haben in Kombination mit dem medialen Boykott gegen Babler dem Wahlkampf jeden Schwung genommen. Das Dilemma: Einerseits gilt es zu verhindern, dass die rechtsextreme FPÖ auf nationaler Ebene an Regierungsmacht und an entsprechende zusätzliche Finanzquellen kommt. Andererseits läuft die Sozialdemokratie Gefahr, aus einer strategisch sehr ungünstigen Verhandlungsposition heraus in Regierungsverhandlungen zu derart weitreichenden Zugeständnissen gezwungen zu werden, dass sie in den Augen ihrer Wähler:innen komplett das Gesicht verliert. Im Moment spricht Babler in Richtung ÖVP-Obmann und Kanzler Nehammer allerdings von einer „ausgestreckten Hand“ und signalisiert Verhandlungsbereitschaft. Aber in welcher Regierung würde er selbst bei einem Erfolg der Verhandlungen dann sitzen? Auf Grund der sehr knappen Parlamentsmehrheit würde die ÖVP vermutlich nur dann eine Koalition eingehen, wenn auch die Neos an der Regierung beteiligt wären. Welche Programmpunkte wären mit zwei solchen neoliberal gepolten Regierungspartnern noch umsetzbar?
Dabei ist daran zu erinnern, dass die ÖVP möglicherweise nicht einmal ernsthaft verhandeln will: 1999 wurde die Sozialdemokratie zwar Erste und die ÖVP unter Wolfgang Schüssel führte mit ihr Koalitionsverhandlungen. Scheinverhandlungen, wie sich dann herausstellte. Denn hinter dem Rücken der Sozialdemokratie schmiedete Schüssel aus der Position des Dritten eine Koalition mit der zweitgereihten FPÖ, während die Sozialdemokratie in den Verhandlungen mit ihren Forderungen immer mehr nachgegeben hatte. Plötzlich brach Schüssel die Verhandlungen ab, bildete überraschend mit der FPÖ (ohne deren Parteichef Haider in der Regierung) eine Koalition und ließ sich zum Kanzler machen. Gleichzeitig schlachtete er die inhaltliche Kapitulation der Sozialdemokratie aus, indem er darauf verwies, dass er ja nur den „inhaltlichen Kompromiss mit der Sozialdemokratie“ als Regierungsprogramm umsetzen würde. Was sollten die Sozialdemokraten daran noch kritisieren? Das war eine schwere Hypothek im Kampf gegen die Privatisierungswelle und den Sozialabbau der Schwarz-Blauen Schüssel-Regierung!
Droht jetzt eine Wiederholung bzw. Fortsetzung? Der ÖVP-Wirtschaftsbund und die Industriellenvereinigung drängen auf eine Koalition mit der FPÖ, um – nicht zuletzt angesichts ungünstiger Wirtschaftsprognosen und einem veritablen Budgetdefizit – massive Einschnitte bei den sozialen Errungenschaften durchzudrücken. Dazu gehört vor allem auch eine Arbeitsmarktreform, die Einführung von Hartz IV wie in Deutschland. Bislang konnten die massivsten Einschnitte analog der „Aganda 2010“ in Deutschland (KONTRA-Reformen bei Pensionen, Gesundheitswesen und Arbeitslosenversicherung) in Österreich noch weitgehend verhindert werden. Jetzt stehen die Zeichen auf Sturm.
Wie könnte die Sozialdemokratie mit dem Dilemma umgehen? Wäre eine Duldung einer ÖVP-Minderheitsregierung durch Sozialdemokratie und eventuell auch Grüne) eine Option, die FPÖ von Regierungsämtern und Futtertrögen fernzuhalten und gleichzeitig keine Mitverantwortung für massiven Sozialabbau zu übernehmen – und gleichzeitig der ÖVP die Ausreden für eine Blau-Schwarze Koalition zu nehmen? Entscheiden wird – erst recht angesichts der neuen tristen Mehrheitsverhältnisse im Parlament und einer 2/3-Mehrheit für neoliberale Verfassungsänderungen (ÖVP + FPÖ + Neos = fast 69% der Abgeordneten) vor allem der gewerkschaftliche und außerparlamentarische Widerstand. Bekanntlich hat es auch keine der drei Kandidaturen links von der Sozialdemokratie (KPÖ, Liste Gaza und Der Wandel/“Keine“) ins Parlament geschafft.
Wichtig wäre jetzt, an der gemeinsamen Demo der Klimaschutzbewegung und den österreichweiten Initiativen zur Verteidigung der Demokratie vom 20. September in Wien (13.000 Teilnehmer*innen) anzusetzen und diese weiterzuentwickeln, indem der Kampf gegen den drohenden Sozialabbau und Errungenschaften der Frauenbewegung damit verbunden wird. Eine Chance für die Demokratiebewegung, Klimaschutzbewegung, Gewerkschafter:innen, Feminist*innen, Sozialdemokrat:innen, Kommunist:innen und Linke, eine neue Zusammenarbeit zu entwickeln, um außerparlamentarischen Widerstand gegen den drohenden Kahlschlag bei Sozialem, Klimaschutz und Demokratie auf die Beine zu bringen – und eine solidarische Zusammenarbeit insbesondere von unten aufzubauen? Nutzen wir sie und beteiligen wir uns aktiv daran! Nur so kann der drohende Sozialabbau, die reaktionäre Klimawende, die Zerstörung von demokratischen Rechten und Errungenschaften der Frauenbewegung abgewehrt und das Kräfteverhältnis wieder verbessert werden.