von Promise Li

Sozialist:innen müssen den aufstrebenden Widerstand in China unterstützen. Die chinesische Bevölkerung wehrt sich gegen die autoritäre Herrschaft, die kapitalistische Ausbeutung und die tödliche Lockdown-Politik der Regierung. Jetzt gilt es Solidarität zu zeigen.

Die aktuellen Proteste in China zeigen eine der größten Massenmobilisierungen innerhalb des Landes seit der Tiananmen-Bewegung 1989 an. Ausgelöst wurden sie durch einen Brand in einem Wohnhaus in Ürümqi in der Region Xinjiang, bei dem am 24.November mindestens zehn Menschen ums Leben kamen (die meisten von ihnen Uiguren). Die Tragödie geschah, weil Feuerwehrkräfte nicht schnell genug vor Ort sein konnten. Der Grund dafür war das Lockdown-Regime der Provinz Xinjiang, das dazu führte, dass manche Anwohne­r:in­nen über hundert Tage lang in ihrem Zuhause festgehalten wurden.

Der Vorfall war ein Katalysator für stadtweite Proteste. Solche lokalen Proteste werden zwar oft toleriert, aber im nachhinein werden die Verantwortlichen mit kalter Präzision zum Schweigen gebracht. Ein Beispiel hierfür ist der Umgang der KPCh 1952 mit den Trotzkisten, die Opfer haltloser Anklagen wurden und entweder im Gefängnissystem landeten oder gänzlich verschwanden.

Wenige Tage vor den aktuellen Ereignissen hatten Arbeiter:innen von Foxconn Zhengzhou gegen die prekären Arbeitsbedingungen protestiert. Diese sind das Ergebnis der Kombination aus den regionalen Lockdown-Richtlinien und den Praktiken der Unternehmensleitung bei dem taiwanesischen Hersteller von Elektronik und Computerteilen. Das Arbeitsregime bei Foxconn, das von der chinesischen Regierung abgesegnet ist, erlaubt, Arbeiter:innen im Namen der Kontrolle über die Pandemie an ihrem Arbeitsplatz einzusperren. Sie werden dort gezwungen, die erhöhte Produktionsquote für Apples neue I-Phones zu erreichen. Die lokale Regierung hatte hunderte von Polizisten entsandt, um Foxconn bei der Unterdrückung der Arbeiteraufstände zu unterstützen.

Der Vorfall bei Foxconn zeigt die Logik, die den Corona-Maßnahmen zugrundeliegt. Es geht um die knallharte Kontrolle über die arbeitende Bevölkerung, mit dem Ziel die kapitalistische Produktivität Chinas zu erhalten. Chinas autoritäre Lockdown-Politik zielt in großen Teilen darauf ab, die Bewegungen von Bürger:innen mitunter gewaltsam einzuschränken. Dabei wird keine Rücksicht auf den Zugang zu grundlegenden Bedürfnissen genommen. Menschen werden massenhaft gezwungen, sich in Quarantäneeinrichtungen zu begeben, und das, obwohl sie teilweise nicht infiziert sind.

Die Tragödie in Ürümqi zeigt, dass lokale Regierungen schlecht geplante Lockdowns durchführen; gleichzeitig rücken die staatlichen Behörden keine akkuraten Daten über die Zahl der infizierten Personen oder Todesfälle bekannt.

Die Bedeutung der Proteste

Menschen engagieren sich landesweit in unabhängigen Aktionen mit dem Ziel, die materiellen Verhältnisse in einer der zwei größten kapitalistischen Supermächte zu ändern. Die Kritik an der Lockdown-Politik des Landes ist der gemeinsame Nenner der Proteste, aber es werden auch weitergehende Aspekte debattiert. Sollen die Todesfälle in Ürümqi überhaupt zu einem politischen Thema gemacht werden? Soll lediglich eine Reform des Lockdown-Regimes oder doch ein radikalerer Wandel des politischen Systems angestrebt werden? Manche verlangen eine demokratische, freie und offene kommunistische Partei, während andere einen gänzlichen Umsturz des Systems fordern.

Auch wenn die politischen Inhalte dieser Proteste nicht eindeutig sind, ist eine Sache klar: Dieser Moment stellt einen Wandel im politischen Bewusstsein der chinesischen Bevölkerung dar. Schon allein aus diesem Grund sollten Sozialisten Solidarität zeigen. Der Schlüssel dazu ist die Bündelung der wichtigsten Forderungen, die Errichtung einer solidarischen Infrastruktur außerhalb von China, und das Bemühen, den Rufen nach demokratischen Grundrechten Gehör zu verschaffen.

Die zentrale Forderung der Proteste sollte hier nicht mit denen rechter Corona-Leugner aus dem Westen verwechselt werden. Die Forderungen beziehen sich auf explizite, menschenverachtende Maßnahmen der chinesischen Regierung. Es gibt keinen Beweis dafür, dass Corona-Leugner hinter den Protesten stehen.

Was können Sozialist:innen tun?

Im Prinzip gibt es in China keine öffentlich organisierten, unabhängigen sozialistischen Organisationen. Organisationen im Untergrund scheitern in der Regel, da sie Opfer staatlicher Infiltration werden. Der formelle Austausch zwischen sozialistischen Organisationen ist wichtig, aber autoritäre Bedingungen erfordern Flexibilität. Internationale Solidarität muss hier kreativer und vorsichtiger gestaltet werden.

Wegen der Abwesenheit von unabhängigen politischen Organisationen sind chinesische Bürger:innen daran gewöhnt, ihren Unmut anonym auf Kanälen sozialer Medien wie Weibo, Telegram usw. auszudrücken. Die Diskussionsbeiträge auf den entsprechenden Plattformen haben seit den neuesten Entwicklungen enorm zugenommen. Ein wichtiger Ort der politischen Massenaktivität sind deshalb die zahlreichen Gruppenchats, die vom @citizensdailycn-Konto in den sozialen Medien angeboten werden. Aktive Sozialist:innen aus der chinesischen Diaspora nehmen ebenfalls an solchen nichtöffentlichen Räumen teil. Progressive Chinesen aus dem Ausland und andere Diaspora-Aktivist:innen, die sich für China interessieren, organisieren sich auch auf relativ jungen Plattformen wie »Not your little pink«, »Dove and Crane Collective«, und »Students for Hong Kong«.

Sozialist:innen sollten diese Initiativen und Plattformen unterstützen, ohne sie zu übernehmen oder gar als Rekrutierungsinstrument zu nutzen. Es gilt, von den Erfahrungen dieser Aktivist:innen zu lernen und ihre Autonomie zu verteidigen.

Die Bevölkerung Chinas fordert eine Wiederherstellung demokratischer Grundrechte – das muss unterstützt werden. Die Struktur der Einparteiendiktatur der KPCh ist zwangsläufig mit ihrem kapitalistischen System verbunden. Eine wahre Wiederherstellung von Meinungsfreiheit, Selbstbestimmung und unabhängiger Organisation erfordert die Ersetzung der bestehenden staatlichen Institutionen durch die einer sozialistischen Demokratie.

Wie es der chinesische Marxist Wang Fanxi (1907–2002) ausdrückte, verteidigt die sozialistische Demokratie ein Parteiensystem, das »demokratische Rechte … die das Volk bereits im Rahmen des bürgerlichen demokratischen Systems errungen hat« erhält – aber auch darüber hinausgeht, indem es die Herrschaft der Bürokraten und Kapitalisten über die Produktionsmittel beseitigt. Das Ziel ist die Erlangung der politischen Macht der Arbeiterklasse in Form einer demokratisch geplanten Wirtschaft. Die Arbeit der Sozialist:innen besteht darin, sich in der breiteren Bevölkerung so zu organisieren, dass die Bewegungen diese Ideen unter ihren eigenen Bedingungen entwickeln.

Möglichkeiten der Solidarisierung

Was können wir tun?

  • durch Journalist:innen und Social-Media-Accounts, die im Kontakt zu Leuten vor Ort stehen, bessere Vorstellungen erlangen – zum Beispiel über @whyyoutouzhele und @renminwansui5 auf Twitter, @citizensdailydn und @northern_square auf Instagram und über ausländische Organisationen wie „Not Your Little Pink„, „Dove and Crane Collective„, Uyghur Collective und Students for Hong Kong;
  • Kämpfe von Uiguren und Nicht-Han-Ethnien in Xinjiang hervorheben, die überproportional vom chinesischen Staat unterdrückt werden;
  • Bildungsmaterial für lokale Verbände und verbündete Organisationen erstellen;
  • reaktionäre Desinformation bekämpfen – insbesondere von pro-staatlichen Propagandamedien, die sich an die westliche Linke richten und die Forderungen der Demonstrierenden einseitig darstellen oder sogar verfälschen;
  • Kampagnen gegen Arbeitsmissbrauch in China unterstützen, in Ergänzung der aktuellen Proteste;
  • formelle Beziehungen zu Uiguren, Chinesen, Hongkongern und anderen Diaspora-Organisationen pflegen. Nicht um jede ihrer Forderungen zu übernehmen, sondern um dabei zu helfen, sozialistische Kritik am chinesischen autoritären Kapitalismus mit ihnen gemeinsam vorzutragen;
  • Berichte über vermisste und inhaftierte Personen aus den Protesten verbreiten.

Internationale Solidarität ist ein Eckpfeiler der sozialistischen Bewegung, und Menschen im globalen Norden mit Ressourcen haben eine besondere Verantwortung. Ihre Bemühungen können begrenzt sein, aber wenn gar nichts versucht wird, würde das Feld dem »Anti-China«-Establishment überlassen.
Das ist ein wichtiger Moment für die internationale sozialistische Bewegung. In einem der strategisch wichtigsten Länder der Welt wächst der Widerstand gegen Kapitalismus und Autoritarismus. Wie immer gehört unsere Solidarität und aktive Unterstützung den progressiven Bewegungen.

30.11.2022

Promise Li ist Mitglied von Solidarity (USA) und der DSA (Democratic Socialists of America). Er organisiert internationale Solidaritätsarbeit mit dem »Lausan Collective« und »Internationalism from Below«.