von Kurt Hofmann

Juryentscheidungen sind häufig Kompromisse. Dies gilt wohl auch die Preisverleihung des »Goldenen Leoparden« an den litauischen Film Akiplesa (Regie: Saula Biluvalté). Der Film erzählt die Geschichte einer Mädchenfreundschaft rund um eine erhoffte Modelkarriere. Zwei Außenseiterinnen halten gegen Mobbing zusammen, machen sich Gedanken über schlanke Körper, aber mehr noch über das Entfliehen aus der Provinz in die große Stadt. Der Film ist ein intimes Porträt, sensibel erzählt. Was Akiplesa aber nicht war: der Höhepunkt des Festivals. Da standen mehrere bemerkenswerte Filme zur Auswahl.

Agora
Tunesien 2024
Regie: Ala Eddine Slim
Drei lang Vermisste sind in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, doch die Nachricht soll unterdrückt werden. Die örtlichen Polizeibehörden halten die wieder Aufgetauchten unter Verschluss. Spätestens als Mitglieder einer »Spezialabteilung« auftauchen und die »Angelegenheit« übernehmen, verdichten sich die Hinweise, dass das Trio offenbar kontaminiert ist und Seuchengefahr besteht.
Was/wer nicht zu sehen ist, ist nicht vorhanden. Worüber nicht gesprochen wird, das hat nicht stattgefunden. Aber das kann selbst in autoritären Verhältnissen auf Dauer nicht funktionieren, und prompt macht sich im Ort Unruhe breit. All dies sei aber, so erklärt uns der tunesische Film Agora, ohnedies bloß den Träumen einer blauen Hündin und einer schwarzen Krähe entsprungen.

Diese Vorgehensweise von Regisseur Ala Eddine Slim ist schlau, aus zweierlei Gründen: Zum einen entgeht Agora dadurch der Gefahr einer hyperrealistischen, allzu linearen Erzählweise, die hier »poetisch« konterkariert wird. Zum anderen wird dadurch die Zensur düpiert, denn wie in Agora Probleme unter der Tuchent (Decke) gehalten werden (sollen), wird zwar beispielhaft vorgeführt, hat jedoch, siehe tierische Träume, niemals stattgefunden.

La Mort viendra
Deutschland 2024
Regie: Christoph Hochhäusler
Der Gangsterboss Charles Mahr erteilt einen Auftrag und Taz ist bereit, ihn auszuführen: Murder by Contract. Alles geht seinen Gang, doch Taz will, über ihre Mission hinaus, Zusammenhänge erkunden – das könnte ein Fehler sein … Mit La Mort viendra (»Der Tod wird kommen«), stand – schon das war höchst erfreulich – ein Genrefilm im Wettbewerb, und Hochhäusler kennt die Zutaten des Genres: Spuren, die gelegt werden (müssen) und gut gezeichnete Charaktere. Beides gelingt Hochhäusler im Sinne Jean-Pierre Melvilles perfekt und macht La Mort viendra zu einem der anspruchsvollsten und interessantesten Filme des Festivals. Andererseits ist »perfekt« auch das Stichwort für die Schwachstelle des Films, denn anders als Melville interessiert sich Hochhäusler nicht für seine Figuren und deren Beziehungen zueinander, alles »stimmt«, doch es ist ein kaltes Feuer, welches Hochhäusler in La Mort viendra« entfacht.

Salve Maria
Spanien 2024
Regie: Mar Coll
Marie ist dabei, sich als Autorin zu etablieren, aber ebenso wichtig ist es ihr, als junge Mutter alles »richtig« zu machen. Sie tauscht sich in einer Gruppe mit anderen Müttern aus. Ein Mitglied der Gruppe, die vorgibt, ihre Bücher zu kennen, bedrängt sie mit ihrem Wunsch nach näherem Kontakt. Ein Fan? Eine Stalkerin? Eines Tages stößt Marie auf eine Sensationsmeldung: Eine Französin habe, so die Schlagzeile, ihre zehn Monate alten Zwillinge in der Badewanne ertränkt. Das interessiert Marie zunächst als Schriftstellerin, doch schon bald wird es für sie zur Obsession: Was, wenn auch sie ein solch düsteres Verlangen hätte? Ihr Freund versucht, sie zu beruhigen, doch Marie lässt sich nicht von ihrer fixen Idee abbringen. So wird die seltsame Frau aus der Müttergruppe für Marie immer mehr zur Vertrauten und nistet sich in ihrer Wohnung ein.

Salve Maria führt vor, wie sich Maries Ängste zu Wahnvorstellungen verdichten, entwickelt ein System der Andeutungen und der (bedrohlichen) Töne. Wann immer Marie versucht, zur Ruhe zu kommen, dringt etwas an ihr Ohr, das sie nachhaltig irritiert. Salve Maria ist – fast – ein Horrorfilm. Leider nur fast, denn die Intensität des Films nimmt aufgrund der »Erklärungsversuche« gegen Ende des Films ab. Schade, denn Salve Maria macht bis dahin alles richtig und bleibt jedenfalls als einer der stärksten Wettbewerbsbeiträge im Gedächtnis.