Die Redaktionen der US-amerikanischen marxistischen Zeitschriften Against the Current, New Politics, Spectre und Tempest haben am 7. Dezember eine gemeinsame Stellungnahme veröffentlicht.
Am vergangenen Wochenende [26./27. November] wurden große chinesische Städte wie Ürümqi, Shanghai, Nanjing, Chengdu, Wuhan, Guangzhou und Peking sowie über 50 Universitäten – darunter Elite-Institutionen – von Unruhen, Massendemonstrationen und Mahnwachen erschüttert. Eine Protestbewegung dieser Größenordnung und mit so offen politischen Forderungen wie „Freiheit“ und „Demokratie“ hat es in China seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr gegeben, und wir von der internationalen Linken sollten ihrer Entwicklung große Aufmerksamkeit schenken und Solidarität anbieten.
In den letzten Tagen wurden die Menschen durch Wut und Empörung über den Tod von mindestens zehn Menschen (und weit mehr Verletzten, sowohl Han- als auch Uiguren-Chines*innen) in Ürümqi, der Hauptstadt der Provinz Xinjiang, auf die Straße getrieben. Die Todesfälle wurden durch einen Brand verursacht, der drei Stunden lang in mehreren Stockwerken eines Hochhauses wütete, bevor er gelöscht wurde. Die Bewohner*innen glaubten, dass die Verzögerung bei der Rettung teilweise durch die Absperrung des Stadtviertels verursacht wurde, die die Mobilität von Notfallhelfer*innen einschränkte.
Dies war der letzte Auslöser für eine Öffentlichkeit, die in den letzten Monaten unter zunehmend drakonischen und willkürlichen COVID-Lockdowns gelitten hat. Diese haben die Existenzgrundlage vieler Menschen angegriffen, insbesondere arbeitender Menschen mit geringen Ersparnissen, und in einigen Fällen zu unnötigen Todesfällen geführt. Staatliche Unterstützung für die kapitalistische Ausbeutung chinesischer Arbeiter*innen, die bei Foxconn in den Produktionsanlagen für elektronische Geräte eingesperrt wurden, ist ein weiteres empörendes Beispiel für die Grausamkeit dieser Politik. Während die Lockdowns in der frühen Phase der Pandemie sicherlich Leben in China gerettet und breite öffentliche Unterstützung gefunden haben, sind die Menschen inzwischen skeptisch geworden und glauben nicht mehr, dass dies der humanste oder effektivste Weg sei, mit COVID umzugehen. Aber ihre Stimmen wurden ignoriert und ihre Beschwerden in den sozialen Medien zensiert, da sie in einem der am stärksten überwachten Länder der Welt leben.
Schließlich hat sich die seit Monaten aufgestaute öffentliche Unzufriedenheit auf die Straßen ergossen. Im Laufe des Wochenendes eskalierten die Proteste und drückten vielfältige Forderungen aus, die den klassenübergreifenden Charakter der Bewegung widerspiegeln. Die Demonstrant*innen riefen Parolen wie „Aufhebung der Einschränkungen“, „Freiheit“, „Demokratie“, „Würde“, „Ende der Diktatur“, „Rechtsstaatlichkeit“, „Redefreiheit“ und in den extremeren Fällen „KPCh tritt ab“ und „Rücktritt von Xi Jinping“, was sowohl die gemeinsamen als auch die unterschiedlichen Anliegen der Demonstrant*innen bei Massendemonstrationen zeigt. Im Wesentlichen wird jedoch nicht der Sturz der Regierung, sondern ihre Demokratisierung gefordert; die Regierung soll auf die Stimmen und Bedürfnisse des Volkes hören. Das sind keineswegs sozialistische Forderungen, aber im chinesischen Kontext progressive – und aus Sicht des Staates subversive – Forderungen, denen mit Unterdrückung begegnet wird. Tatsächlich hat die Regierung bereits begonnen, Demonstrant*innen festzunehmen und zu schikanieren und wichtige Protestorte und öffentliche Plätze abzusperren, um Demonstrant*innen fernzuhalten.
Was diese Proteste motiviert, ist nicht nur der Lockdown, sondern das Gefühl, von einem politischen System nicht gehört zu werden, das die öffentliche Meinung so arrogant missachtet. Dieses Gefühl der Entfremdung vom politischen System wurde weiter verstärkt, als Xi Jinping die Amtszeitbeschränkungen abschaffte und sich seine dritte Amtszeit als Parteisekretär sicherte. Das erklärt die politischen Forderungen nach Demokratie.
Um Masseninfektionen zu vermeiden, die sich aus der Aufhebung der COVID-Beschränkungen ergeben können, werden sowohl eine höhere Impfrate als auch effektivere Impfstoffe erforderlich sein. Nötig sind auch mehr Investitionen in das Gesundheitssystem, damit Zugang für alle und bessere Pflege zu erreichen. Aber es steht uns nicht an, außerhalb Chinas für die Menschen in China zu entscheiden, ob und wie die COVID-Beschränkungen, die ihr Leben in einer Weise einschränken, die wir nicht erleben, gelockert werden können. Und im Gegensatz zu den rechtsgerichteten Lockdown- und Impfgegnern in den USA, Europa und anderswo hat die chinesische Öffentlichkeit weder die Existenz des Virus oder seine Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen bestritten noch die Notwendigkeit von Impfungen in Frage gestellt. Sie sollten nicht mit rechtsgerichteten Bewegungen im Westen gleichgesetzt werden, und wir sollten Versuche ablehnen, die Demonstrant:innen so darzustellen, um sie zu diskreditieren.
Unsere Solidarität mit den Protestierenden in China zu zeigen, sollte nicht umstritten sein. Leider gab es entweder völliges Schweigen oder nur sehr zögerliche Anerkennung von Teilen der Linken, die in der Vergangenheit den chinesischen Staat und darüber hinaus sein autoritäres kapitalistisches System verteidigt oder Kritik daran abgewiegelt haben. Wenn sich die Menschen in China gegen eine brutale, unmenschliche Parteidiktatur erheben, können wir nicht schweigen oder, schlimmer noch, die Protestbewegung bagatellisieren oder ihre Bedeutung abtun. Als Sozialist*innen und Internationalist*innen sollten wir bei diesen Protesten jedes Anzeichen eindeutigen Widerstands gegen das herrschende Regime in China und Forderungen nach Demokratie unterstützen.
Die Menschen in China fordern, wie an vielen anderen Orten der Welt, eine gerechtere Regierung und Gesellschaft – mit anderen Worten: Demokratie. Ein demokratisches System in China, in dem das Volk und nicht eine sich selbst bejubelnde Elite das Sagen hat, ist auch entscheidend für den Kampf gegen den Imperialismus aller Arten und für die Bewältigung der vom System hervorgerufenen Umwelt- und Klimakrise. Von einer prinzipientreuen internationalistischen sozialistischen Position aus bekunden wir unsere Solidarität mit den Menschen, die an den Demonstrationen teilnehmen, und mit ihren Zielen.
Quelle: https://newpol.org/solidarity-statement-with-protests-in-china/, https://www.europe-solidaire.org/spip.php?article64976, https://internationalviewpoint.org/spip.php?article7903
Übersetzung: B. Mertens
Siehe auch:
- Promise Lee, „Socialists Should Support the Popular Resistance in China“, The Call – A Project of DSA’s Bread & Roses Caucus, 30. November 2022
- Yun Dong, „The Uprising in China Resisting Lockdowns, Repression, and Precarity“, Spectre, 30. November 2022
- Promise Lee, „The Foxconn uprising in Zhengzhou: The explosive nexus of labor and social reproduction in China“ (Interview mit der feministischen Forscherin Yige Dong), Tempest, 5. Dezember 2022