Scientists for Future fragen: Wie weit darf Wissenschaft sich politisch einmischen?

Gespräch mit Mathis Bönte*

Die Debatte um die Rolle der Wissenschaft nimmt Fahrt auf. Als mit Fridays for Future die Jugend gegen den Klimawandel aufbegehrte, gab es nicht wenige Politiker:innen, die der neuen Bewegung Ahnungslosigkeit unterstellten. Das war auch in Deutschland der Startschuss für Scientists for Future (S4F). Zahlreiche Wissenschaftler:innen verteidigten die wissenschaftlichen Aussagen der Jugendbewegung gegen bornierte Politiker. Überall entstanden seitdem Ortsgruppen, auch prominente Wissenschaft­ler:innen gehören dazu. Nun stellt sich die Frage: Wie weit soll sich die Wissenschaft einmischen?

S4F Münster und Göttingen hatten zur Unterstützung von «August rise up» aufgerufen, einer Serie offensiver Aktionen der Klimabewegung Mitte August dieses Jahres in Berlin. Das bundesweite Koordinationsteam von S4F aber lehnte den Aufruf ab und forderte die beiden Ortsgruppen auf, das «markenrechtlich geschützte Logo» von S4F wieder aus der Unterstützerliste zu entfernen. Gerhard Klas sprach darüber mit Mathis Bönte, einem Rechtswissenschaftler bei S4F Münster.

Warum wurde Ihr Unterstützungsaufruf zum Problem bei S4F?

«August rise up» war eine Klimaprotestwoche in Berlin, mit Demonstrationen, aber auch mit Aktionen des zivilen Ungehorsams, z.B. Straßenblockaden. Wir hatten auch andere Regionalgruppen und die Bundesebene dazu aufgefordert, «August rise up» zu unterstützen. Das wurde dann von den allermeisten S4F-Gruppen, insbesondere von der Bundesebene deutlich zurückgewiesen. Letztere argumentierte, ein solcher Aufruf sei mit dem Selbstverständnis einer Wissenschaftsorganisation nicht vereinbar. Sie pochte auf das Neutralitätsgebot der Wissenschaft: Ihre Rolle sei es, Wissen zu schaffen und zu vermitteln. Aber nicht, politische Forderungen zu stellen. Damit würde sie ihre wissenschaftliche Reputation bei anderen Akteuren der Zivilgesellschaft und der Politik verlieren.

Warum betrachten Sie diese Haltung kritisch?

Ich habe die Position auch selber lange Zeit vertreten, habe also darauf geachtet, welche Erklärungen wir unterzeichnen, ob die als Forderungen erscheinen oder ob wir damit lediglich Wissen vermitteln. Im Grundsatz kann ich die Haltung nachvollziehen, weil es ja auch gewisse Rollenkonflikte zwischen Wissenschaft und Aktivismus gibt. Wissenschaft lebt vor allem davon, dass sie ihre eigene Position immer wieder hinterfragt. Wenn wir politisch aktiv sind, funktioniert das nicht so gut, denn wir müssen bestimmt auftreten und stark vereinfachen, um politisch überhaupt gehört zu werden. Und das geht natürlich auf Kosten der wissenschaftlichen Differenzierung.
Dieses Problem hätten wir nicht, wenn sich die Politik ernsthaft mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen befassen würde. Doch dieser Verantwortung kommt die Politik einfach nicht nach. Und da stellt sich die Frage, wie die Wissenschaft darauf reagieren muss. Dann ist es auch angezeigt, dass Wissenschaftler:innen aus ihrer Rolle heraustreten.

Besonders in Münster hat die S4F-Regionalgruppe intensiv über zivilen Ungehorsam debattiert. Mit welchem Ergebnis?

Unsere Regionalgruppe in Münster hält zivilen Ungehorsam nicht nur für legitim, sie steht auch dahinter, wenn Leute von uns als Scientists for Future an Aktionen des zivilen Ungehorsams teilnehmen. Wir waren auch mit einigen in Berlin aktiv dabei. Aber das ist unsere Position, nicht die der Bundesebene oder der meisten anderen Regionalgruppen. In England hat sich jetzt vor kurzem die Gruppe Scientist Rebellion gegründet, die mittlerweile auch in Deutschland aktiv ist. Sie war kürzlich in aller Munde, weil über sie der Entwurf des dritten Teils des IPCC-Weltklimaberichts vorab in die Medien gelangte. In diesem Teil geht es um die Minderung der Emissionen und die Anpassung an den Klimawandel, eigentlich das wichtigste Kapitel für politische Entscheidungsträger. Diese Wissenschaftler:innen wollen verhindern, dass der Text vor seiner Veröffentlichung durch politische Einflussnahme verwässert wird, wie es mit den früheren Berichten wohl regelmäßig geschah.
Scientist Rebellion interpretiert die Rolle der Wissenschaft jedenfalls sehr offensiv. Im Moment ist wirklich viel in Bewegung. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass sich auch S4F in absehbarer Zeit hinter den zivilen Ungehorsam von Gruppen wie Ende Gelände oder Extinction Rebellion stellen wird.

Derzeit befindet sich die Politik im Wahlkampfmodus und die Klimapolitik ist nach der Flutkatastrophe in aller Munde. Hegen Sie Hoffnung?

Die Wahlprogramme klingen gar nicht so schlecht. Alle etablierten Parteien sprechen sich für das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Abkommens aus. Aber sie benennen keine ausreichenden Mittel, um dorthin zu gelangen. Bis auf die Grünen haben sie nicht einmal ein nationales Budget für CO2-Emissionen beziffert. Und selbst die Grünen haben die Berechnungen geschönt, sind nicht den Vorgaben des Sachverständigenrats für Umweltfragen gefolgt. Überhaupt nicht berücksichtigt sind auch die Beschleunigungsprozesse, die durch das Auftauen des Permafrosts auftreten werden. Von sich aus wird die Politik den Klimawandel nicht in den Griff bekommen. Deswegen brauchen wir zivilen Ungehorsam.

*Mathis Bönte forscht in der Rechtswissenschaft.
Er arbeitet als Anwalt und ­verteidigt Klimaaktivist:innen vor Gericht.
Seit 2019 ist er Mitglied der Scientists for Future, Münster.
Die Position der S4F Münster zu zivilem Ungehorsam ist nachzu­lesen auf https://muenster-klima.info/2021/08/23/
gehorchekeinem/
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Aus SOZ, Sozialistische Zeitung Sept. 21 https://www.sozonline.de/2021/09/weil-die-politik-versagt-brauchen-wir-zivilen-ungehorsam/