von Kurt Hofmann

Crossing Europe, das Festival des europäischen Films in Linz, bot auch in seiner Ausgabe 2024 ein vielfältiges Programm mit gesellschaftspolitisch relevanten Themen.

Hotel Pula, Kroatien 2023, Regie: Andrej Korovljev

1995: Der 38jährige Mahir ist Bosnier und der einzige in seiner Familie, der den Krieg im ehemaligen Jugoslawien überlebt hat. In der kroatischen Küstenstadt Pula gestrandet, findet er im Hotel Pula, einem Aufnahmezentrum für Flüchtlinge, Unterschlupf. Hier (über)lebt er, mehr schlecht als recht, ständigen Behördenkontrollen ausgesetzt und tendenziell von Ausweisung bedroht. In Pula gelten die »Hotelbewohner:innen« als Aussätzige, mit denen man besser nichts zu tun haben will.

Allerdings hat Mahir, der sich stumm und wie abwesend durch seine Umgebung bewegt, bei einer zufälligen Begegnung am Strand das Interesse der 18jährigen Una erweckt, die wissen will, was sich hinter der »äußeren Schale« des Ernsten und Unnahbaren verbirgt, wer dieser Mann ist, der ihr so anders scheint als ihre gleichaltrigen Freunde… Nur langsam gelingt es Una, dem misstrauischen und verschlossenen Flüchtling nahe zu kommen, bis Mahir entdeckt, dass er durch Una wieder zurück ins Leben finden könnte. Das ungleiche Paar schmiedet Pläne, will gemeinsam die Stadt und das Land verlassen, bis eine aus Mahirs Heimatdorf aufkreuzt und ihn mit einer folgenschweren Frage konfrontiert: Ob es nicht einen Grund dafür gebe, dass er der einzige männliche Überlebende seiner Ortschaft sei?

Hotel Pula zeigt ein Hotel als Wartezimmer für lebende Tote, in dessen Keller eine Disco betrieben wird, in der sich Una und ihre Freund:innen treffen, voller Lebenslust und jugendlicher Unbeschwertheit.
Ein Hotel: zwei Welten. Wie Una dann Mahir kennenlernt, von dem sie nicht vorwiegend das Alter, vielmehr eine andere Welt unterscheidet. Wie beide hoffen, diese Kluft überwinden zu können und schließlich davon überzeugt sind. Wie sie die Uneindeutigkeiten des Krieges einholen.
Hotel Pula ist ein ehrlicher Film, der nicht vorgibt, Lösungen zu haben, aber allfälligem Betroffenheitskitsch ebenso entschieden aus dem Weg geht.

Abendland. Deutschland 2024, Regie: Omer Fast

Wer kommt denn da? Das ist doch… Frau Merkel! Und sie läuft vor der Polizei davon… Frau Merkel, das ist in Wahrheit eine junge Umweltaktivistin, die sich durch die Bundeskanzlerinmaske unkenntlich macht und nach einem Protest gegen eine bevorstehende Rodung der Verfolgung durch die Uniformierten mittels Flucht entzieht. Immer tiefer gerät sie in den ebenso dichten wie unübersichtlichen Wald, bis sie schließlich, stolpernd, in eine Schlucht stürzt. Hier trifft sie auf ein seltsames Völkchen, durchgehend maskiert und wenig auskunftsfreudig, das seine Lebensweise abseits gesellschaftlicher Normen durch Tarnen und Täuschen vor den Gefahren des Außen bewahren will.

»Frau Merkel« will Teil des Ganzen werden, doch sie entdeckt, dass der Idylle Grenzen gesetzt sind, die nicht durch die permanente Bedrohung durch das Außen entstehen, sondern aus dem Zwiespalt zwischen Behauptung und Realität. Sich absondern von der Welt, eine eigene, im Verborgenen entworfene aufbauen, durch autonome Selbstversorgung, im Vertrauen auf die umliegende Natur (Ackerbau, Kräutersuche, Jagd usw.), sowie ständige Masken- und damit Identitätswechsel im Vertrauen auf das Potenzial der Entindividualisierung – das ist der Plan derer, die betonen, allen Plänen zu misstrauen.

Abendland setzt sich damit ausein­ander, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt. Den Widersprüchen der Insulaner:innen wird mit einem ebenso ironischen Unterton nachgespürt wie der Hauptfigur »Frau Merkel«, die ihre Rolle so verinnerlicht hat, dass sie auf der Flucht manisch diverse Kanzlerinnensprüche memoriert. Durch deren Zitieren wird zugleich die Inhaltsleere des Gesagten, einst vielfach als Mantra verehrten, offenkundig – einer Ära des Stillstands wird eine Utopie entgegengesetzt, die sich bloß abkehrt, nicht verändern will.

Ellbogen, Deutschland/Türkei/Frankreich 2024, Regie: Asli Özarslan

Hazal, eben 18 Jahre alt geworden, lebt in Berlin. Das Großstädtische zieht sie an, der Alltagsrassismus, den sie auch bei ihren ersten Bewerbungsterminen für Jobs permanent erleben muss, stößt sie ab. Selbst bei ihrer Geburtstagstour gemeinsam mit Freund:innen wird ihr in einem »angesagten« Lokal bedeutet, dass »eine wie sie« nicht erwünscht sei.

Auf dem Perron der U-Bahn will sie ein schmaler junger Mann »anmachen«. Wie er es macht, ist zwar unangemessen, aber Hazal ist ob der vorherigen Zurückweisung so »aufgeladen«, dass sie gemeinsam mit ihren Freundinnen blindwütig auf ihr Gegenüber einprügelt – mit ungeahnten letalen Folgen… Hazal flüchtet in die Türkei, zu einer Internetbekanntschaft. Aber ihre Perspektiven in Istanbul sind überschaubar.

Ellbogen ist der (gelungene) Versuch eines Generationenporträts inmitten kultureller Schranken: über Hoffnungen, die zu Enttäuschungen werden, über die Grenzen, die Hazal überschreiten will (und nicht kann), und jene, die sie überschreitet (ohne es zu merken, doch mit ungeahnten Folgen).

 

Der Artikel erschien in SOZ, Sozialistische Zeitung, Juni 2024: https://www.sozonline.de/2024/06/tarnen-und-taeuschen/