von Kurt Hofmann
Vor einigen Jahren war Jean-Marie Straub ins Österreichische Filmmuseum geladen. Dessen damaliger Direktor Alexander Horwath erwähnte in seiner Einleitung, ein Mitarbeiter des Hauses habe ihn darauf hingewiesen, dass der Name Straub wegen dessen (französischer) Herkunft »eigentlich« französisch auszusprechen sei. Darauf ein erboster Straub: »Was – französisch? Straub kommt vom Sträuben!«
»Ich verstehe von Politik nichts«, sagt Karl Roßmann, der Protagonist in Kafkas Der Verschollene. Ein Student antwortet ihm: »Das ist ein Fehler. Aber abgesehen davon haben Sie doch Augen und Ohren.«
Augen und Ohren: In den Filmen von Jean-Marie Straub sowie seiner kongenialen Regie- und Lebenspartnerin Danièle Huillet (sie starb 2006) entlang literarischer Vorlagen gibt es keine »Einfühlung«, auf »schauspielerische Brillanz« wird kein Wert gelegt. Stattdessen gibt es eine skandierende Sprache entlang der Metrik und ein Bild, das »in allen Teilen gleichwertig ist und der Mensch nicht im Mittelpunkt des Bildes, sondern genauso wichtig ist wie eine Lichtbewegung oder ein Windstoß. Das ist, was wir suchen«, sagt Straub in einem Gespräch mit Lars Henrik Gass (Taz, 26.11.1992).
Methodisches: »Der neutrale Ton und das forcierte Sprachtempo, um die Straub sich bemüht, sind weit entfernt von Kunstlosigkeit und Dilettantismus. Er bringt Sprache damit zu einer Durchsichtigkeit, die ihr zunächst Eigenwert verschafft und dann das Bewusstsein vermittelt, dass die erzählten Geschichten und erfundenen Bilder als subjektive Vorschläge und Annäherungen an globale Historie zu verstehen sind«, schreibt die Kritikerin Frieda Grafe 1966 angesichts des Unverständnisses bezüglich Straubs Böll-Verfilmung Nicht versöhnt (BRD 1965).
Nicht versöhnt: ist Straub mit der Kontinuität faschistischer Strukturen in der Bundesrepublik und setzt noch im Untertitel, Brecht paraphrasierend: »oder es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht« ein verdeutlichendes Statement. Der Kafka-Film trägt übrigens den unmissverständlichen Titel Klassenverhältnisse (BRD 1983). In der Adaption von Hölderlins Der Tod des Empedokles (BRD 1986) spielt Andreas von Rauch, der Bruder des 1968 von der Polizei getöteten Georg von Rauch, den Empedokles, und eine Textstelle wie »und anderes | war schon vorbereitet« erhält dadurch einen doppeldeutigen Klang… Die Schönberg-Verfilmung Moses und Aron (1974) wiederum war Holger Meins gewidmet.
»O Wort | du Wort | das mir fehlt«, sagt Moses in Schönbergs Moses und Aron. Arons Verrat an seinem Bruder durch das Goldene Kalb, die unzulässige »populistische« Verdeutlichung, der Ideenraub – solches steht im Zentrum des Straubschen Film- und Weltverständnisses (das eine ist bei Straub nicht vom anderen zu trennen). Das Goldene Kalb/der Kapitalismus und dessen Folgen – wie Kriege entstehen: all dies findet Straub (gemeinsam mit Danièle Huillet) historisierend und verfremdend in der Literatur.
»Im Hören der Verse wird man plötzlich mächtig zu sprechen und im Sehen der Bilder plötzlich mächtig zu erkennen«, vermerkt Helmut Krebs über Der Tod des Empedokles.
Eine andere Welt: sucht schon der junge Straub, als er angesichts des Algerienkriegs seine Einberufung ignoriert und desertiert. Danach steht er elf Jahre (!) auf der französischen Fahndungsliste. Der Filmemacher Straub setzt (häufig leider vergebens) auf »Augen und Ohren« seines Publikums, um gesellschaftliche Zusammenhänge zu entschlüsseln.
»Keine ›politischen‹ Filme machen, sondern Filme politisch machen«, hatte Jean-Luc Godard einst gefordert – einer wie Jean-Marie Straub ist ihm darin gefolgt.