von Kurt Hofmann

Das Festival in Locarno bot einmal mehr jenen, die nicht wieder sehen wollen, was sie ohnedies schon kennen, Raum für Entdeckungen.

Dracula

Rumänien 2025
Regie: Rado Jude

»Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen«, verkündet der Theaterdirektor im Vorspiel von Goethes Faust I, doch Dracula von Rado Jude tendiert eindeutig zu Faust II, um beim gewählten Vergleich zu bleiben. Keine durchgehende Geschichte, vielmehr auseinanderstrebende Geschichten, in 14 Episoden unterteilt. Vieles ist (bewusst) trashig, alles mit Ironie und klugen Assoziationen durchsetzt. Méliés wird von Rado Jude ebenso als Referenz genannt wie Ed Wood. Auch das unvermeidliche Thema AI kommt zur Sprache und prompt wird eine AI-Dracula-Pornoversion in Auftrag gegeben.

Dass der wie stets kapitalismuskritische Rado Jude die Bemerkungen von Karl Marx zum Vampirhaften des Kapitals ins Spiel bringt, ist klar, aber auch die Bibel darf eine Vorlage liefern. Es gibt auch eine Rahmenhandlung, die in einem auf Touristenfang angelegten Varieté spielt, mit zwei armen Teufeln, die für eine geringe Gage ein Vampirpaar mimen, um dann im Anschluss von den mit Spießen ausgerüsteten Touristen quer durch die Stadt gejagt zu werden. Irgendwann kippt das Spiel in blutigen Ernst: die Spießer benützen ihre Spieße…

White Snail

Regie: Elsa Kremser, Levin Peter
Österreich/Deutschland 2025

Masha will Model werden. In der Modelschule in Weißrussland, die sie besucht, ist sie der Star. Viele ihrer Mitstudierenden hassen sie deswegen und schicken ihr anonyme Botschaften. Aber Masha sieht halt auch so aus, wie Zeitschriften Models anpreisen: blond, schlank, eine fahle, blasse Haut – ein ätherisches Wesen… Und Masha tut alles, um den Anforderungen zu genügen: sie will perfekt sein. Dafür nimmt sie auch private »Sonderwünsche« der Agenturchefin in Kauf und steht dann eben in der »pole position«. Aber Perfektion hat ihren Preis: Masha bezahlt ihn mit Depressionen, die immer wieder ein Aussetzen nötig machen.

Ist beides möglich: erfolgreich und auch zufrieden sein? Masha trifft bei ihrer Suche nach einer Antwort auf Misha, der als Leichenbeschauer arbeitet, auf engstem Raum mit seiner Mutter wohnt und heimlich Bilder verstörender Gewalt anfertigt. Nichts an Misha »passt« zu Masha, schon gar nicht sein unperfektes, chaotisches Leben. Trotzdem oder – gerade deshalb – interessiert sie sich für ihn…

White Snail, der erste Spielfilm des österreichisch-deutschen Regieduos Elsa Kremser und Levin Peter, wurde in Locarno mit Preisen überhäuft. Einen Anspruch auf Perfektion konnte nicht nur das Model Masha im Film erheben, auch Kremser/Peter waren in Licht, Kadrierung, Schnitt, Ton usw. auffällig um Perfektion bemüht. Trotzdem ist es kein steriler Film geworden, vielmehr einer, der Menschen in ihren Widersprüchen und Verzweiflungen zeigt.

Bog nece pomoci

(Gott wird nicht helfen)
Kroatien 2025
Regie: Hana Jusic

Kroatien im frühen 20.Jahrhundert: Plötzlich taucht da eine auf, ganz in schwarz gekleidet, und verlangt Zugang zu einer abgeschlossenen (Männer-)Gemeinschaft. Sie sei die Witwe eines nach Chile ausgewanderten Hirten, eines Bruders der abgeschieden Lebenden. Hier, in den Bergen, ist alles, was in den Tälern schon in Bewegung geraten sein mag, noch so, wie es seit ehedem war. Die Frauen sind auf ihren Platz verwiesen und folgen den männlichen Anordnungen. Doch Teresa, die Witwe, stammt aus dem fernen Chile, für die Hirten das andere Ende der Welt.

Die »Stumme«, auf welche Teresa als erstes trifft, haben die Hirten ausgestoßen und abseits ihres Lebensbereichs zu den niedrigsten Diensten verpflichtet. Diese junge Frau kann sprechen, doch hat sie sich wohl zu wenig angepasst und wurde deshalb von der Gemeinschaft zum Schweigen verdammt. Ihr vertraut Teresa und wird für die »Stumme« der erste Mensch, dem sie vertrauen kann.

Zu den Hirten geführt, erkennen diese sofort, dass Teresa nicht bereit ist, die alten Regeln anzunehmen. Da ist eine, deren Präsenz sich nicht ignorieren lässt. Andererseits lockt das Erbe des in der Ferne verstorbenen Bruders. Wer die Witwe für sich gewinnen kann, gewinnt auch das vorerst brachliegende Land des Toten und dessen Haus.

Teresa spielt mit den Erwartungen der Hirten und rückt immer mehr ins Zentrum der Gemeinschaft. Auch die Frauen verfolgen mit Interesse, wie da eine die Verhältnisse durcheinanderbringt.
»Gott wird nicht helfen« ist eine kroatische Teorema-Variante. Wie in Pasolinis Film ist da der (diesmal weibliche) Eindringling, der alles durcheinanderbringt, durch dessen Faszination das zuvor Wohlgeordnete ins Wanken gerät. Da werden Begehrlichkeiten unterschiedlicher Art geweckt und Spuren gelegt, die sich später als trügerisch erweisen…

Der Artikel erschien in der SOZ, Sozialistische Zeitung Okt. 2025  https://www.sozonline.de/2025/10/das-filmfestival-in-locarno/