Nachruf auf Genossen Fritz (Friedrich) Keller (19. Mai 1950 – 12. März 2023)

Fritz Keller hat uns still und leise verlassen. Er war der Chronist der Anfänge der Linksopposition und trotzkistischen Strömung in der KPÖ, des Wiener Mai 68, Historiker der Arbeiter*innenbewegung, Ausstellungsgestalter, Gewerkschaftsaktivist, kreativer und bienenfleißiger Kämpfer und gleichzeitig Herausgeber der Schriften des Schwiegersohnes von Karl Marx, Paul Lafargue, der nicht zuletzt wegen seines leidenschaftlichen Plädoyers für das das Recht auf Faulheit bekannt ist.

Bereits mit 15, im Realgymnasium Wien-Simmering, begann er sein politisches Engagement im VSM (Verband Sozialistischer Mittelschüler), den er gemeinsam mit anderen von der SPÖ unabhängig machte. Er gehörte zu den treibenden Kräften der 68er-Bewegung und leitete u.a. mit Wilfried Daim und Günther Nenning das österreichische Volksbegehren zur Abschaffung des Bundesheeres ein. An seinem Arbeitsplatz kandidierte er als oppositioneller Gewerkschafter zuletzt unter dem Namen KIV (konsequente Interessenvertretung) und war auch im Zentralvorstand der Gewerkschaft der Gemeindebediensteten. Sein ganzes Leben lang hat er sich politisch engagiert und bis zuletzt in den Archiven zur Geschichte der Radikalen Linken geforscht, zusammengetragen, analysiert, rote Fäden aufgespürt, dokumentiert, ist den Personen, Geschichten und Entwicklungen der sozialen Emanzipationsbewegungen nachgegangen und hat auch aktiv an unseren Beratungen, Diskussionen und Aktionen teilgenommen, bis kurz vor seinem Tod.

Seine Eltern konnten ihm kein Studium finanzieren, deshalb arbeitete er nach der Matura zunächst im Wohnungsamt und dann als Lebensmittelpolizist im Marktamt der Stadt Wien. Aber Fritz interessierte sich brennend für die politische Geschichte der Bewegungen und so hat er sich das notwendige Wissen selbst erarbeitet und für seine qualitätsvolle historische Arbeit Auszeichnungen wie den Mary und Joseph Buttinger Preis (1972), den Theodor-Körner-Preis (1994) und den Berufstitel Professor (2002) erhalten.

Der Bogen seiner Forschungen und Publikationen ist gewaltig. Er begann 1971 mit einer Studie über die Arbeiter- und Soldatenräte in Österreich 1918-1923 und verfasste Beiträge zur Publikation des Dokumentationszentrums des Österreichischen Widerstandes „Rechtsextremismus in Österreich“ (was ihm eine Verleumdungsklage von 10 Altnazis und Deutschnationalen einbrachte sowie zur Beschlagnahme des Buches führte) und setzte fort mit einer Analyse der linken und trotzkistischen Opposition in der KPÖ gegen den Stalinismus 1919-1945, einer Biografie des Arbeiters und Revolutionärs Karl Fischer, der die Konzentrationslager der Nazis überlebte um nach deren Niederlage von Agenten Stalins in die Sowjetunion verschleppt und bis 1955 in die berüchtigten Arbeitslager gesteckt zu werden. Fritz schrieb über den Mai 68 in Wien ebenso wie über die Sozialistischen Jugendorganisationen. Nach dem Motto „grabe, wo du stehst“ erforschte er auch die Geschichte seines Arbeitsplatzes, des Wiener Marktamtes, unter der Nazi-Diktatur sowie über die Lebensmittelstandards der Austrofaschisten und der Nazis 1933-45. Aus Anlass des 100-jährigen Bestehens der Gewerkschaftsinternationale der öffentlich Bediensteten veröffentlichte Fritz eine kritische Abhandlung dieser Branchen-Internationale.

Ein besonderes Highlight seiner Forschungen ist seine Dissertation bei Marcel van der Linden (Amsterdam) über die abenteuerliche und spektakuläre österreichische Solidaritätsarbeit zur Unterstützung der algerischen Befreiungsbewegung gegen den französischen Kolonialismus, die 2010 mit einem Vorwort des früheren Innenministers (1983-89) Karl Blecha als Buch erschien und 2014 in Algier auch auf arabisch herausgegeben wurde.(1) Die Krönung seines Schaffens als Historiker scheint sein Buch über Si Mustapha alias Winfried Müller – ein Leben am Rande der Wahrscheinlichkeit (Mandelbaum 2017), zu sein. Es geht darin um ein Portrait und das Wirken eines Mannes, der 4.111 (!) Fremdenlegionäre (eine kleine Armee!) der französischen Kolonialaramee in Algerien erfolgreich angestiftet und organisiert geholfen hat, zu desertieren und sich damit dem Kolonialkrieg (2) – meist unter Zurücklassung der Waffen an die Befreiungskräfte – zu entziehen.

Einen weiterer Schwerpunkt seiner Arbeit bildete die Herausgabe einer 3-bändigen kritischen Werkausgabe von Paul Lafargue (1842-1911). Lafargue ist bekannt für sein Plädoyer für das Recht auf Faulheit, hat aber auch Schriften zu Geschlechterverhältnissen, Geschichte, Kritik des Kapitalismus und seiner Ideologie sowie anderen Themen verfasst.

Darüber hinaus schrieb Fritz zahlreiche Artikel und Beiträge über so unterschiedliche Themen wie Rosa Luxemburg, die Gewerkschaft der Gemeindebediensteten, die 68er-Bewegung und die neue Linke in Österreich, die Freikörperkultur in der Lobau, über Stalinismus, Hedonismus, Generalstreik, Bürokratie und deren Sittenleben, die Küche im Krieg, die nationale Frage, die europäische Arbeiter*innenbewegung im zweiten Weltkrieg, den Nachkriegs-Schwarzhandel und diesbezügliche Maßnahmen des Wiener Marktamtes, die KPÖ 1945-55, eine sozialhistorische Abhandlung über Dienstmänner und die Anfänge des Eintopfs in der „Ostmark“ oder einen Briefwechsel von Friedrich Engels. Unter dem Titel „Wir sind ausgemachte Schurken, alle: Traue keinem von uns“ gab Fritz 2021 seine stellenweise eigenartig anmutende bzw. umstrittene Autobiografie heraus, in der er u.a. ein grotesk-humoristisches Sittenbild seines langjährigen Arbeitsplatzes, des Wiener Marktamtes, zeichnete.

Fritz arbeitete auch maßgeblich an drei großen Ausstellungen mit: „Die Kälte des Februar“ (Stadtbahn-Remise Wien-Meidlung 1984), „Fantasie, Macht und Packeis – Jugendbewegung seit 1968 in Österreich“ (Kulturverband Wien-Favoriten 1982) und „Der 1. Mai – Demonstration, Tradition, Repräsention“ (Museum für Volkskunde Wien 2012). Er hinterlässt auch Berge von wertvollen Unterlagen, einen Nachlass, der im Archiv der Arbeiter*innenbewegung aufbewahrt wird.

Mit Fritz verlieren wir einen sein ganzes Leben lang neugierigen, forschenden, kritisch hinterfragenden Menschen mit unglaublich vielfältigen Horizont, einen akribischen Archivwurm, Historiker, Herausgeber und mutigen, kreativen, beharrlichen Aktivisten und Kämpfer gegen Unrecht, Verlogenheit und Arroganz der Mächtigen, gegen Ausbeutung und Verachtung der Armen, gegen Rassismus und Bürokratismus. Er hat mit Genauigkeit und Witz, manchmal auch mit spitzer Feder und gelegentlich auch -Zunge versucht, der historischen Wahrheit gegen Dogmatismus, Manipulation, Zensur und Schönfärberei zum Durchbruch zu verhelfen, um unsere Vorkämpfer*innen und Mitkämpfer*innen für die antikoloniale, soziale und menschliche Emanzipation der Vergessenheit zu entreissen. Und wer Fritz kennt – aber man merkt es auch seinen Formulierungen an: Es muss ihm nicht zuletzt einen Heidenspaß gemacht haben, Bürokraten und Geschichtsfälscher aufzudecken und ihr verderbliches Tun und Unterlassen öffentlich zu machen. Er wird uns fehlen – und wir wollen sein Andenken ehren und bewahren, indem wir auf seine Aktionen hinweisen und seine Arbeiten lesen, auf sie aufmerksam machen und sie verbreiten. Einer, der sein Leben dem Erinnern, Dokumentieren, Aufarbeiten und Würdigen gewidmet hat, muss selbst in Erinnerung und Teil der lebendigen Auseinandersetzung bleiben.

Fritz wusste, dass sein Leben krankheitsbedingt viel zu kurz für seine zahlreichen Projekte würde. In den letzten zwei Jahren hat er Einladungen, bei einem Kaffee miteinander zu plaudern, stets mit der Begründung abgelehnt, dass er noch so viel zu tun und keine Zeit dafür hätte. Wie es scheint, wollte er noch so vieles ordnen, dokumentieren, beschreiben, um uns ein reiches Lebenswerk (3) zu hinterlassen, das es sich zu studieren lohnt.Wir können sehr vieles von ihm lernen! Um mit dem Titel eines Artikels von Fritz zu sprechen: Wir wollen keine bewußtlosen Idioten der Geschichte sein.(4)

Danke lieber Fritz!


Fußnoten:

(1) siehe auch das 2017 geführte Interview, das in der französischen Zeitschrift ContreTemps erschienen und in deutscher Rückübersetzung auf dieser Website nachzulesen ist.

(2) siehe auch den legendären Film „Die Schlacht um Algier“

(3) Siehe zahlreiche Details zur Person, zum Leben und eine gute Auflistung der Publikationen von Fritz Keller auf Wikipedia

(4) siehe Artikel „Wir wollen keine bewußtlosen Idioten der Geschichte sein