Zur Viennale 2022: Schuld sind die anderen

von Kurt Hofmann

Sechzig Jahre Viennale: Das war ein Anlass zum Feiern für das renommierte, international geschätzte Festival in Wien. Und dieser wurde nicht zu Starparaden und Selbstdarstellungen genutzt, vielmehr dazu, wie stets ein innovatives Programm von hoher Qualität zu präsentieren.

R.M.N.
Rumänien 2022
Regie: Christian Mungiu

In einer transsilvanischen Kleinstadt: Cailla, welche die örtliche Bäckerei betreibt, ein Großbetrieb im rumänischen Maßstab, zu klein, um die EU-Richtlinien für Förderungen vollständig zu erfüllen, kann den Betrieb nicht aufrechterhalten, ohne einige Arbeiter:innen zum Mindestlohn anzustellen. Dafür findet sich vor Ort aber niemand, also engagiert sie Hilfskräfte aus Sri Lanka. Diese erledigen ihren Job zwar hervorragend, kommen aber für die Ansässigen aus der falschen Weltgegend. »Denen« fehle es an Hygiene, wenn die erst mit ihren dunklen Händen ins Mehl griffen, dann sei das Brot schon nicht mehr essbar, ganz abgesehen von deren Sitten und Gebräuchen, heißt es und das Munkeln nimmt kein Ende, zumal Cailla ihre neuen Mitarbeiter:innen auch in ihr Haus aufgenommen hat.
Gegen Caillas Bäckerei wird ein Boykott organisiert. Als zwei aus Sri Lanka die örtliche Kirche betreten wollen, werden sie rausgeschmissen, der opportunistische Pfarrer gibt seinen Segen dazu. Die Lage eskaliert, als eine »Bürgerversammlung« einberufen wird.
Christian Mungius neuer Film zeigt, wie die Angst vor (weiterem) sozialen Abstieg ihr Ventil in xenophobischer Wut findet. Selbst nicht angekommen in der »Welt«, sind es stets die »anderen«, die schuld sind an der misslichen Lage.

Chi Wa Kawaiteru
(Blood is dry)

Japan 1960
Regie: Yoshida Kiju

Weil der Betrieb, in dem er angestellt ist, »saniert« werden soll, was mit einer Kündigungswelle einhergeht, setzt sich Kiguchi vor seinen Bossen die Pistole an die Schläfe und droht mit Selbstmord, sollten die Maßnahmen nicht zurückgenommen werden.
Der Suizidversuch misslingt, doch Kiguchis Geste ist in aller Munde. Eine findige Werbemanagerin hat die Idee, Kiguchi für die Kampagne einer Lebensversicherung als Testimonial zu engagieren. Überlebensgroß wird plakatiert, wie sich Kiguchi die Pistole an die Schläfe setzt, nun ergänzt durch eine »positive«, profitfördernde Botschaft der Versicherung. Dem schüchternen Kiguchi, als Marionette ausersehen, dienen seine Medienauftritte und der Zuspruch, den er scheinbar erfährt, als Beweis, dass die Leute auf (s)eine Botschaft warten. Doch schon bald verfängt er sich in seiner eigenen Falle und wird von einem schmierigen Sensationsreporter ausgetrickst.
Chi Wa Kawaiteru war in der Yo­shi­da Kiju gewidmeten Retro im österreichischen Filmmuseum zu sehen. Der 62 Jahre alte Film wirkt so aktuell wie für heute geschrieben: ein zynisches, manipulatives Spiel ohne Rücksicht auf Verluste. Er zeigt, wie öffentlichkeitswirksam Emotionen geschürt werden und der tumbe Tor, der vermeint, zum Protagonisten geworden zu sein, schließlich auf der Strecke bleibt.
Chi Wa Kawaiteru ist einer von vielen, dringend wiederzuentdeckenden meisterlichen Werke des japanischen Regisseurs Yoshida Kiju.

Human Flowers of Flesh
Deutschland/Frankreich 2022
Regie: Helene Wittmann

Der Schattenriss eines Rituals betonter Männlichkeit und Disziplin. Ein Gesang aus kolonialen Zeiten. Mehr ist über die Fremdenlegionäre, denen Ida mit ihrer Crew per Schiff auf der Spur ist, auch nicht zu sagen. Vielleicht aber über Ida: »There is a boat in Marseille. Owned by a woman. She lives there with her crew … Not much is known about her. I imagine her life very free, always in movement«, sagt da einer über sie. Via Korsika reisen Ida und ihre Crew zum Hauptquartier der Legion in Algerien. Wie sich die Matrosen kleine Geschichten erzählen, wie sie sich verhalten auf See und was auf deren Grund liegen könnte.
Human Flowers of Flesh (Deutschland/Frankreich 2022) ist ein Kino der Reduktion, der Andeutung, des Assoziativen. Regisseurin Helene Wittmann wandelt dabei ebenso auf den Spuren von Angela Schanalec wie auf jenen von Claire Denis, die 1999 mit Beau Travail einen exemplarischen Film zu toxischer Männlichkeit drehte. Wenn Ida am Ende des Films auf einen Legionär trifft, wird dieser wieder, wie schon in Beau Travail von Denis Lavant verkörpert: eine Andeutung – mehr braucht es hier nicht.