Zerbrechlicher Highspeed-Kapitalismus: Höchste Zeit das Just-in-Time-Prinzip aufzugeben
Ein Preisschock auf den globalen Erdgasmärkten bringt mehrere kleine Energieversorger zu Fall; Kunden stehen ohne Heizung da und sind mit steigenden Kraftstoffpreisen konfrontiert. Ein Feuer legt das leistungsstarke Kabel lahm, das Strom von Frankreich nach Großbritannien transportiert, was zu dunklen Wohnungen und steigenden Stromrechnungen führen kann. Das Containerschiff Ever Given, das von Malaysia ins englische Felixstowe fuhr, blieb sechs Tage lang im Suezkanal stecken, blockierte den Schiffsverkehr mit geschätzten Kosten von 850 Millionen Euro; und vielleicht verzögerte gerade dies die Auslieferung des elektronischen Geräts, das Sie bei Amazon Prime bestellt hatten.
Was diese Vorfälle gemeinsam haben, ist die Geschwindigkeit, mit der ein einziges Ereignis die sich weltweit kreuzenden Lieferketten unterbrechen kann. Fast jedes Mal, wenn Sie etwas online bestellen, wird es über ein Netzwerk von Fabriken, Schienen, Straßen, Schiffen, Lagerhäusern und Auslieferungsfahrer*innen transportiert, die zusammen das Kreislaufsystem der Weltwirtschaft bilden. Diese eng getaktete Infrastruktur ist auf ununterbrochene Bewegung ausgelegt. Sobald ein Glied ausfällt oder stockt, sind die Auswirkungen auf die heutigen Just-in-Time-Lieferketten sofort spürbar.
Just-in-time war die Idee von Taiichi Ohno, einem Ingenieur bei Toyota in den 1950er Jahren, der sich von der Arbeit Henry Fords inspirieren ließ. Ohno definierte es als eine Möglichkeit, „Verschwendung“ – womit er Lagerbestände, zusätzliche Arbeitskräfte und ungenutzte Minuten meinte – in der Produktion und im Warenverkehr zu eliminieren. Anstatt Zeit, Arbeit und Geld zu verschwenden, indem Teile am Fließband oder in Vorratsspeichern zu lagern (wie es die Hersteller seit Jahrzehnten tun), war es Ohnos Idee, dass Lieferanten diese stattdessen genau so liefern können, wie sie benötigt werden. Dies würde dann die Gewinne steigern und den Betrag reduzieren, den Unternehmen für die Lagerhaltung und die Bezahlung zusätzlicher Arbeitskräfte ausgeben.
Nach seiner Einführung im Westen in den 1980er Jahren zog das Just-in-Time-Modell nach und nach aus dem Autowerk in jede Art von Waren- und Dienstleistungsproduktion. Es bahnte sich seinen Weg durch jede Lieferkette bis von jedem Lieferanten, ob groß oder klein, erwartet wurde, dass er seine Produkte termingerecht an den nächsten Käufer liefert. Dadurch verschärfte sich der Wettbewerb zwischen den Unternehmen, Waren schnell zu liefern, was bedeutete, dass die Unternehmen ihre Kosten (normalerweise die Lohnkosten) senken mussten. Just-in-Time-Lieferungen trugen somit zur Zunahme von schlecht bezahlten, oft prekären Jobs bei, wobei Arbeitskräfte nur dann eingestellt wurden, wenn sie gebraucht wurden. Dieses ständige Auspressen unserer Arbeiter*innen hat die Arbeitskultur der ständigen Verfügbarkeit und die damit verbundenen psychischen Gesundheitsprobleme beschleunigt, während Versuche zur Senkung der Lohnkosten die wirtschaftliche Ungleichheit verstärkt haben, unabhängig davon, wer in der Regierung sitzt.
Die schnelle Bereitstellung von Produkten hängt von der Infrastruktur ab. Seit den 1980er Jahren wurden Autobahnen verbreitert, Häfen vertieft und hier und da zusätzliche Start- und Landebahnen hinzugefügt, um mit dem Tempo des Wandels Schritt zu halten. Lagerhäuser des 21. Jahrhunderts verwandelten sich von Lagerstätten in riesige Distributions- und Fulfillment-Zentren. Aber Geschwindigkeit birgt, wie jeder Formel-1-Fahrer weiß, eigene Risiken. Überschwemmungen, Stromausfälle, gesperrte Straßen, Arbeitskämpfe und natürlich Pandemien können das System zum Stillstand bringen. Da Just-in-Time die Lagerbestände beseitigt hat, kann eine unvorhergesehene Krise zu tückischen Engpässen führen. Zu Beginn der Pandemie gab es weit verbreitete Engpässe bei Schutzausrüstung, Kitteln, Masken und Plastikhandschuhen – die alle auf Just-in-Time-Produktion angewiesen sind und nur geringe Vorräte als Reserve vorhalten.
Jetzt wird unsere Just-in-Time-Welt immer krisenanfälliger. Die Fahrpläne der Containerschifffahrt sind seit Beginn der Pandemie Anfang 2020 unzuverlässig geworden. Der Anstieg der Treibstoffpreise hat auch zu reduzierten Schiffsgeschwindigkeiten, bekannt als „slow steaming“, geführt, um die Kosten zu senken. Der britische Verband der internationalen Spediteure (British International Freight Association) warnt derweil vor einem „Engpass bei Landtransporten“, da Hafen- oder Lagerarbeiter mit Covid gegangen und Lkw-Fahrer aufgrund von Pandemie und Brexit sowie jahrelang stagnierenden Löhnen, langen Arbeitszeiten und fehlender Ausbildung knapp geworden sind. Der Güterkraftverkehrsverband (Road Haulage Association) schätzt, dass derzeit 100 000 Fahrer*innen in Großbritannien fehlen. Fehlende Fahrer*innen bedeuten verstopfte Häfen, verzögerte Schiffe, leere Regale und höhere Preise.
Supply-Chain-Manager*innen und Logistikexpert*innen sind sich aller potenziellen Probleme bewusst und diskutieren seit mehr als einem Jahrzehnt über den Kompromiss zwischen „Risiko“ und „Resilienz“ – letztere ist die Fähigkeit, eine Störung zu minimieren oder sich schnell von ihr zu erholen. Niedrige Just-in-Time-Lagerbestände erhöhen das Risiko von Engpässen im Krisenfall. „Resilienz“ bedeutet hingegen größere Lagerbestände, mehr Arbeitskräfte, mehrere Lieferanten und höhere Kosten. Dadurch entsteht ein Dilemma. Durch Wettbewerb wird die Resilienz für einzelne Unternehmen ihrerseits riskant. Wer will schon beim höherpreisigen Bummelanten kaufen? Solange jedoch Profitabilität die treibende Kraft ist, bringen nationale Bemühungen, sich wieder nach innen zu orientieren oder die „Kontrolle zurückzugewinnen“ – ironischerweise oft, um, wie beim Brexit, eine nur eingebildete Resilienz zu schaffen – aber noch mehr Störungen, unterbrochene Lieferketten und höhere Preise mit sich, weil Unternehmen versuchen, Verluste auszugleichen. Das System der billigen Konsumgüter wird immer schwieriger aufrechtzuerhalten sein.
Aber das System des Hochgeschwindigkeitskapitalismus hat noch größere Auswirkungen. All diese globalen Echtzeitbewegungen werden von fossilen Brennstoffen angetrieben, die den Klimawandel verstärken. Die Zunahme von Tsunamis, Waldbränden, Überschwemmungen und anderen extremen Wetterereignissen macht Lieferketten und die von ihnen gelieferten Güter noch anfälliger. Die Demonstrant*innen, die sich im Zentrum Londons oder auf den Autobahnen niederlassen, sind auf der richtigen Spur. Wenn man, auf welchem Weg auch immer, den Großkonzernen die kostenlose Nutzung ihrer tödlichen Lieblingsenergiequellen vorenthält, lassen sich die Dinge auf ein menschliches Tempo verlangsamen – und vielleicht kann man sogar den Planeten retten, wenn man gerade dabei ist.
Jahrzehnte der Deregulierung, Privatisierung und Marktvergötterung haben die Gesellschaft anfällig gemacht für die Gewalt von „Just-in-Time“-Lieferketten, die keiner wollte. Keine noch so hohen staatlichen Subventionen, Steuersenkungen, Berufsausbildung und andere altmodische Maßnahmen werden ausreichen, um die kommenden Krisen zu bewältigen, von der Pandemie bis zum Klimawandel, die zum Versagen der Lieferketten führen. Es ist an der Zeit, nicht nur darüber nachzudenken, wie wir Dinge herstellen und konsumieren, sondern auch, wie wir sie bewegen.
Kim Moody ist Gastwissenschaftler an der University of Westminster
Vorabveröffentlichung aus dem Magazin “die internationale“
Übersetzung: Björn Martens