Was gesund erhält und was krank macht: Die entscheidenden Determinanten von Krankheit sind gesellschaftlich
von Wolfgang Hien
Der Aufstieg der Naturwissenschaften im 19.Jahrhundert befeuerte die Illusion, Krankheiten seien durch medizinische Maßnahmen zu »besiegen« oder gar durch eine erbbiologisch basierte Bevölkerungspolitik »auszumerzen«. Doch gab es innerhalb der Medizin auch kritische Stimmen, bspw. die von Rudolf Virchow. Er führte Krankheiten wesentlich auf mangelhafte soziale Verhältnisse zurück. Deshalb plädierte er für eine »soziale Medizin«, die die Arbeits-, Wohn- und Ernährungsverhältnisse in den Blick nimmt.
Infektionskrankheiten standen dabei im Vordergrund. Cholera und Typhus hingen eindeutig mit der mangelhaften Hygiene des Trinkwassers zusammen. Die gefürchtete Tuberkulose wiederum korrelierte mit schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen.
Der Wiener Sozialmediziner Ludwig Teleky untersuchte schon Anfang des 20.Jahrhunderts den Einfluss der Arbeits- und Lebensverhältnisse auf Lungenkrebs und Lungentuberkulose. Auch aufgrund seiner Vorarbeiten konnte sich in der Weimarer Zeit das Fach Sozialhygiene etablieren, das »Krankheit und soziale Lage« in den Mittelpunkt der Betrachtungen stellte. Die sozialreformerische Orientierung der Sozialhygiene wurde allerdings jäh durch den Faschismus unterbrochen und war zumindest in Westdeutschland und Österreich für lange Zeit vergessen. Im Gegensatz dazu waren Sozialmedizin, Soziologie der Medizin und Öffentliches Gesundheitswesen – Public Health – in den angloamerikanischen Ländern universitäre Lehr- und Forschungsfächer.
Diese Forschung relativierte die Bedeutung des medizinisch-therapeutischen Fortschritts. Der britische Sozialmediziner Thomas McKeown zeigte 1982 in seiner Studie Die Bedeutung der Medizin, dass die Tuberkulosesterblichkeit in England und Wales sowie in den USA bereits Ende des 19.Jahrhunderts und verstärkt im 20.Jahrhundert zurückging, lange bevor das erste wirksame Antibiotikum Streptomycin (ab 1947) und Impfungen (ab 1954) zur Anwendung kamen.
Industrie schadet der Gesundheit
Richard Wikinson und Kate Pickett haben viel Material zusammengetragen, das eindeutig zeigt: Mit fallendem sozioökonomischem Status steigen Krankheitswahrscheinlichkeit und frühe Sterblichkeit. Dazu tragen unter anderem Stressfaktoren bei, die durch Ausgrenzung und Diskriminierung verursacht werden. Viele angebliche Verhaltensfehler sind verhältnisbedingt. Dass bspw. Arme mehr rauchen, liegt an der soziopsychosomatischen Lebenssituation und der erhöhten Stressbelastung. Wenn in Studien der Tabak- und Alkoholkonsum exakt erhoben und ihr Beitrag zu den Erkrankungen herausgerechnet wird, bleiben starke Unterschiede bei Morbidität und Mortalität bestehen.
Eine Schlüsselrolle spielen die Arbeits- und Wohnverhältnisse. Lungenkrebs und einige andere Krebserkrankungen hängen eng mit krebserzeugend wirkenden Stäuben und Gasen am Arbeitsplatz und in der Wohnumwelt zusammen; Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit Akkordstress, Nachtschichtarbeit und Lärmbelastungen; Rückenerkrankungen mit schwerer körperlicher Arbeit und mit Stressbelastungen. Gut belegt ist auch der Zusammenhang zwischen der Epidemie an psychischen Erkrankungen und Taylorismus und Posttaylorismus, d.h. der zunehmenden Intensität und Kontrolle der ökonomischen Verwertungsprozesse.
Wissenschaftlich verfügen wir eigentlich über einen beachtlichen Erkenntnisstand – der auch unseren Alltagswahrnehmungen entspricht –, um systematisch Gesundheitsvorsorge, Prävention, zu betreiben. Dafür müssten jedoch Industrialisierung und Mobilität massiv heruntergefahren werden. Krebserzeugende und krebsfördernde Stoffe müssten, ebenso wie Industrielebensmittel, weitgehend verboten und Industrie- und Autoabgase auf ein Mindestmaß reduziert werden. Die überbordende Plastikwelt, die uns umgibt, müsste schrittweise auf wenige ökologisch und gesundheitlich verträgliche Stoffe und Anwendungsgebiete reduziert werden.
Von alldem sind wir bekanntermaßen Lichtjahre entfernt. Stattdessen hat sich eine immer mächtiger werdende Chemie-, Pharma- und Medizingeräteindustrie etabliert, die zunehmend auch die medizinische Grundlagenforschung in die gewünschte Richtung lenkt.
Die Rede von der Eigenverantwortung ist reaktionär
Dieser Einfluss lässt sich überall feststellen. In den 1970er Jahren gab es beispielsweise im Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg ein großes Institut und mehrere zusätzliche Abteilungen, die sich mit toxikologischen Fragen befassten, das heißt krebserzeugende und krebsfördernde Stoffe untersuchten. Dies wurde damals unter dem Begriff der Prävention gefasst. Vierzig Jahre später gibt es im Krebsforschungszentrum keine Toxikologie mehr. Der Begriff der Prävention erfuhr eine Bedeutungsverschiebung. Jetzt steht das persönliche Verhalten im Mittelpunkt: weniger Fleisch, weniger Alkohol, mehr Bewegung, mehr Entspannung, persönliches Stressmanagement.
Diese Ratschläge sind nicht falsch, doch sie erreichen aufgrund der sozialen Polarisierung nur die Angehörigen des oberen Mittelstandes. Große Teile der arbeitenden Klassen können sich die geforderten Ernährungsumstellungen nicht leisten, haben keine freie Zeit für gesundheitsförderliche Bewegung und Entspannung und sind nach wie vor schädlichen Arbeits- und Wohnverhältnissen ausgesetzt.
So wirken die zitierten Ratschläge als ideologische Vorlage für Selbstverschuldungstheorien. Die Menschen sind nicht nur gesundheitsschädlichen Einflüssen ausgesetzt, sondern auch einer symbolisch-imaginären Ordnung, einem ideologischen Gefühls- und Denkgebäude, das die ganze kapitalistische Gesellschaft durchdringt. Arbeiter:innen sollen sich nicht nur anpassen und unterwerfen, sie sollen sich die Schuld an Krankheit, Not und Elend selbst zuschreiben. Diese Tendenz findet sich nicht nur in der staatlichen Gesundheitspolitik, sondern auch in der Naturheilkunde, wenn zum Beispiel von der Eigenverantwortlichkeit eines und einer jeden für sein oder ihr Immunsystem gesprochen wird.
Sowohl die Impfpflicht als auch die Rede von der Eigenverantwortung kommen dem, was im Nationalsozialismus »Pflicht zur Gesundheit« hieß, verdächtig nahe. Wer es nicht schafft, sich gesund zu erhalten, hat versagt, ist zu schwach, hat nicht die richtigen Gene oder ist nicht diszipliniert genug. Das sozialdarwinistische Konzept dahinter ist – um ein beliebtes Wortspiel der akademischen Gesundheitsforschung aufzugreifen – »evident«.
Die Ungleichheit im Gesundheitssystem
Das ökonomisierte Gesundheits- und Versorgungssystem ist vielfach kritisch analysiert worden, beispielhaft durch die Kampagne des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ), »Krankenhaus statt Fabrik – bedarfsgerecht und gemeinwohlorientiert«. Kommerzialisierung, Ökonomisierung und angebliche Rationalisierung der stationären und ambulanten Versorgung hat zu paradoxen und skurrilen Auswüchsen von Über-, Fehl- und Unterversorgung geführt. Unter letzterer haben wieder einmal vor allem die ärmeren Schichten der Bevölkerung zu leiden.
Von diesem System profitiert eine ins Gigantische gewachsene Che-
mie-, Pharma- und Medizingeräteindustrie. Die gleiche Industrie, die unseren Planeten mit Hunderttausenden ungeprüfter Stoffe und Stoffgemische vergiftet (und damit wissentlich Krankheiten erzeugt), überschüttet die medizinische Versorgung mit ausgefeilten und bis ins Absurde gehenden chemischen und molekularbiologischen Diagnose- und Therapiesystemen. Zum Einsatz kommen sie in einigen hypertrophen Zentren, während auf dem Land und in ärmeren Stadtteilen und Kleinstädten niemand mehr für die einfachste medizinische und pflegerische Versorgung zu Verfügung steht.
Das öffentliche Gesundheitswesen wurde bis zur Unkenntlichkeit ausgezehrt. Mit der Übernahme der DDR wurden in Ostdeutschland die bewährten, staatlich betriebenen kleinen Polikliniken, Landambulanzen, Fürsorgestellen und Gemeindepflegezentren abgeschafft. Sie standen quer zu der gewünschten privatkapitalistischen Orientierung. Die Pandemie hat das Fehlen einer betroffenennahen, ärztlichen und pflegerischen Betreuung erneut deutlich gemacht. Neben erschreckenden Koordinationsschwächen zwischen dem öffentlichen Gesundheitswesen, den Krankenhäusern und den Pflegeheimen wurde offenbar, dass betriebswirtschaftliche Kalkulation jedwede mittel- und langfristige Vorsorge für gesundheitliche Krisensituationen unterminiert.
In den Krankenhäusern arbeiten 1,4 Millionen Menschen, davon knapp 500000 Pflegekräfte; in der Altenpflege arbeiten weitere 900000 Pflegekräfte. Die Arbeitssituation sowohl der Ärzte und Ärztinnen als auch der Pflegekräfte und weiterer Beschäftigter in therapeutischen und medizinischen Berufen ist katastrophal. Die Belastungen haben die Zumutbarkeitsgrenze längst überschritten. In den großen Kliniken haben bundesweit Pflegekräfte begonnen, sich gegen die inhumanen Arbeitsbedingungen zu wehren. Diese Kämpfe müssen unterstützt und mit den Bedarfen und Anliegen der Arbeiterklasse vernetzt werden.
Gesundheit ist ein fundamentales Menschenrecht
Sozialmedizin, Sozialhygiene und Public Health haben sich auch mit der Frage befasst, wie ein sozial orientiertes Gesundheitswesen aussehen könnte. Noch einmal seien Ludwig Telekys Vorstellungen zur Tuberkulosebekämpfung genannt. Er legte den Schwerpunkt weniger auf die Isolation als auf das Fürsorgewesen. »Statt des Gesichtspunktes der Internierung (sollte) immer das Moment der Hilfe in den Vordergrund« gestellt werden, schrieb er, um sogleich anzufügen: »Ärztliche Behandlung und liebevolle, anteilnehmende Pflege sind die Hauptbedingungen.« Zentral waren für Teleky die interdisziplinär zusammengesetzten Fürsorgestellen, deren Aufgabe es sei, »alle krank Befundenen – auch die noch Nichtinfektiösen – in dauernder Beobachtung zu halten, einerseits, um, sowie von ihnen Infektionsgefahr ausgeht, die entsprechenden Schutzmaßnahmen für ihre Umgebung ergreifen zu können, andererseits aber, um … durch Eingreifen im richtigen Augenblick ernster Verschlimmerung und dem Infektiöswerden nach Möglichkeit entgegenzuwirken«. Zur Aufgabe der Fürsorge gehöre es zudem, den Betroffenen Nähr- und Kräftigungsmittel zu geben und ihnen bei der Verbesserung ihrer Wohnverhältnisse behilflich zu sein.
Teleky war jüdischer Herkunft und von der jüdischen Sozialethik beeinflusst. Seine Vorstellungen flossen nach dem Sieg über den Hitlerfaschismus in die Bemühungen ein, Gesundheit als Menschenrecht zu definieren. Nicht eine Pflicht zur Gesundheit, sondern ein Recht auf Gesundheit – genauer: das Recht auf Gesundheitsschutz und menschenwürdige gesundheitliche Versorgung – sollte zur Leitorientierung werden. Sie fand ihren Niederschlag im Sozialpakt der Vereinten Nationen von 1966, worin (in Artikel 12) »das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit« verankert ist.
Von der Verwirklichung eines Menschenrechts auf Gesundheitsschutz und gute gesundheitliche Versorgung sind wir – gerade auch global betrachtet – noch sehr weit entfernt. Diese Idee wirkt zwar in den Kämpfen der Arbeiter:innen weltweit, doch die Barrieren, die das Weltkapital errichtet hat, sind hoch. Zudem führen eingebildete Einflüsse des Wertfetischs dazu, dass viele Arbeiter:innen ihre Gesundheit gegen Geld verkaufen und ihren Schmerz mit Medikamenten betäuben.
Eine Gesundheitspolitik von unten
Wesentlichen Einfluss auf Gesundheit und Krankheit haben die eingebildeten Fesseln, von denen sich zu befreien uns aufgegeben ist. Doch um sich von Fesseln zu befreien, müssen sie zuerst einmal gespürt werden. Welcher Voraussetzungen bedarf es, um eine solche gesundheitspolitische und damit auch gesellschaftspolitische Wende herbeizuführen?
Zum einen ist eine umfassende Aufklärung der arbeitenden und unterdrückten Klassen notwendig: sich nicht mehr seine Gesundheit abkaufen lassen, sondern sich seines leibkörperlichen Seins, seines Ausgesetzt-Seins und seiner Verletzlichkeit gewahr und bewusst werden; sich überwinden, den Schmerz zuzulassen und ihn zum Ausgangspunkt des Sich-Wehrens und des gemeinsamen Widerstands zu machen. »Aufklärung« ist hier durchaus im Sinne Immanuel Kants gemeint: Herausführung des Menschen aus seiner Unmündigkeit und Ermutigung zum Widerstand.
Zum anderen bedarf es Wissenschaftler:innen und Mediziner:innen, um die dazu notwenigen Informationen und Impulse zu entfalten und an die arbeitenden und unterdrückten Klassen weiterzugeben. Entsprechend der Überlegungen über Verantwortungsethik von Hans Jonas (Das Prinzip Verantwortung, 1979) müssen die Beschäftigten im Gesundheitssystem den Mut entwickeln, mit dessen Anpassungslogik und konformistischen »Bereichsethik« zu brechen und sich an ihrer persönlichen Verantwortung orientieren.
Für eine »Gesundheitspolitik von unten« bedarf es neuer Bündnisse in Betrieben und Stadtteilen und einer kontinuierlichen Zusammenarbeit von Basisaktivisten:innen, kritischen Wissenschaftler:innen und Medizinern:innen und anderen Akteur:innen, denen eine betroffenenorientierte und systemsprengende Gesundheitsarbeit am Herzen liegt. In den linken Debatten geht die ethische und moralische Frage oftmals unter. Gesundheitspolitik ist aber fundamental mit ethischen und moralischen Herausforderungen in der konkreten Lebenspraxis verknüpft. Eine entsprechende persönliche Haltung gerät mit den herrschenden Machtstrukturen unweigerlich in Konflikt. Aber nur so ist eine Vernetzung und Verzahnung von Basisbewegungen in den Betrieben und Stadtteilen mit den Basisbewegungen von Gesundheitsarbeiter:innen denkbar. Und genau dies wäre die Voraussetzung für eine andere, solidarische und systemsprengende Gesundheitspolitik von unten.
Literatur
Wolfgang Hien: Kranke Arbeitswelt. Ethische und sozialkulturelle Perspektiven. Hamburg: VSA, 2016.
Wolfgang Hien, Herbert Obenland: Schadstoffe und Public Health. Ein gesundheitswissenschaftlicher Blick auf Wohn- und Arbeitsumwelt. Aachen: Shaker, 2017.
Wolfgang Hien, Hubertus von Schwarzkopf: Corona-Gefährdung im Erleben von Pflegekräften. 2020. Online: www.wolfgang-hien.de/ download/Pflege-2020.pdf.
Wolfgang Hien: Risikoabwägungen bei kanzerogenen Gefährdungen – ethische und moralische Herausforderungen. In: Gefahrstoffe 81. 2021. Nr.11/12, S.415–423. Online: www.wolfgang-hien.de/download/G-RDL-202L.pdf.
Wolfgang Hien: Die Arbeit des Körpers. Von der Hochindustrialisierung bis zur neoliberalen Gegenwart. Neuauflage. Wien: Mandelbaum, 2022.
Wolfgang Hien: Eine Revolte der Natur. Gesellschaftskritik in Zeiten einer Pandemie. Berlin: Die Buchmacherei, 2022.