Warum hat Putin am 9. Mai keine Generalmobilmachung angekündigt?
von Wilfried Hanser
Viele Kommentatoren rätselten bis zuletzt, was Putin am 9. Mai (Gedenktag Ende des 2. Weltkrieges und Sieg über das Nazi-Regime) bei der großen Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau verkünden wird. Vermutet wurde eine Kriegserklärung an die Ukraine, damit er in Russland die Generalmobilmachung anordnen kann. In der Ukraine gehen ihm nämlich die Soldat*innen aus. Die im Gang befindliche Offensive im Donbass bleibt stecken, weil Putin nur über relativ geringfügig mehr Soldat*innen vor Ort verfügt als die ukrainischen Kräfte (ganz abgesehen von der sehr unterschiedlichen Motivation der Soldat*innen). Militärfachleute gehen davon aus, dass für einen erfolgreichen Angriff mindestens eine 4-fache Überlegenheit notwendig ist. Putin würde dringend eine Generalmobilmachung oder zumindeest Teilmobilmachung in Russland benötigen, so mutmaßten die Kommentatoren, wenn er die Separatistengebiete in der Ukraine besetzen und auch nur halten will. Tatsächlich ist am 9 . Mai die Ankündigung der General- oder Teilmobilmachung durch Putin unterblieben. Darüber bin ich erleichtert. Warum aber schreckt Putin davor zurück?
Es scheint, dass es bei Putin einen Rest von Realismus gibt, es ist eine notwendige Konzession an die (aktuelle und vor allem potentielle) Antikriegsstimmung und -bewegung in der Bevölkerung in Russland.
Seit es der weltweiten Antikriegsbewegung im Vietnamkrieg gelungen 1975 ist, die mächtigste Militärmaschinerie der Welt, die der USA, zu stoppen, hat es noch kein Regierungschef der Welt gewagt, eine massive und langandauernde Invasion mit Hilfe von wehrpflichtigen Soldaten aus ihren Ländern zu machen. Die Wehrpflicht musste in vielen Ländern abgeschafft werden.
Die Militärs haben nach Möglichkeiten gesucht, diese starke Einschränkung ihrer Möglichkeiten, Kriege zu führen, zu umgehen, sie mit Hilfe von neuer Waffentechnik und neuen Taktiken zu überbrücken. Eine davon ist die Entwicklung von Drohnen, ferngesteuerten Präzissionsraketen und cruise-Missiles, eine andere die Auslagerung des Kriegshandwerks an Söldnerfirmen wie die „Gruppe Wagner“ oder die „Blackwater“. Auch die Entwicklung von „taktischen Atombomben“ und anderen verheerenden Waffentypen gehören zu diesen gefährlichen Versuchen, Schwellen zum Krieg zu senken und gleichzeitig die Hauptgefahr, nämlich riesige Protestbewegungen im eigenen Land zu verhindern, die die Regierung stürzen könnten. Putin schickt vor allem Soldaten aus Tschetenien, Belarus und anderen kleinen Randstaaten sowie Söldner. Auf Kritik, dass junge Rekruten nach Kiew geschickt worden seien, hat er sehr empfindlich und rasch reagiert und angkündigt, dass die verantwortlichen Beamten bestraft würden.
Immer wieder wird diese Errungenschaft der Antikriegsbewegung, den Vietnamkrieg beendet zu haben, nicht genügend in Analysen einbezogen oder doch zumindest geringgeschätzt, weil ja trotzdem immer wieder Kriege geführt werden. Letzteres ist nicht zu bestreiten und die schrecklichen Verwüstungen und das Leid, das die alten und neuen Waffentypen anrichten, darf auf keinen Fall klein- oder gar schöngeredet werden. Wir sollten aber auch zur Kenntnis nehmen, dass nach wie vor eine uralte Regel gilt: Auch die stärkste Artellerie, und die Weiteretwicklung davon, Bomardements aus Flugzeugen oder mittels Drohnen und Raketen, können ein (besetztes) Land nicht auf Dauer kontrollieren. Diese Entwicklung wird durch die Entwicklung tragbarer panzerbrechender und für die Abwehr von Flugzeugen und Hubschraubern geeeigneten Waffen nochmals unterstrichen. Um ein Land auf Dauer kontrollieren zu können, braucht es nach wie vor Bodentruppen in hoher Zahl. Diese stehen den Präsidenten und Generalen einfach nicht mehr zur Verfügung, jedenfalls nicht in der von ihnen gewünschten und gebrauchten Zahl und Dauer.
Wir, die weltweite Antikriegsbewegung, können auf diese Errungenschaft der Anti-Vietnamkriegsbewegung der 60er Jahre stolz sein. Konkret wagt es Putin heute genau deshalb nicht, eine Massenmobilisierung von Soldat*innen in Russland anzuordnen, weil er weiss, dass er damit unweigerlich seinen eigenen Untergang im Lande einläuten würde. Eine Generalmobilmachung könnt er nur dann erfolgreich durchführen, wenn Russland selbst von einer großen Invasionsarmee angegriffen würde.
Und was ist mit dem Irak, was ist mit Afghanistan? Die Einsätze wurden nicht mit normalen Wehrpflichtigen durchgeführt, sondern mit Söldnern, Söldnerfirmen und Berufssoldat*innen. Die Tatsache, dass keine normalen Rekrut*innen aus den USA eingesetzt wurden, half den Militärs, die Kritik und Proteste im eigenen Land auf einem relativ bescheidenen Level zu halten. Militärisch und politisch endeten die Einsätze mit einem Desaster. Der überstürzte Abzug in Afghanistan ist noch allen in lebhafter Erinnerung, ebenso wie die kampflose Machtübernahme der Taliban. Im Irak nutzte der IS das politische Vakuum, das der jahrelange Einsatz der US- und anderer westlichen Truppen hinterlassen hat, um fast kampflos riesige Städte und große Teile des Territoriums in Besitz zu nehmen. Dabei konnte der IS, mehr noch als die Taliban in Afghanistan, gigantische Waffenlager inklusive schwerer Waffen, übernehmen.
Wir sollten auch in Rechnung stellen, kein Potentat der Welt kann es verhindern – trotz aller Propaganda, Mediengleichschaltung, Internetüberwachung, Einschüchterungsversuchen usw. – dass die Menschen die Wahrheit erfahren. Zu viele Wege stehen den Menschen in einer vernetzten Welt zur Verfügung. Im Zeitalter von Smartphones und Internet, von weltweiter gegenseitiger Abhängigkeit, Transporten, Handel, Austausch, Reisen, einer immer besseren Information und Bildung der Menschen ist es schlicht unmöglich, die Wahrheit dauerhaft zu unterdrücken. Selbstverständlich können Zensurmaßnahmen, Manipulation und Einschüchterung die Verbreitung der Wahrheit und die notwendigen Schlussfolgerungen bremsen, es dauert dann erheblich länger, bis sich die Masse der Menschen ein realistisches Bild machen kann. Aber keine Macht der Welt ist mehr imstande, dies auf Dauer zu verhindern.
Fazit: Trotz aller „Weiterentwicklung“ der Waffentechnik: Letztlich kommt es auf die Menschen an!