Covid-19-Pandemie: Schützen wir unsere Leben, nicht ihre Profite!

Exekutivbüro der Vierten Internationale, 17. März 2020

17. März 2020

Die Coronavirus-Pandemie ist ein Problem der öffentlichen Gesundheit dramatischen Ausmaßes; die Ausbreitung des Virus wird gewaltiges Leid hervorrufen. Bereits jetzt stehen in Westeuropa die Gesundheitssysteme kurz vor dem Zusammenbruch. Wenn die Pandemie massiv die Länder des Südens erreicht, deren bereits schwaches oder sehr zerbrechliches öffentliches Gesundheitssystem durch 40 Jahre neoliberaler Politik schrecklich beschädigt wurde, wird es zu vielen Todesfällen kommen.

Schon heute ist sie die schwerste Pandemie seit einem Jahrhundert. Die Zahl der Todesfälle durch die sogenannte Spanische Grippe von 1918-1919 ist nach wie vor schwer abzuschätzen, war jedoch ganz beträchtlich und traf vor allem junge Erwachsene. Ihre Schwere erklärte sich insbesondere dadurch, dass sie unmittelbar auf den Ersten Weltkrieg folgte. Die rasche Ausweitung der Covid-19-Pandemie lässt sich insbesondere durch die von der neoliberalen Ordnung verursachte Schwächung der Widerstandskräfte in der Bevölkerung und die Zunahme prekärer Verhältnisse vor dem Hintergrund der gewaltigen Ausdehnung des internationalen Handels durch die kapitalistische Globalisierung erklären, durch die allgemeine Kommerzialisierung und das Primat des Profitgesetzes.
Das neue Coronavirus wurde im November 2019 in China entdeckt. Ärztinnen und Ärzte oder Wissenschaftler*innen, die versuchten, Alarm zu schlagen, wurden anfangs unterdrückt und zum Schweigen gebracht. Wenn die KPCh sofort reagiert hätte, wäre die Gefahr einer Epidemie möglicherweise im Keim erstickt worden.

Die Politik des Leugnens der Gefahr ist keine Besonderheit des chinesischen Regimes. Donald Trump in den USA machte sich über dieses „ausländische Virus“ lustig. Als Brasilien bereits von der Pandemie erfasst war, erklärte Jair Bolsonaro, dass „das Verbot von Fußballspielen Hysterie“ sei und setzte sich über Gesetze und Richtlinien der Gesundheitsbehörden hinweg, um an einer Demonstration gegen die Justiz und das Parlament teilzunehmen. Boris Johnson im Vereinigten Königreich befürwortete zunächst eine „Herdenimmunisierung“ (Die Epidemie soll an ihre inneren Grenzen, wenn etwa 70 % der Bevölkerung infiziert sind). Er war gezwungen, dieses rücksichtslose und gefährliche Vorgehen zu ändern. Die belgische Premierministerin Sophie Wilmès stellte sich gegenüber jeder Warnung taub. Die französische Präsidentschaft hat die strategischen Reserven (Schutzausrüstung und -produkte usw.) nicht aufgefüllt, als die ersten Fälle im Januar 2020 auftraten. Die Regierungen der weniger betroffenen Länder Osteuropas lernen nicht aus der Gesundheitskrise im westlichen Teil des Kontinents. Die Europäische Union war nicht in der Lage, auch nur die grundlegendste Solidarität mit dem am stärksten betroffenen Italien zu organisieren, obwohl im Land nicht einmal Schutzmasken produziert werden … Der Hauptgrund für diese Verzögerung liegt darin, dass die Regierungen die Wirtschaftstätigkeit und den Warenverkehr nicht gefährden und nur ein Mindestmaß an Ressourcen für den Schutz der Bevölkerung bereitstellen wollen. Der Wille, die Sparpolitik im Rahmen der Offensive des Kapitals gegen die abhängig Beschäftigten fortzusetzen, und das Gespenst der Rezession waren stärker als der zur Erhaltung der Gesundheit der Menschen.

Trotz der schnellen Fortschritte in der medizinischen und wissenschaftlichen Forschung ist es noch zu früh, um die Entwicklung des SARS-CoV-2-Virus vorherzusagen: Wird es auf den Beginn der wärmeren Jahreszeit auf der Nordhalbkugel reagieren und wird die Krankheit zurückgehen? Wird es mutieren und wenn ja, wird es an Virulenz gewinnen oder verlieren? Ausgehend von China erfolgte die Ausbreitung der Krankheit auf einer Ost-West-Achse (Iran, Europa und die Vereinigten Staaten), wo die Bedingungen günstig waren. Doch jetzt ist das Virus auch im Süden angekommen, wo es sich vervielfachen könnte, zum Beispiel beim nächsten Jahreszeitenwechsel, um dann mit Macht in den Norden zurückzukehren. Die Entwicklung eines Impfstoffs wird Zeit benötigen. Es wäre unverantwortlich zu erwarten, die Covid-19-Krankheit würde sich in kurzer Zeit von selbst erledigen.
Das Virus verbreitet sich sehr schnell. Das Verhältnis der nachgewiesenen Infektionsfälle zur tatsächlichen Anzahl der Betroffenen ist mangels routinemäßiger Screening-Tests nicht bekannt, aber die Gefährlichkeit ist erwiesen. Die Sterblichkeit der Krankheit kann von Land zu Land schwanken. Sie soll in 80 % der Fälle gutartig und in 20 % schwerwiegend ‒ darunter 5 % sehr schwerwiegend ‒ und in etwa 2 % der Fälle tödlich sein. Ältere oder Kranke sind nicht die einzigen, die ernsthaft gefährdet sind. Dort, wo die Epidemie explodiert, benötigen auch zunehmend jüngere Menschen eine Intensivbehandlung.
Die etablierten Medien und Regierungen konzentrieren sich auf die Unterschiede in der Sterblichkeitsrate nach Alter, achten jedoch sorgfältig darauf, nicht auf Klassenunterschiede aufmerksam zu machen und wie sich die Sterblichkeit in Folge der Coronavirus-Pandemie je nach Einkommen und Vermögen unterschiedlich verteilt. Quarantäne oder der Zugang zur Intensivpflege für 70jährige unterscheiden sich stark danach, ob man reich oder arm ist.
Es gibt in der Bevölkerung keine Antikörper gegen das neue Coronavirus. Die Behandlung von Schwerkranken ist schwierig und erfordert modernste Ausrüstung und geschultes, kompetentes medizinisches Personal. Wo dies fehlt ‒ oder wenn das Krankenhaussystem überfordert ist ‒ sterben viele Patient*innen, die heilbar wären, und es werden noch mehr sterben. Wenn keine drastischen Maßnahmen ergriffen werden und 4 Milliarden Menschen infiziert sind, werden 80 Millionen Menschen sterben.

Die Covid-19-Pandemie sollte daher von allen fortschrittlichen kämpferischen Netzwerken, einschließlich unserer Organisationen, sehr ernst genommen werden. Überall dort, wo sich die Epidemie entwickelt, müssen sehr entschlossene Maßnahmen ergriffen werden, um sie einzudämmen und die Bevölkerung zu schützen. Dies muss Priorität vor dem Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft haben. Überall müssen die Lehren aus den zuerst betroffenen Ländern gezogen werden, um sich auf eine mögliche Entwicklung vorzubereiten. Die Regierungen müssen zu wirklichen Vorsorgemaßnahmen gezwungen werden.

Starke Vorsorgepläne
In den meisten betroffenen Ländern verwalten die Regierungen wegen fehlender Vorsorge nur den Mangel und machen manchmal aus der Not eine Tugend. Wo es sie gibt, müssen die Vorsorgepläne gestärkt und dort, wo es sie es nicht gibt, überhaupt aufgestellt werden.
Diese Pläne müssen auf die Umstrukturierung des Gesundheitssystems als Ganzes und die Mobilisierung aller notwendigen Ressourcen im Falle einer Epidemie vorbereiten, insbesondere auf eine sofortige Aufstockung des Personals der Gesundheitsdienste, die heute schon stark unterbesetzt sind.
Den Krankenhäusern wurden immer wieder die Budgets gekürzt, sie wurden geschwächt oder sogar privatisiert, obwohl sie eine der Säulen im Kampf gegen eine Epidemie sind, bei der es auf Intensivpflege ankommt. Private Pflegedienste und die Herstellung von Arzneimitteln und medizinischen Geräten müssen unter öffentlicher und sozialer Kontrolle requiriert werden. Die Regierung des spanischen Staats hat den Schritt unternommen, private Krankenhausbetten zu requirieren.
Strategische Bestände an Schutzkleidung, Desinfektionsmitteln und Testsätzen müssen sichergestellt werden und zwar vorrangig für die Beschäftigten im Gesundheitsbereich und anderen unverzichtbaren Diensten sowie für die am stärksten gefährdeten Sektoren der Bevölkerung.
Zu den Vorsorgeplänen gehört auch die medizinische und wissenschaftliche Forschung. Aber auch hier wurden wegen Vorgaben der Sparpolitik die Forschungsmittel reduziert oder gekürzt, insbesondere für Coronaviren. Alle privaten Unternehmen in diesem Bereich müssen unter öffentlicher und sozialer Kontrolle verstaatlicht werden.
Südkorea hat gezeigt, wie nützlich massenhafte Screening-Tests sind, um die Dynamik der Epidemie zu verstehen und so früh wie möglich einzugreifen. Die Haushaltszwänge haben jedoch dazu geführt, dass die Bestände dieser Tests nicht auf dem neuesten Stand gehalten wurden, wenn sie denn überhaupt existierten, was zu dramatischen Situationen führte. In einer Situation des Mangels müssen die Schutzmittel vorrangig für das Gesundheitspersonal (auf der Arbeit und für zu Hause) reserviert werden und selbst dann wird es für diese Menschen möglicherweise nicht reichen.
Die Lebensbedingungen müssen durch die Aussetzung der Zahlungen für Miete, Hypothekenzahlungen und Versorgungsleistungen gesichert werden. Es muss einen sofortigen Stopp aller Zwangsräumungen geben, es müssen Notunterkünfte mit allen notwendigen Einrichtungen für Obdachlose eingerichtet und leerstehende Wohnungen requiriert werden, um Menschen nicht in gesundheitsschädlichen Gebäuden zurückzulassen. Wer auf der Straße lebt, kann sich nicht selbst isolieren oder in Quarantäne begeben.
Die bevorstehende wirtschaftliche und soziale Krise, die durch die Pandemie ausgelöst, aber durch die Anhäufung von Problemen in der kapitalistischen Wirtschaft verursacht wurde, darf nicht Anlass für eine weitere Konzentration von Reichtum und die Zerstörung sozialer Rechte sein. Demgegenüber müssen progressive Kräfte auf Lösungen drängen, die auf der Umverteilung von Ressourcen basieren und auf das Gemeinwohl ausgerichtet sind.
Angesichts der explodierenden Epidemie mussten sehr strenge Maßnahmen ergriffen werden, um soziale Kontakte und Reisen zu begrenzen, was die Wirtschaftstätigkeit drastisch verringert. Die Pläne müssen daher massive Hilfe für die Bevölkerung beinhalten, um weitere Verarmung zu verhindern und sicherzustellen, dass niemand in Zeiten der Gesundheitskrise mittellos bleibt. Dies muss sowohl für Lohnabhängige wie auch Solo- und Scheinselbständige gelten. Die durch die Einschränkungen verursachten Kosten müssen durch eine Erhöhung der Steuern auf Profite und Unternehmensgewinne sowie auf die großen Vermögen getragen werden.

Die entscheidende Bedeutung der sozialen Selbstorganisation
Wir müssen von den Behörden verlangen, dass sie alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die Gesundheit und das soziale Wohlergehen der Bevölkerung zu schützen, aber nichts wäre gefährlicher, als sich allein darauf zu verlassen. Die unabhängige Mobilisierung gesellschaftlicher Akteure ist unverzichtbar.
Die Arbeiter*innenbewegung muss für die Einstellung aller unnötigen Produktion und Transporte kämpfen, um sicherzustellen, dass die höchstmöglichen Bedingungen für den Gesundheitsschutz an den unverzichtbaren Arbeitsplätzen eingehalten werden und dass die Einkommen und Verträge der Arbeiter*innen im Falle von Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit erhalten bleiben. Es hat bereits Streiks gegeben, die die Stilllegung von Arbeitsplätzen für verzichtbare Produktion wie z. B. Autos fordern, beispielsweise bei Mercedes Benz in Vitoria im Baskenland. Andernorts sind Beschäftigte in unverzichtbaren Diensten, etwa in Krankenhäusern in Frankreich oder bei der Müllabfuhr in Schottland, aktiv geworden, um bessere Sicherheitsbedingungen zu fordern.
Lokale Organisationen spielen auf vielen Ebenen eine wesentliche Rolle. Sie tragen dazu bei, die Isolation zu durchbrechen, in der sich die Menschen befinden können, insbesondere Frauen, die oft gezwungen sind, in Zeiten von Ausgangssperren einen noch höheren Anteil von Haus- und Kinderbetreuungsaufgaben zu übernehmen. Durch die Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und LGBT+-Phobie können sie sicherstellen, dass Prekäre, Migrant*innen (besonders solche ohne Papiere) und diskriminierte Minderheiten nicht von dem Schutz ausgeschlossen werden, auf den sie Anspruch haben. Sie können Frauen helfen, für die die Ausgangssperre einen tödlichen Einschluss mit einem gewalttätigen Ehepartner bedeutet. Sie können dafür sorgen, dass tägliche Gesten des Abstandhaltens respektiert werden.
In vielen verschiedenen Ländern, etwa in Großbritannien, in den Niederlanden und in Frankreich, gibt es Basisorganisationen auf der Ebene eines Viertels oder eines Wohnblocks, die Hilfe für die anbieten, die sie benötigen (ältere Menschen, Behinderte, Menschen in Quarantäne), und ‒ nicht selten zum ersten Mal ‒ Kontakte herstellen. In Italien haben sich neben der praktischen Hilfe Gemeinschaften zusammengeschlossen, um die soziale Isolation zu durchbrechen und Solidarität durch Massensingen von ihren Balkonen aus zu zeigen.
Soziale Bewegungen müssen sich auf unabhängiges medizinisches und wissenschaftliches Fachwissen stützen können, um zu wissen, welche Maßnahmen wirksam und unverzichtbar sind, und sie müssen den internationalen Austausch fördern. Ärzt*innen und Forscher*innen sind aufgerufen, mit ihnen zusammenzuarbeiten.
Schließlich ist die Selbstaktivität der sozialen Bewegung eine unersetzliche demokratische Garantie. Der Autoritarismus der Mächtigen kann in Zeiten gesundheitlichen Notstands im Namen der Effizienz gestärkt werden. Die breitestmögliche Mobilisierungseinheitsfront muss sich diesem herrschenden Trend entgegensetzen.

Eine globale Krise der kapitalistischen Gesellschaft
Eine Pandemie ist ein wichtiger Test für eine Gesellschaft. Die Situation in der norditalienischen Lombardei ist ein dramatisches Beispiel dafür, was mit der herrschenden Ordnung geschieht. Die Lombardei ist eine der reichsten Regionen Europas mit einem der besten Krankenhaussysteme. Dieses wurde jedoch durch die neoliberale Politik geschwächt. Es wird jetzt von der Flut schwerkranker Patient*innen überschwemmt, bis zu dem Punkt, dass die Vereinigung der Anästhesist*innen in der Reanimation dazu aufgefordert hat, die Patient*innen zu sortieren und nur diejenigen mit der höchsten Lebenserwartung zu behandeln, wobei die anderen sterben müssen.
Dies ist keine Situation vergleichbar etwa einem Erste Hilfe-Einsatz nach einem Unfall mit mehreren Opfern, wenn entschieden werden muss, wer zuerst behandelt werden soll, sondern es ist ein Systemversagen, das mit einer anderen Gesundheitspolitik hätte vermieden werden können. In Friedenszeiten führen die bekannten Kürzungen dazu, dass man zur Kriegsmedizin greift, bei der man es aufgibt, alle zu retten! Dies ist ein schrecklicher Zusammenbruch der Solidarität, der in einer der wirtschaftlich und im Gesundheitssektor am weitesten entwickelten Regionen der Welt stattfindet ‒ und der morgen anderswo in Europa stattfinden kann.

Eine klare Verurteilung der herrschenden kapitalistischen Ordnung
Die Frage ist nicht, ob sich die Covid-19-Pandemie morgen „normalisieren“ wird, sondern auf Kosten von wie vielen Todesfällen, von wie viel sozialen Verwerfungen. Dies ist eine immer wiederkehrende Frage, da wir in einer Zeit der Rückkehr großer Epidemien (SARS, AIDS, H1N1, Zika, Ebola …) leben. Der chronische Zustand der Gesundheitskrise ist heute verbunden mit der globalen ökologischen Krise (die globale Erwärmung ist eine ihrer Facetten), dem permanenten Kriegszustand, der Instabilität der neoliberalen Globalisierung und der Finanzialisierung des Kapitals, der Schuldenkrise, der Zunahme von Prekarität und dem Zerfall des sozialen Gefüges, der Ausbreitung zunehmend autoritärer Regime, Diskriminierung, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit …
Die Bekämpfung der Gesundheitskrise erfordert konkret die Bekämpfung der Diktatur von transnationalen und pharmazeutischen Interessenverbänden oder etwa der Agrarindustrie durch den Widerstand der bäuerlichen Agrarökologie und Agrarforstwirtschaft, der die Wiederherstellung ausbalancierter Ökosysteme ermöglicht. Sie erfordert eine Stadtreform, um den ungesunden Megastädten ein Ende zu setzen. Sie erfordert allgemein der Logik des Profits die der kostenlosen Pflege entgegenzusetzen: Jede kranke Person muss unabhängig von ihrem sozialen Status kostenlos behandelt werden … Unsere Leben sind mehr wert als ihre Profite.
Ökosozialismus ist die Alternative zu dieser globalen Krise der kapitalistischen Gesellschaft. Die Antwort auf die Gesundheitskrise sollte eine Mobilisierung gemeinsam mit den anderen Bereichen des Kampfs sein, um diese Alternative zu erreichen. Eine solche Konvergenz von ökosozialistischen und feministischen Kämpfen der Arbeiter*innen muss das Ziel haben, das kapitalistische System, das uns und den Planeten tötet, loszuwerden und eine neue Gesellschaft aufzubauen.

Übers. Björn Mertens