Notizen aus der Fischfabrik
Ein außergewöhnlicher Roman über die Arbeitswelt – und Kontrapunkt zur Einschaltquoten- und Bestsellerlistenkultur
von Dieter Braeg
Joseph Ponthus: Am laufenden Band. Aufzeichnungen aus der Fabrik. Berlin: Matthes & Seitz, 2021. 239 S., 22 Euro
In den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es in Deutschland eine beachtenswerte literarische und gesellschaftspolitische Entwicklung. Zunächst war es die Gruppe 61 mit Max von der Grün, die ab dem Jahr 1961 die Probleme der Arbeitswelt in Texten behandelten. Später waren es die zahlreichen Werkstätten der Arbeitskreise «Literatur der Arbeitswelt», die im Fischer Taschenbuchverlag sehr erfolgreich publizierten. An die dreißig Bände, die die ganze Thematik der Arbeit und des Lebens von Frauen und Männern in abhängiger Beschäftigung abdeckten.
Deutsche und österreichische Literaturhäuser, denen ich angeboten hatte, sich endlich mit der Geschichte des Werkkreises und der dort schreibenden Autorinnen und Autoren zu beschäftigen, zeigten null Reaktion.
In der Literatur wird heute – ob im Berchtesgadener Gesinnungsmorast oder in Schleswig-Holsteins Fischerdörfern – fleißig gemordet, der «lokale» Krimi erfreut sich großer Beliebtheit, täglich werden im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Lebendige zu Tode gebracht.
Die Literatur entfernt sich immer weiter von einem Thema, das eigentlich immer wichtiger werden sollte: Der Grundwiderspruch zwischen abhängiger Beschäftigung und einer Tag für Tag reicher werdenden «Gesellschaft», die über die Produktionsmittel verfügt, findet in der Literatur nicht statt. Schon längst ist aus dem Schlager «Hey Boss ich brauch mehr Geld» ein leider nie komponiertes und gesungenes «Hey Malocherin, Malocher, mach’s billiger» geworden. Der Alltag hat kaum Zugang zur Literatur. Wir erleben Symbolpolitik, Konsumanreiz, Arbeitsplatzverlagerungen und einen Selbstoptimierungskult.
Joseph Ponthus, Autor des Buches Am laufenden Band. Aufzeichnungen aus der Fabrik, kam im Jahre 1978 zur Welt. Er studierte Literatur und Sozialarbeit in Reims und Nancy. Nach zehn Jahren Sozialarbeit in den Pariser Vororten zog er in die Bretagne und arbeitete dort fast drei Jahre in Fischfabriken. Joseph Ponthus starb im Februar 2021. Er erlebte in Frankreich noch den Erfolg seiner literarischen Arbeit.
Es ist zu befürchten, dass sein Buch im Dschungel der Literaturkritik keinen Platz findet. Die Schrottproduktion eines Literarischen Quartetts reicht nicht in jene Welt, in der höchstens die Garnele, aber nicht der Mensch im Mittelpunkt steht.
«Ich kenne nur wenige Orte mit einer so
Kompromisslosen existentiellen radikalen Wirkung wie
Griechische Heiligtümer
Gefängnisse
Inseln
Und die Fabrik
Kommt man heraus
Weiß man nicht kehrt man zurück in die echte Welt oder verlässt
Man sie
Obwohl man weiß eine echte Welt gibt es nicht
Aber egal»
Joseph Ponthus ist im Jahre 2021 an Krebs gestorben. In Frankreich ist sein Buch noch zu Lebzeiten erschienen. Die deutsche Übersetzung haben Mira Lina Simon und Claudia Hamm zu verantworten. Sie haben großartige Arbeit geleistet. Die Arbeitswelt, dazu Tagebucheinträge, sind Bestandteile eines außergewöhnlichen Romans. Ein Manifest der Solidarität. Auf über 200 Seiten wird die Geschichte eines Zeitarbeiters in Fischfabriken und Schlachthöfen erzählt.
Ponthus wählt eine einfache und einfühlsame Sprache, um den Arbeitsalltag in die Realität zu holen. Monotonie, Schichtarbeit, Gestank, Kälte, körperliche Erschöpfung und dazu das brutale Töten von Tieren. Da hilft die Solidarität der anderen Beschäftigten, während das Fließband läuft und Tonnen von Wellhornschnecken verzehrfertig gemacht werden. Es bedarf anderer Gedanken, und so gibt es Erinnerungen, Trost mit Marx im Kampf gegen die ungehemmten Brutalitäten des Kapitalismus.
Dieser Roman in Versen beschreibt die Fabrikarbeit, die moderne Sklaverei in der Lebensmittelindustrie, nach dessen Lektüre der Leserinnen dund Lesern der Appetit auf Garnelen und anderes Fischiges sicherlich restlos vergangen sein wird. Hier verbeugt sich ein Autor vor der Arbeiterklasse, die in dieser Gesellschaft oft keinen Platz mehr hat.
Garnelen putzen, sortierten, Schweinehälften verladen und die Fabrikhallen reinigen: Ponthus hinterlässt ein einzigartiges lyrisches Sachbuch. In klaren Sätzen mit wahrer Realität schafft er ein Gedicht als Roman über eine Welt, von der viele glauben, es gäbe sie nicht mehr.
Dieses Buch hat auf der Spiegel-Bestsellerliste nichts verloren, aber es sollte Pflichtlektüren werden im Schulunterricht, damit klar wird, wie Arbeit und Literatur zusammengehören!