Von David Finkel, für die Leitung von Solidarity (USA) | 17.05.2021

Die Geschichte wiederholt sich: Die erste palästinensische Intifada begann im Dezember 1987, als Tagelöhner aus Gaza bei einem Verkehrsunfall an einem israelischen Grenzübergang getötet wurden. Die zweite brach im September 2000 aus, nachdem Ariel Sharon, der sich um das Amt des israelischen Premierministers bewarb, in Begleitung von 1000 schwer bewaffneten Polizisten einen absichtlich provokativen Marsch zum „Tempelberg“ in Jerusalem inszenierte.

Die Ursprünge des aktuellen Ausbruchs sind keineswegs unklar. Premierminister Benjamin Netanjahu, der inmitten seines Korruptionsprozesses und Israels dysfunktionalem politischem Stillstand um seinen Machterhalt kämpft, schickte zum heikelsten Zeitpunkt während der Gebete in den letzten Tagen des Ramadan Armee und Polizei in die al-Aqsa-Moschee im Herzen des besetzten Ostjerusalems.

Diese Provokation geschah, während gleichzeitig ultranationalistische „Jewish Power“-Mobs durch die Stadt marschierten und arabische Bewohner*innen gewaltsam angriffen und während eine Entscheidung über die Massenenteignung palästinensischer Häuser im Viertel Scheich Dscharrah, damit (auf der Grundlage von Eigentumsansprüchen aus dem 19. Jahrhundert) Platz für israelische Siedler*innen geschaffen wird, in dem schwerfälligen israelischen Gerichtssystem ansteht. Palästinenser*innen leisteten in den Straßen Jerusalems Widerstand gegen die eskalierende israelische Repression mit Gummigeschossen, giftigem Pfeffergas und „skunk water“[ dem stark übel riechenden Kampfmittel, das für „Crowd Control“ wird], dabei wurden viele Hundert verwundet und verhaftet.

Von dem Gazastreifen aus, wo die Popularität der regierenden Hamas-Bewegung abgenommen hat, feuern deren Kräfte Raketen auf israelische Städte ab. Die unerwartete Reichweite der Hamas-Raketen steigert momentan das Prestige von Hamas und wurde von Israel mit massiven Bombardierungen des Gazastreifens beantwortet, dadurch sind bereits Dutzende von Kindern getötet worden. Wie immer kommt das Hochfahren der militärischen Konfrontation dem israelischen Staat zugute, da er auf dem militärischen Schauplatz eine absolute einseitige Überlegenheit genießt – und er hat den Vorwand, es gelte seine Zivilbevölkerung gegen die Folgen seiner eigenen Gewalt zu „verteidigen“.

Vielen Berichten zufolge ist die wachsende Beteiligung palästinensisch-arabischer Bürger*innen von Israel an den Kämpfen und an der Verteidigung Ostjerusalems gegen die eskalierende ethnische Säuberung ein neues Merkmal der gegenwärtigen Kämpfe. Die langfristige Bedeutung dieser Entwicklung, und ob der gegenwärtige Moment der Beginn einer neuen Intifada oder eine weitere Drehung der Abwärtsspirale bei der Zerstörung Palästinas durch das israelische Kolonial- und Apartheidregime ist, wird sich erst mit der Zeit zeigen und kann von außen nicht vorhergesagt werden.

Es ist Jahrzehnte her, dass der palästinensische Kampf um Selbstbestimmung als revolutionäre Bedrohung der regionalen Interessen der Großmächte wahrgenommen wurde.

Etwas klarer ist dagegen die unmittelbare Reaktion des verrotteten Haufens, der als „internationale Gemeinschaft“ bezeichnet wird, wie immer angeführt von den Vereinigten Staaten. Unter „normalen“ Umständen bietet das, was in Palästina/Israel passiert, kaum noch Anlass zu ernster Sorge für die imperialistische Welt. Es ist Jahrzehnte her, dass der palästinensische Kampf um Selbstbestimmung als revolutionäre Bedrohung der regionalen Interessen der Großmächte wahrgenommen wurde. Die formale „Normalisierung“ der staatlichen Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Golfregimen in einer politisch-militärischen Allianz gegen den Iran hat öffentlich bekannt gemacht, was inoffiziell schon seit einigen Jahren geschieht. Die Sorge der Vereinigten Staaten ist, dass der gegenwärtige Gewaltausbruch dieses wichtige Arrangement untergraben könnte.

Dementsprechend konzentrieren sich die Verlautbarungen der Biden-Administration vor allem auf einen Punkt: „Stoppt die Gewalt (auf beiden Seiten, versteht sich). Deeskaliert und stellt die Ruhe wieder her, damit der Friedensprozess wiederbelebt wird.“

In untergeordneten und kaum hörbaren Wendungen betont Washington natürlich seine Besorgnis über die Vertreibungen aus palästinensischen Stadtteilen. Was all dieser Müll wirklich bedeutet, ist klar: Israels ethnische Säuberung von Scheich Dscharrah, Silwan, den südlichen Hebron-Hügeln und so vielen anderen Orten in ganz Palästina ist nicht wirklich ein Problem, solange es relativ unauffällig und „ruhig“ geschieht. Spielt es für die imperialen Eliten wirklich eine Rolle, wie viele Kugeln noch in den längst toten Leichnam der „Zweistaatenlösung“ abgefeuert werden? In der Fantasiewelt von Diplomatie und Versessenen lässt sich die Behauptung, sie sei nach wie vor relevant, unbegrenzt aufrechterhalten. Der israelische Staat weiß, dass das Fundament seiner „besonderen Beziehung“ zu den Vereinigten Staaten trotz vorübergehender Unstimmigkeiten intakt bleibt.

In der realen Welt, in der die Palästinenser*innen verzweifelt darum kämpfen, ihre Häuser und ihr Heimatland zu behalten, zählt die weltweite Reaktion an der Basis. In vielen US-Städten werden in kürzester Zeit Demonstrationen und Kundgebungen von palästinensischen Aktivistengruppen und Solidaritätsorganisationen wie „Jewish Voice for Peace“ organisiert, um den Widerstand zu unterstützen und den Jahrestag der Nakba (der palästinensischen Katastrophe) des Krieges von 1948 zu begehen. Wir rufen Aktivist*innen für soziale Gerechtigkeit und politische Aktivist*innen in den USA dringend auf, diese Aktivitäten mitzutragen und sich ihnen anzuschließen. Darüber hinaus gibt es kontinuierlich längerfristige politische Kampagnen und Gesetzesvorstöße, die zu unterstützen sind.

Ein wichtiges Thema ist jetzt gerade der Gesetzentwurf HR 2407, der von der Abgeordneten Betty McCollum (Democratic-Farmer-Labor Party, Minnesota) in den Kongress eingebracht worden und unter der Bezeichnung „No Way to Treat a Child“ bekannt ist.[i] Er fordert die Streichung der US-Mili­tärhilfe für Länder, die Kinder gefangen halten. Israel ist in dieser Hinsicht besonders berüchtigt, auch wegen der Inhaftierung von Kindern ohne Gerichtsverfahren unter Bedingungen, die nach internationalem Recht der Folter gleichkommen. Diese Initiative ist in einer Phase, in dem ihre Unterstützer*in­nen im Kongress im Wesentlichen die bedingungslose Unterstützung der Biden-Administration für Israel in Frage stellen, besonders wichtig.

Es ist auch entscheidend, dass die globale BDS-Kampagne (Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen)[ii] zur Verteidigung der palästinensischen Rechte ausgebaut und verteidigt wird. Um zu verstehen warum, sollte jeder und jede den brisanten neuen Bericht von Human Rights Watch vom 27. April 2021 lesen: „Eine Schwelle überschritten: Israelische Behörden und die Verbrechen der Apartheid und Verfolgung“.[iii]

Wir wissen nicht, wie lange die unmittelbare Krise, die die Schlagzeilen und die Berichterstattung in der Welt beherrscht, andauern wird und ob sie zu einer anhaltenden neuen Runde des Widerstands und zum Durchbrechen der politischen Blockade auf der palästinensischen Seite oder womöglich zu einem neuen Krieg und einer Massenvertreibung von Palästinenser*innen führen wird, vor der aufmerksame Beobachter*innen in Israel gewarnt haben. Es ist jetzt an der Zeit zu sprechen und zu handeln.

12. Mai 2021

Aus dem Englischen übersetzt von B. A.

Quelle:
David Finkel for the Solidarity National Committee, „Ethnic Cleansing Escalates in Palestine: U.S. Says ,Stay Calmʻ“, https://solidarity-us.org/ethnic-cleansing-escalates-in-palestine-u-s-says-stay-calm/; https://internationalviewpoint.org/spip.php?article7140


[i] Eine Liste von mehr als zwei Dutzend Co-Sponsoren [darunter sind Alexandria Ocasio-Cortez, Ilhan Omar, Rashida Tlaib, Ayana Pressley, Jamaal Bowman, Cori Bush] ist zusammen mit Fakten und Links zu Menschenrechtsberichten zu finden unter https://mccollum.house.gov./palestinianchildrensrights.

[ii] https://bdsmovement.net/

[iii] https://www.hrw.org/report/2021/04/27/threshold-crossed/israeli-authorities-and-crimes-apartheid-and-persecution
[Zusammenfassung des 213 Seiten umfassenden Berichts auf Deutsch: https://www.hrw.org/de/news/2021/04/27/rechteverletzende-israelische-politik-stellt-verbrechen-der-apartheid-und]

 

Der Artikel erschien auf der ISO-Website: https://intersoz.org/in-palaestina-eskaliert-die-ethnische-saeuberung/