In Kopenhagen hat die radikale Linke zum ersten Mal die dänische Sozialdemokratie geschlagen

Von Nathan Akehurst

Bei den jüngsten Wahlen in Dänemark konnte das rot-grüne Bündnis einen starken Stimmen­zuwachs verzeichnen und wurde damit zur größten Partei in Kopenhagen. Das Ergebnis zeigt, dass die regierende Sozialdemokratie die dänische Bevölkerung, die Maß­nahmen gegen den Klimawandel und steigende Mieten fordert, nicht länger ignorieren kann.

Unmittelbar nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch hatten diejenigen Parteien, die auch bei Wahlen radikale Positionen vertreten hatten, einen Höhenflug erlebt. In den letzten beiden Jahren jedoch musste die westliche Linke einen Rückgang verzeichnen. Von Syriza bis Podemos haben es die linken Parteien nicht geschafft, entweder die Macht zu erringen oder sich im Amt zu halten. Was den jüngsten Fall betrifft, ist die deutsche Partei „Die Linke“ von einer bereits niedrigen Ausgangsposition noch weiter abgerutscht. Linke Organisationen müssen sich gleich­zeitig mit der rapiden Verschärfung struktureller Krisen – von der öffent­lichen Gesund­heit über die Umwelt bis hin zur Geopolitik –, mit enormen Veränderungen in ihrem Arbeits­umfeld und mit den Grenzen ihrer derzeitigen Unter­stützungs­basis ausein­ander­setzen.

Aber es gibt auch andere Fälle in Europa, nämlich die von kleineren linken Parteien, die einen weniger spektakulären Aufstieg erleben. Bei den letzten Wahlen in Belgien wurde zwar der einwanderungsfeindliche Vlaams Belang im wohlhabenden Flandern zweitstärkste Partei, allerdings konnte die Belgische Arbeiterpartei (PTB) in der ärmeren Region Wallonien zulegen. Die designierte schwedische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson wird die Unterstützung der Linkspartei benötigen, um einen Haushalt zu verabschieden, und die sozialistische Linkspartei spielt in Norwegen eine ähnlich ent­scheidende Rolle, auch wenn keine der beiden Parteien an der Regierung ist. Und im November 2021 feierte die rot-grüne Allianz (Enhedslisten) – eine Partei, die sich aus Sozialisten, Kommunisten, Gewerk­schaftern und Umweltschützern zusammensetzt – in Dänemark ihr bisher bestes Ergebnis bei den Kommunalwahlen.

Die dänischen Wahlen vom 16. November brachten ein gutes Ergebnis für die rechte Mitte auf Kosten der weiter rechts stehenden einwanderungsfeindlichen Kräfte. Auf der linken Seite setzte die rot-grüne Allianz ihren Trend fort, die Sozialdemokratie, die landesweit die Regierung stellt, zu überflügeln. In der Gemeinde Frederiksberg, die an die Hauptstadt grenzt, lag Enhedslisten mehr als 6 Prozent über der Mitte-Links-Sozialdemo­kratie.

Zwar reicht der Vorsprung nicht aus, um das Amt des Kopenhagener Bürgermeisters zu erobern, doch mit 24,6 Prozent der Stimmen ist die Partei nunmehr die größte Einzelpartei in der dänischen Hauptstadt. Bemerkenswert ist, dass es die Sozialdemokratie zum ersten Mal seit über einem Jahrhundert nicht geschafft hat, stimmenstärkste Partei zu werden. In beiden Regionen hat sich die Sozialdemokratie mit anderen Parteien verbündet, um die Linke von der Macht fern zu halten, aber ihr Einfluss ist erheblich geschwächt worden.

„Das bedeutet, dass wir ganz konkret Macht ausüben“, sagt Jakob Ruggaard, der Kopen­hagener Wahlstratege von Enhedslisten. Durch Siege auf kommunaler Ebene und durch kleinere Erfolge bei Bürgermeisterwahlen hat Enhedslisten unmittelbaren Einfluss auf so wichtige Themen wie Wohnen, Klima und Infrastruktur in der Stadt. Und, so Ruggaard weiter, das schafft eine „grüne Mehrheit“ auf politischer Ebene.

Lebenswerte Stadt

Die Themen Wohnen und Klima haben den Wahlkampf in den Städten beherrscht. Kopen­hagen hat zwar keine akute Wohnungskrise wie London oder New York, ist aber von den­selben allgemeinen Trends betroffen: Spekulanten aus dem Ausland kaufen Immobilien auf, die Löhne stagnieren und die Mieten steigen, was einige Menschen zum Auszug zwingt und andere in immer schlechtere Verhältnisse stößt. Das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, nimmt zu.

Das rot-grüne Bündnis wurde von der linken Mitte kritisiert, weil es mehr Sozialwohnungen forderte, aber gleichzeitig bestehende Bebauungspläne ablehnte. Die radikal linke Partei bestreitet diesen Vorwurf jedoch vehement und wirft im Gegenzug der Sozialdemokratie Wohn­baupläne vor, die alles andere als leistbar sind. Bei der aktuellen Wahl gab es zwei Schwerpunkte: einen Plan, teuren Wohnraum auf Grundeigentum der Stadt zu schaffen und ein ähnlich unerschwing­liches Wohnprojekt auf Lynetteholmen, einer geplanten künstlichen Insel. Als Reaktion auf die Massenproteste rund um diese Vorhaben schlug Enheds­listen eine Mietobergrenze und Mietvorschriften für Neubauten vor und forderte, dass 75 Prozent der neuen Wohnungen bezahlbar sein müssen.

In Kopenhagen gibt es zwar Sozialwohnungen mit fixen Mieten, aber nicht in ausreichender Zahl, um das Wohnungsproblem in den Griff zu bekommen. Auch wurden viele dieser Gebäude zum Abbruch und für Privatisierungen freigegeben. Die Aktivist/innen von Enheds­listen verfügen zwar noch über keine konkreten Daten, die belegen könnten, dass diese Tatsache für die Wahl relevant war. Sie vermuten jedoch, dass eine Koalition aus vom Abstieg bedrohten und prekär wohnenden jungen Menschen aus der Mittelschicht und aus der städtischen Arbeiterklasse in den von Privatisierung bedrohten Sozial­wohnungen ihren Wahl­erfolg begünstigt hat.

„Die jungen Wähler/innen sind verängstigt“, sagt Ruggaard. „Sie wollen in der Hauptstadt leben, aber die Wartelisten sind eine Zumutung. Und die Menschen in Wohnungen mit fixen Mietobergrenzen, mit denen ich gesprochen habe, fühlen sich stigmatisiert, isoliert und abge­stempelt als Menschen, die an Orten leben, wo Kriminalität, Armut und Migration herrschen.“

Der Kampf um die Migration

Damit kommen wir zu einem weiteren Aspekt des allmählichen Aufstiegs von Enhedslisten bei den Parlaments- und Kommunalwahlen. Unter den verschiedenen Parteivorsitzenden, darunter die derzeitige Ministerpräsidentin Mette Fredriksen, hat die Sozialdemokratie in Einwanderungs- und Asylfragen einen harten Rechtskurs eingeschlagen. Selbst unter den dänischen Linken, die diesen Kurs aus moralischen Gründen ablehnen, hört man mitunter die zähneknirschende Ansicht, dass die Rechte möglicherweise kurzfristig daran gehindert wurde, die Macht zu ergreifen, auch wenn ein solches Nachgeben langfristig mehr schadet als nützt, was Wahlen betrifft. Und obwohl Enhedslisten eine Pro-Migranten-Partei ist, herrscht intern Uneinigkeit darüber, ob – und wenn ja wie – man diesem Thema angesichts eines feind­seligen politischen Umfelds Priorität einräumen sollte.

Die Kopenhagener Wahlkampagne nahm sich jedoch zu diesem Thema kein Blatt vor den Mund. Sie kritisierte die Politik der Sozial­demokratie, die syrische Flüchtlinge in ein vom Krieg verwüstetes und immer noch tief gespaltenes Land abschiebt. Stattdessen forderte man die Auf­nahme von Flüchtlingen in Kopen­hagen und gleich­zeitig die Schaffung besserer Arbeits­plätze und Dienstleistungen für Migrant/innen wie für die einheimische arme Bevölkerung in den Städten. „Ich möchte jetzt noch nicht zu konkret werden, aber es hat den Anschein, dass es mittlerweile eine Gegen­bewegung gegen die nach rechts abge­bogene Sozialdemokratie gibt“, sagt Ruggaard, „dieser Rechtsruck wird als Widerspruch erlebt, weil er die arbeitende Bevölkerung und die städtischen Mittelschichten gegeneinander auf­bringt“.

Das Thema der syrischen Flüchtlinge hat im ganzen Land breite Unterstützung gefunden, wobei die Regierung mit juristischen Anfechtungen rechts stehender Gruppen und landes­weiten Demonstrationen konfrontiert ist. Erst kürzlich wurde ein dänisches Patrouillen­boot dafür gelobt, dass es während einer Frontex-Operation in der Ägäis den Befehl ver­weigerte, gerettete Flüchtlinge zurückzuschieben.[1] Mittlerweile gibt es auch hitzige poli­tische Debatten darüber, ob die Kinder dänischer Staatsbürger/innen, die sich dem Islamischen Staat ange­schlossen haben und nun in syrischen Lagern schmachten, nach Hause zurück­kehren sollen.

Weiters trug der Streik des Gesundheitspersonals zur Radikalisierung bei. Dieses Thema betrifft ganz Europa und Nordamerika, da die Beschäftigten im Gesundheits­wesen, die während der Pandemie ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel setzen, nur jämmerlich niedrige Gehälter beziehen. Die Unnachgiebigkeit der dänischen Regierung hat kürzlich zu einem lang andauernden Streik der Krankenpfleger/innen[2] geführt, nachdem die Verhand­lungs­­ergebnisse von einfachen Gewerk­schaftsmitgliedern abgelehnt worden waren.

Enhedslisten hat sich auch feministischen Aktivistinnen angeschlossen, die den Aspekt der Lohngleichheit im Tarifvertrag betonen und Kollektivverträge fordern, die eine Gleich­stellung mit den von Männern dominierten medizinischen Berufen herstellen sollen. Wahlkampf­aktivist/innen der Partei berichten, dass Krankenpfleger/innen und ihre Familien, die sich an den wilden Streiks beteiligt haben, fast „routinemäßig“ von der Sozial­demokratie zu Enheds­listen gewechselt haben.

Neue Mitstreiter/innen gewinnen

Der grüne Teil der rot-grünen Allianz war wichtig, um Enhedslisten durch die Ein­bindung jüngerer, sozial bewussten Klimaaktivist/innen zu stärken, die die Partei zunehmend als die grünste Option in der dänischen Politik ansehen. Für viele ging es bei den bereits erwähnten Kämpfen rund ums Wohnen ebenso sehr um das Recht auf eine nachhaltige Umwelt wie um das Recht auf bezahlbaren Wohnraum. Diese unterschiedlichen Wähler­gruppen innerhalb von Enhedslisten sind zwar fast nie derselben Meinung, aber die Partei­strategen sind er­staunt, wie harmonisch die Wahlkampagne ablief – innerhalb einer Partei, in der Meinungs­verschiedenheiten und interne Kritik üblich sind.

Line Barfod, Bürgermeisterin-Kandidatin rod-grøn enhedslisten in Kopenhagen

Line Barfod, Bürgermeisterin-Kandidatin der rod-grøn enhedslisten in Kopenhagen

Selbst die Abbildung der Gesichter der Kandidat/innen auf den Plakaten war in diesem Wahl­kampf umstritten. Die Entscheidung wurde jedoch durch das Vorhandensein eines breiten Spektrums von Kandidat/innen erleichtert: eine Krankenschwester, Lehrer/innen, junge Klima­aktivist/innen und Feministinnen auf einer überwiegend jungen Kandidaten­liste. Line Barfod, die rot-grüne Bürgermeisterkandidatin, vertrat beide Seiten der rot-grünen Koalition. Sie ist eine langjährige Sozialistin, die tief in der dänischen Arbeiterbewegung verwurzelt ist, ehe­malige Anwältin der autonomen Kommune Christiania in Kopenhagen und war von 2001 bis 2011 Mitglied des Folketing (nationales Parlament). In einer Abstimmung wurde sie über die Parteigrenzen hinweg zur seriösesten Abgeordneten gewählt.

Emma Sinclair, eine Wahlkampfhelferin der Parteijugend, verweist auch auf die Rolle der Mobilisierung von Jugendlichen und Studierenden im Wahlkampf durch ein Veranstaltungs­programm, das unter anderem die Verteilung von Flugblättern in Bildungsein­richtungen und Pizzaabende in Universitätsgebäuden vorsah.

„Das Wahlergebnis ist mehr, als wir zu hoffen wagten. Die Jugendmobilisierung, die wir um diese Kampagne herum aufgebaut haben, hat dabei eine große Rolle gespielt, und in den kommenden Jahren, wenn die Bewegung wächst, werden wir hoffentlich in der Lage sein, ähnliche Ergebnisse in ganz Dänemark zu erzielen. Es kommen immer wieder neue Mit­glieder hinzu, junge Menschen wollen für das kämpfen, woran sie glauben, und sie sehen heute mehr denn je, dass es möglich ist, etwas zu bewirken“, erklärte sie.

Im Gegensatz zum positiv angelegten Wahlkampf von Enhedslisten führte die Sozialdemo­kratie eine rote Angstkampagne, „indem sie Enhedslisten vorwarf, Kopen­hagen in die UdSSR verwandeln zu wollen“, so ein rot-grüner Aktivist. Allerdings waren viele insgeheim dankbar für diese Angriffe, die ihrer Meinung nach – trotz der Bemühungen der Sozial­demokratie, ihr Ansehen bei der Wählerschaft zu verbessern – nicht gut ankamen, da diese „Negativpropaganda“ die Anliegen der Wahlbevölkerung und die politische Realität ganz offen­sichtlich nicht berücksichtigte.

„Früher hat der Mainstream die Themen vorgegeben, und wir haben kritisiert“, sagte Ruggaard. „Diesmal haben wir die Themen bestimmt; wir haben ein umfangreiches und detailliertes Maßnahmenpaket vorgeschlagen, und sie haben uns von einer randständigen Position aus kritisiert“.

Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob die Ergebnisse vom 16. November auf einen allge­meinen Trend hindeuten oder eher das Ergebnis lokaler Umstände sind. Auf nationaler Ebene wurde der Anstieg des Stimmenanteils von Enhedslisten um 12 Prozent haupt­sächlich von Kopenhagen und Frederiksberg getragen. Und in jedem Fall hat die Partei noch einen langen Weg vor sich, bevor sie einen Großteil ihres ehrgeizigen Programms umsetzen kann. Aber es zeigt, dass die Mitte nicht einfach alle links von ihr so einfach abtun kann – und dass eine mutige Politik der Umverteilung von Wohl­stand und Macht die Unter­stützung der Bevölkerung gewinnen kann.

 Nathan Akehurst ist Autor und Aktivist im Bereich politische Kommunikation und Interessenvertretung.

 

Fußnoten:

[1] https://www.politico.eu/article/danish-frontex-boat-refused-order-to-push-back-rescued-migrants-report/

[2] Rigshospitalet nurses are latest to continue protest after strike ends – The Post (cphpost.dk)

 

Der Artikel erschien zuerst in Jacobin: https://www.jacobinmag.com/2021/11/copenhagen-denmark-social-democrats-election-red-green-alliance-enhedslisten?fbclid=IwAR0d7H0AZAQ3MmXqa_A3q7ulfQO3HGzGOv36RuG__ZvoBFl3fmwqFwKEblw  

Aus dem Englischen: EF