Hongkong im Aufstand: Ein Gespräch mit Au Loong-Yu
In den vergangenen anderthalb Jahren war Hongkong in Aufruhr, und eine neue Generation junger und politisch aktiver Bürger*innen hat sich mobilisiert, um gegen die Verschärfung der Kontrolle Pekings über die Stadt zu protestieren. In „Hong Kong in Revolt: The Protest Movement and the Future of China (Pluto Books 2020)“ (in deutscher Übersetzung erschien: Revolte in Hongkong: Die Protestbewegung und die Zukunft Chinas, 27. Okt. 2020) zeichnet der prominente linksgerichtete Hongkonger Intellektuelle Au Loong-Yu die Entwicklung der Protestbewegung an seinem Geburtsort in den letzten zwei Jahrzehnten nach und stellt sie in den Kontext der breiteren politischen Auseinandersetzungen auf dem chinesischen Festland und darüber hinaus. Die Protestbewegung und die Zukunft Chinas (Pluto Books 2020) zeichnet der prominente linksgerichtete Hongkonger Intellektuelle Au Loong-Yu die Entwicklung der Protestbewegung an seinem Geburtsort in den letzten zwei Jahrzehnten nach und stellt sie in den Kontext der breiteren politischen Trends auf dem chinesischen Festland und darüber hinaus. Dieses Buch wurde veröffentlicht, nachdem die chinesischen Behörden ein neues drakonisches nationales Sicherheitsgesetz erlassen hatten, das eine neue Phase der Niederwerfung signalisierte. Es bietet eine perfekte Gelegenheit, über die Ereignisse der vergangenen Monate nachzudenken, einige Mythen zu zerstreuen und möglicherweise einige erste Lehren daraus zu ziehen.
Ivan Franceschini (IF): Wenn man auf die Proteste der letzten anderthalb Jahre zurückblickt, und weiter zurück zu den anderen Massenbewegungen, die in den letzten zehn Jahren in der Stadt stattgefunden haben, ist es dann möglich, einen einzigen roten Faden zu finden, an dem all diese Fälle von Bürger*innenunruhen festzumachen sind? Mit anderen Worten, worum ging es dabei?
Au Loong-Yu (ALY): Man kann alle Hauptproteste des letzten Jahrzehnts in einem Wort zusammenfassen, nämlich „Desillusionierung“. Die Menschen in Hongkong sind zunehmend desillusioniert über die leeren Versprechungen Pekings, dass „Hongkonger Menschen Hongkong regieren“ und das allgemeine Wahlrecht gelten würden. Unter dem Druck der Pan-Demokraten für das allgemeine Wahlrecht machte Peking 2010 das Zugeständnis, fünf weitere direkt gewählte Sitze in der Legislative zu gewähren. Dies wurde jedoch von den radikalen Demokrat*innen abgelehnt, weil die Erhöhung der direkt gewählten Sitze durch eine gleiche Anzahl indirekt gewählter Sitze ausgeglichen werden sollte, was Pekings Manövrieren erleichtern würde. Das Grundgesetz von Hongkong ist, sofern Peking es nicht revidiert, nur für 50 Jahre gültig. Im Jahr 2010 war ein Viertel dieser Gültigkeitsdauer verstrichen, aber das allgemeine Wahlrecht war noch immer nirgends zu sehen. Seitdem hat Peking begonnen, eine größere Offensive gegen die Autonomie Hongkongs zu starten. Erstens hat Peking die Regierung in Hongkong 2012 dazu gebracht, auf eine obligatorische „nationale Bildung“ zu drängen, um ihre Version der „chinesischen Identität“ zu fördern. Darauf folgte die Einführung von Mandarin als Unterrichtsmedium im Chinesisch-Unterricht, was darauf hinauslief, einheimischen Schülern das Recht zu verweigern, ihre Muttersprache Kantonesisch zu verwenden. Die radikalsten unter ihnen, angeführt von Joshua Wong, gründeten den Scholarism, um sich der neuen Politik entgegenzustellen. Sogar die Eltern organisierten sich, um die Student*innen zu unterstützen. Beiden Kampagnen gelang es, die Regierung an der Umsetzung ihres Plans zu hindern. Die Offensive Pekings hat dazu beigetragen, die radikaleren Demokrat*innen und die junge Generation davon zu überzeugen, dass sie schnell und entschlossen handeln müssen, um für das allgemeine Wahlrecht zu kämpfen, was schließlich zur Regenschirm-Bewegung 2014 führte. Dies war das erste Mal im Nachkriegs-Hongkong, dass es einen so massiven und friedlichen zivilen Ungehorsam gab, und es begann mit der großen Hoffnung, dass Peking zuhören müsse, wenn sie (die Regenschirm-Bewegung) die Unterstützung der lokalen Bevölkerung gewinnen könne. Die Bewegung erhielt in der Tat massive Unterstützung, aber Peking weigerte sich, zuzuhören, und das brach vielen das Herz, die das Gefühl hatten, dass ihre 79-tägige Besetzung mit einem Nichts geendet hatte. Dahinter steckte auch eine tiefe Desillusionierung gegenüber Peking. Eine Mischung aus Wut, Demoralisierung und Verzweiflung überkam die junge Generation.
Die Demonstrant*innen wären nicht in der Lage gewesen, eine zweite große Protestwelle auszulösen, wenn Peking 2019 nicht eine weitere Runde von Offensiven gestartet hätte, diesmal mit dem Auslieferungsgesetz. Die Proteste mit Millionen von Teilnehmer*innen und der Jugend an der Spitze waren größer, manchmal gewalttätig und dauerten viel länger als die Bewegung von 2014. Sie dauerten acht Monate lang bis zum Ausbruch der Pandemie. Sie wussten, dass der Gesetzesentwurf das Ende der Autonomie Hongkongs bedeutete, und daher tauchte unter den Demonstranten wiederholt der Begriff „Endspiel“ (终局之战) auf.
Aber es gibt noch eine andere Dimension der „Desillusionierung“. Im letzten Jahrzehnt wuchs die Desillusionierung in Bezug auf die Pan-Demokraten, zunächst unter jungen Menschen, gefolgt von einem bedeutenden Teil der traditionellen Anhänger der Pan-Demokraten, entweder aus der Mittel- oder Unterschicht, die einst an eine gemäßigte Politik glaubten – dass wir Peking nicht zu sehr drängen sollten, dass der zivile Ungehorsam zu radikal sei usw. Die meisten pan-demokratischen Parteien waren durch die (Teil-)Wahlpolitik so beruhigt worden, dass sie die Sensibilität dafür verloren hatten, wie die einfachen Leute über Peking denken, und auch den Appetit auf konfrontative Aktionen verloren hatten. Ihre schwachen Erfolge im Jahr 2014 führten dazu, dass sie von der Jugend verachtet wurden. Der weitgehend spontane und führungslose Aufstand von 2019 war eine Reaktion auf ihre Ohnmacht, eine Bewegung von unten zu initiieren. Er bedeutet den Tod der alten Politik und die (schwierige) Geburt einer neuen Politik.
IF: Das neue Nationale Sicherheitsgesetz wird als das Ende von Hongkong, wie wir es bisher kannten, oder, in den optimistischsten Lesarten, als der dramatische Abschluss dieser jüngsten, außergewöhnlichen Phase der Mobilisierung des Volkes betrachtet. Glauben Sie, dass ein solcher Pessimismus gerechtfertigt ist? Gibt es einen Silberstreif am Horizont?
ALY: Ich glaube, wenn eine starke Dosis Pessimismus, zumindest kurzfristig, gerechtfertigt ist, dann liegt das eher an den Ursachen der Niederlage als an der Niederlage selbst. Wir wurden einfach wegen eines schweren Ungleichgewichts der Macht besiegt – bei dieser Art von Konfrontation würden wir nie in der Lage sein, mit dem monolithischen Staat mitzuhalten. Die absolute Mehrheit der Demonstrant*innen, obwohl sie sehr wohlgesonnen waren, sah weiterhin zu, wie „die Tapferen“ (勇武派) der Polizei physisch entgegentraten, ohne sich ihrem Kampf anzuschließen. Dafür gibt es einen Grund: Selbst das einfache Volk weiß intuitiv, dass eine erfolgreiche Revolution in einer einzigen Stadt unvorstellbar war. Die Vorhut der Bewegung, die „Generation 1997“, hatte selbst keine Antwort auf diese Frage. Hier liegt die größte Schwäche der Revolte – das Fehlen einer strategischen Perspektive. Die Bewegung war sehr gut in der Taktik, aber nicht so sehr in der Strategie.
Meiner Ansicht nach muss die Hongkong-Bewegung ihre Verbündeten nicht nur international, sondern, was noch wichtiger ist, auch auf dem chinesischen Festland suchen. Wir müssen auch zugeben, dass die Freiheit Hongkongs ein langfristiger Kampf ist. Das bedeutet, dass die Hongkong-Bewegung nicht in der Lage war, die Spannungen in ihrem Verhältnis zum chinesischen Festland zu lösen, und dass sie herausfinden muss, wie sie eine Entfremdung von Chinesen vom chinesischen Festland, einschließlich derjenigen, die hierher einwandern, vermeiden kann.
Mein Buch befasst sich mit einem großen Protest am 7. Juli 2019, der darauf abzielte, Besucher*innen vom Festland anzusprechen, um sie von der Sache zu überzeugen. Der Aktivist, der zu diesem Marsch aufrief, erwartete nur 2.000 Demonstranten, aber 230.000 Menschen kamen. Sie begaben sich zum Terminal des Hochgeschwindigkeitszuges, der zwischen Hongkong und dem Festland verkehrt, um Besucher vom Festland zu treffen. Während die Polizei mit Zusammenstößen rechnete, war es erstaunlich zu sehen, wie die Demonstrant*innen freundlich auf Besucher*innen vom Festland zugegangen sind. Daher können wir sagen, dass die Suche nach Verbündeten auf dem Festland noch in den Köpfen vieler war. Insgesamt jedoch war es für die Bewegung zwar natürlich, sich Verbündete im Westen und in Japan zu suchen, nicht aber für die Suche nach Verbündeten auf dem Festland, weshalb die Stimmen, die sich für Erstere einsetzten, immer viel stärker waren als die für Letztere. Sicherlich sollte man sich nicht für Ersteres oder Letzteres entscheiden, wir könnten und sollten beides tun. Aber insgesamt ist es der Bewegung nicht gelungen, ein bewusstes Bündnis mit Menschen und Gruppen auf dem chinesischen Festland einzugehen. Hätte sie dies getan, was auch immer das direkte Ergebnis gewesen wäre, wäre es dennoch von Vorteil gewesen – weniger im Sinne eines unmittelbaren Erfolgs, sondern eher in dem Sinne, dass wir Fehler wie die Duldung des Angriffs der rechten Lokalisten auf alle Chinesen als Unterstützer der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) hätten vermeiden können, und es hätte längerfristige Solidaritätspotenziale gefördert. Peking ergriff die Gelegenheit, die gesamte Bewegung als Anti-Chines*innen anzugreifen, um die Festlandbewohner*innen der Bewegung zu entfremden und sie daran zu hindern, mit den Demonstrant*innen in Hongkong zu sympathisieren. Bis zu einem gewissen Grad ist dies gelungen.
Die Bewegung verfolgte eine lockere Strategie oder ihre „Vision von Hongkong“, die sich in der Losung von gong zung keoi gaak ( 港中区隔) oder der „Abtrennung Hongkongs von China“ widerspiegelt. Hinter dem Slogan verbirgt sich auch eine pro-westliche Gesinnung. Alles Böse kommt aus Peking, und die ganze Sympathie für unseren Kampf gegen Peking kommt aus dem Westen oder aus Japan – das ist es, was viele gefühlt haben. Die Rolle der Festlandchines*innen kommt in dieser politischen Formel überhaupt nicht vor. Es gibt Gründe für dieses Gefühl, aber da es nicht durch eine ernsthafte Analyse untermauert wurde und wird, ohne dass jemals klare Grenzen gezogen wurden, spielt es oft dem rechten Flügel in die Hände, der – manchmal erfolgreich – versucht hat, bestimmte Proteste in potenziell chinafeindliche Haltungen und offen pro-amerikanische Establishment-Stimmungen zu kanalisieren. Wenn es uns nicht gelingt, eine klare Strategie zu entwickeln, um auch ein Bündnis mit den Chines*innen auf dem chinesischen Festland anzustreben, werden die Menschen in Hongkong isoliert bleiben.
Der Grund für mittelfristigen Optimismus ist, dass die Menschen im Laufe des Kampfes lernen. Seit 2014 sind die Menschen in Hongkong zum ersten Mal stark politisiert worden und haben sich mobilisiert, um zurückzunehmen, was man ihnen schuldig ist. Aus historischer Sicht ist dies nur die erste Etappe in einer neuen Ära des Wiedererwachens des Volkes. Dafür sprechen die „fünf Forderungen“ der Bewegung. Was die Parteipolitik betrifft, so ist der rechte Flügel zwar lauter geworden, aber weder er noch andere Oppositionsparteien sind groß. Das bedeutet, dass alle im Aufstand von 2019 sichtbaren politischen Tendenzen noch lange nicht gefestigt sind. Der Kampf um einen fortschrittlichen Kurs des Handelns liegt noch vor uns.
IF: Glauben Sie im Nachhinein, dass es jemals eine Chance gab, dass Peking nachgibt und auf die Forderungen der Menschen in Hongkong eingeht? Welche Lehren würden Sie aus dieser ganzen Erfahrung ziehen?
ALY: Ich war nicht der Meinung, dass Peking den Wünschen der Menschen in Hongkong, ihre inneren Angelegenheiten selbst zu regeln, wirklich entgegenkommen würde. Was es seit der Übergabe Hongkongs im Jahr 1997 getan hat, ist ein klarer Hinweis. Sechs Jahre nach der Übergabe hat es versucht, uns das Gesetz zur nationalen Sicherheit aufzuzwingen. Wir haben es besiegt. Eine Zeit lang war es ein wenig ruhig, aber eigentlich nahm seine Offensive nur eine eher verdeckte Form an. Vor mehr als einem Jahrzehnt sind mir zwei Dinge aufgefallen, die die neue Offensive symbolisierten. Erstens begann Peking, Schlägertrupps zu organisieren, um den Anhänger*innen der Falun Gong hier entgegenzutreten, während es sie zuvor einfach ignoriert hatte. Eigentlich wurden nicht viele Menschen von ihren Überzeugungen angezogen, aber mit der rapiden Zunahme der Besucher*innen vom Festland nach Hongkong schien Peking nun besorgt darüber zu sein, dass diese Menschen von den Falun Gong bekehrt werden könnten, was zu einer Änderung der Taktik führte. Zweitens begann Peking, sich zwischen seinem Parteiapparat in Hongkong und den Kommunalverwaltungen auf dem Festland zu koordinieren, um Hunderte, wenn nicht gar Tausende von „Fellow Villagers Associations“ (同乡会) zu gründen, um diejenigen einzufangen, die vom Festland nach Hongkong eingewandert waren. Diese Organisationen erwiesen sich als wesentlich, um Stimmen für pekingfreundliche Parteien zu erhalten. Die Pan-Demokraten hofften, die Autokratie Pekings durch engere Beziehungen aufweichen zu können, aber was geschah, war, dass wir es waren, die verändert wurden.
In ähnlicher Weise hatten die westlichen Länder ein “ Abkommen“ mit Peking angestrebt, in der Hoffnung, dass sie dem chinesischen Festland durch mehr Handel einen Anstoß zur politischen Liberalisierung geben könnten. Im Allgemeinen war ich in dieser Hinsicht nie optimistisch. Ich bezeichne das Regime Pekings als zu starr in seiner Version der „chinesischen Charakteristika“, was im Wesentlichen eine Rückkehr zur politischen Kultur des imperialen Chinas bedeutet. Xi Jinpings Rede von 2017 darüber, dass die Macht an Menschen mit „roten Genen“ (d.h. die zweite rote Generation) weitergegeben werden müsse, ist eine Manifestation dieser Praxis. Fei-Ling Wangs 2017 erschienenes Buch „The China Order: Centralia, World Empire, and the Nature of Chinese Power“ (Zentralasien, das Weltreich und die Natur der chinesischen Macht (2017)) fängt den vormodernen Aspekt dieses Regimes gut ein, aber er lässt den modernen Aspekt der KPCh aus, nämlich ihr Bestreben, China zu modernisieren, oder in Maos Worten „zuerst Großbritannien und dann die Vereinigten Staaten zu übertreffen“ (超英赶美). Hinter ihrem Glauben an ihre vormodernen Werte verbirgt sich auch eine sehr moderne, sehr materielle Sache, nämlich das grundlegende Interesse ihrer Herrschaft. Sie verbindet sowohl die Zwangsgewalt des Staates, der mit den modernsten Waffen und Technologien bewaffnet ist, als auch die Macht seines Industrie- und Finanzkapitalismus. Es gelingt ihr, indem sie sich gleichzeitig auf zwei Regelwerke stützt, das Gesetz und die verborgenen Regeln der Bürokratie, wobei letztere immer die ersteren überlagern. Seine Machthaber*innen finden, dass dieses Herrschaftssystem ihren Interessen gut dient. Von der Spitze bis zur lokalen Ebene haben sich die Parteifunktionär*innen dadurch enorm bereichert. Je mehr sie dies tun, desto mehr schmutzige Geheimnisse entstehen, die sie verbergen müssen. Dies ist an und für sich schon ein Grund, warum die Parteifunktionär*innen abweichende Ansichten nicht tolerieren können. Die Partei fordert den Aufbau eines Orwellschen Staates auf dem Festland, und dieser muss unbedingt auch auf Hongkong ausgedehnt werden. Ich vermute, dass die Starrheit des harten Kerns des Parteistaates, der durch seine besondere Art der revolutionären Geschichte, seine Rückkehr zur imperialen politischen Kultur und sein tief verwurzeltes Interesse an einem totalitären Staat geformt und verhärtet wurde, es unmöglich macht, dass eine Selbstreform stattfinden kann.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir, um eine weniger fehlerhafte Einschätzung des Regimes in Peking zu haben, statt nur das damalige Erscheinungsbild der KPCh oder ihrer Spitzenführer*innen zu betrachten, eine ganzheitliche Sichtweise benötigen, die von historischen und vergleichenden Ansätzen begleitet wird. Das Positive an meiner Erklärung ist, dass die KPCh im Zuge ihrer weiteren Modernisierung Chinas auch das ursprüngliche Gefüge der Kräfteverhältnisse innerhalb Chinas grundlegend verändert hat. In den letzten 70 Jahren waren alle anderen Klassen und sozialen Gruppen innerhalb Chinas der Gnade dieses monolithischen Parteienstaates ausgeliefert. Äußerlich ist dies unverändert geblieben, aber seine tatsächliche Zusammensetzung hat sich stark verändert. Hinzu kommt, dass ein großer Teil der chinesischen oberen Mittelschicht, der neuen Arbeiter*innenklasse und der ausgebeuteten Ausbeuter*innen in den Sweatshops auch wirtschaftlich mit den globalen Märkten verbunden ist. Der Abbruch der Beziehungen zwischen China und den Vereinigten Staaten stellt den Orwellschen Staat nun auf eine harte Probe und macht seine Situation zunehmend unsicherer. Wird aus dieser Unbeweglichkeit eine neue innenpolitische Kraft hervorgehen und den harten Kern der KPCh herausfordern? Das ist das Dilemma dieser neuen Etappe.
IF: In Ihrem Buch verwenden Sie auch viel Energie darauf, zu erklären, worum es bei der Mobilisierung nicht ging. Ein paar Missverständnisse, die Sie zu zerstreuen versuchen, sind, dass die Proteste rassistisch waren, dass sie gegen Festlandchines*innen gerichtet waren und dass es bei ihnen um die Forderung nach Unabhängigkeit ging. Warum haben sich diese Vorstellungen in der Öffentlichkeit durchgesetzt und warum sollten sie abgelehnt werden?
ALY: Zunächst müssen wir uns daran erinnern, dass die heutigen Medienkonzerne alle sehr einflussreich bei der Bildung der so genannten öffentlichen Meinung sind. Zu Beginn der Revolte im vergangenen Jahr, als Einzelpersonen die Unabhängigkeitsfahne schwenkten, versuchten andere Demonstrant*innen, die nicht dafür waren, sie davon zu überzeugen, damit aufzuhören, indem sie sie daran erinnerten, dass es in der Bewegung um die fünf Forderungen und nicht um die Unabhängigkeit ging. In einigen Fällen könnte die Überzeugungsarbeit gelingen. Doch sowohl westliche Medien als auch pekingfreundliche Medien liebten es, sich stattdessen auf Menschen zu konzentrieren, die die Flagge schwenkten – wenn auch aus ganz entgegengesetzten Gründen – und ignorierten dabei die Tatsache, dass die meisten Protestierenden sie nicht schwenkten. Auf diese Weise wurde eine kleine Minderheit von Protestierenden durch die Medien ermutigt, während die Mehrheit sich entmutigt fühlte und bei späteren Protesten lieber schwieg.
Das Wunderbare an diesem Aufstand ist, dass es Hunderte größere und kleinere Proteste gab, die eine große Vielfalt und Widersprüche aufwiesen. Was diese vielfältigen Proteste vereinte, waren die fünf Forderungen, nicht irgendwelche anderen Forderungen. Es gab nur einige wenige Proteste, die sich potenziell gegen Einwanderer*innen oder Besucher*innen vom Festland richteten, aber sie waren viel kleiner und fanden auch nur in abgelegeneren Gebieten statt – als solche können sie die Bewegung nicht repräsentieren. Es ist aber auch wahr, dass die meisten Menschen, die die rechtsgerichteten Lokalpatriot*innen nicht gutheißen, oft beschlossen, über sie zu schweigen. Ich behaupte, dass dies ohne eine organisierte fortschrittliche Kraft, die bewusst für eine integrative Hongkonger Identität (integrativ im Sinne des Bezuges zu Festlandchina) kämpft, leider auch weiterhin der Fall sein wird.
IF: Schließlich kritisieren Sie eine bestimmte Idee, die in einigen linken Kreisen im Westen Fuß gefasst hat: dass die Proteste in Hongkong rechtsgerichtet waren und von ausländischen Imperialisten manipuliert wurden. Wie reagieren Sie auf diese Anschuldigungen?
ALY: So wie die Medien es lieben, Protestierende, die pro-unabhängige Flaggen schwenken, ins Rampenlicht zu rücken, lieben sie es auch, Protestierende, die pro-amerikanische Flaggen schwenken, ins Rampenlicht zu rücken. Doch nur wenige Menschen wissen, dass die Demonstrant*innen auch die katalanische Flagge schwenkten und einmal eine pro-katalanische Unabhängigkeitskundgebung veranstalteten. Diese pro-amerikanischen Kräfte versuchten, die Abhaltung einer solchen Kundgebung zu verhindern, weil „Spanien ein Verbündeter der USA ist“ – ein Argument, das zurückgewiesen wurde. Diese Nachricht blieb jedoch weitgehend unbemerkt.
Letztes Jahr war ich auf einer Konferenz in Berlin, wo ein Teilnehmer*innen die Bewegung als von den Vereinigten Staaten manipuliert verurteilte, indem er sich auf Demonstrant*innen bezog, die die US-Flagge schwenkten. Meine Antwort war, dass auch ihre Verurteilung selbst als manipuliert angesehen werden könnte, nur dieses Mal von den Medien, da sie unkritisch die Präferenz der Medien für die fahnenschwingende Minderheit akzeptierte.
Die Pan-Demokraten hatten schon immer starke Verbindungen zum US-amerikanischen und britischen Establishment, aber bei dieser jüngsten Revolte wurden sie an den Rand gedrängt. Es gab organisierte pro-amerikanische Kräfte, aber sie waren klein. Die Massenbewegung wird von niemandem angeführt. Die meisten jungen Leute, die die US-Flagge schwenkten, gehörten keiner politischen Partei an, sie waren im Allgemeinen neue Akteur*innen in der sozialen Bewegung und wollten lediglich um internationale Unterstützung bitten.
Das Problem mit der letztjährigen Revolte war jedoch, dass die meisten Protestierenden keine Vorstellung von „links gegen rechts“ hatten, und alles in ihrer Welt ist in eine Sichtweise von „entweder Peking oder wir“ gepresst. Aus diesem Grund akzeptieren sie einfach jeden Ausländer, der eine gewisse Hilfsbereitschaft zeigt, ohne jemals die Frage zu stellen: „Sind das Ihre wahren Freunde? Dieser Mangel an Verständnis erlaubt es, die Protestierenden ab und zu als Teil der Pro-Trump-Strömung darzustellen, die dann von den Medien noch verstärkt wird.
Wir müssen uns jedoch einer anderen Facette dieser Diskussion über „ausländische Kräfte“ bewusst sein. Westliche Regierungen, mit dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten an der Spitze, werden von niemand anderem als der KPCh selbst als legitime Interessensgruppen anerkannt, so wie es im Grundgesetz verankert ist. Dieses Gesetz legt im Detail fest, dass die Menschen in Hongkong ihr eigenes britisches Recht behalten können, das Recht auf den britischen Pass genießen und sogar Ausländer*innen als Beamte beschäftigen dürfen, von den niedrigsten bis zu den höchsten Rängen (mit Ausnahme der obersten Ränge), einschließlich ausländischer Gerichte und so weiter und so fort. Damit hätten sowohl die Vereinigten Staaten als auch das Vereinigte Königreich zumindest für die verbleibenden 27 Jahre bis zum Auslaufen des Grundgesetzes, sofern es nicht weiter revidiert wird, viel Einfluss ausüben können. Mit dem Auslieferungsgesetz hat Peking nicht weniger getan, als sein Versprechen sowohl in der gemeinsamen chinesisch-britischen Erklärung als auch im Grundgesetz zu brechen. Ich habe diese beiden Dokumente nie gutgeheissen. Eigentlich waren die Menschen in Hongkong immer von den Verhandlungen über ihr Schicksal ausgeschlossen, aber wenn Peking das koloniale Erbe Hongkongs entkolonialisieren will, dann sollte es dieses Erbe durch einen noch besseren Schutz der Menschenrechte ersetzen und sein Versprechen des allgemeinen Wahlrechts für die Stadt einlösen und es nicht durch ein noch schlechteres eigenes Rechtssystem ersetzen oder die Autonomie der Stadt auslöschen. Wenn die US-Regierung nicht unser wirklicher Freund ist, dann ist Peking im Augenblick unser wirklicher Feind. Das ist es, was entscheidend ist.
IF: Im Buch erklären Sie, wie die Jugend eine grundlegende Rolle bei der Mobilisierung gespielt hat. Was unterscheidet die „Generation 1997“ so sehr von denen, die vorher da waren?
ALY: Jetzt will Peking die volle Kontrolle über das Bildungswesen in Hongkong übernehmen, um sicherzustellen, dass die Jugend nicht von gefährlichen Ideen beeinflusst wird. Das ist lächerlich und eigentlich kontraproduktiv. Ich war fast 20 Jahre lang Sekundarschullehrer. Es ist mir schrecklich misslungen, meinen Schüler*innen einen Geist der Rebellion gegen die koloniale Erziehung einzuflößen. Die Zeit war einfach noch nicht gekommen. Erst mit der Ankunft der „Generation 1997“ begann sich ein bedeutender Teil der Gesellschaft zu rühren.
Es ist eine Generation, die voller Zorn und Hoffnung ist. Sie sind wütend, weil sie sich von Peking belogen fühlten. Seit ihrer Geburt hören sie von Hongkongern, die Peking auffordern, sein Versprechen des allgemeinen Wahlrechts einzuhalten. Als sie aufwuchsen, war das Wahlrecht nicht existent, und Peking startete eine Welle nach der anderen von Angriffen auf die Autonomie Hongkongs, daher die Wut. Andererseits glauben sie, es gäbe noch Hoffnung, wenn sie nur radikal sind – oder zumindest radikaler als die Pan-Demokraten. Es muss ein neuer Weg gefunden werden, um zurückzuschlagen, und sie fanden ihn „mit allen Mitteln“, indem sie versuchten, „Wasser zu sein“, „tapfer zu sein“ usw. Wenn der zivile Ungehorsam und die Besetzung der großen Straßen im Jahr 2014 nicht ausreichten, um Peking zum Einlenken zu bewegen, dann lasst uns gegen die Polizei kämpfen und die Legislative besetzen! Ihre Tapferkeit kam auch aus ihrer „Endspiel“-Mentalität – dies wird unser letzter Kampf für unsere Autonomie sein, also lasst uns keine Anstrengungen scheuen!
Ein weiterer Faktor, der im Spiel war, waren die relativen Freiheiten, die die neue Generation während ihres Heranwachsens genoss. Unter der britischen Kolonialherrschaft wuchs unsere Generation in einer recht repressiven Atmosphäre auf und lernte, unpolitisch zu sein, um Schwierigkeiten zu vermeiden. Daher war die 30 Jahre alte demokratische Bewegung immer sehr zaghaft, man sieht also, wie sehr sich die neue Generation von der alten unterscheidet. Die Jungen waren unerfahren, aber das ermöglichte ihnen auch, über den Tellerrand der Pan-Demokraten hinaus zu denken. Jetzt haben sie mit eigenen Augen gesehen, dass selbst ein so massiver Aufstand wie im vergangenen Jahr Peking nicht zum Einlenken veranlasste. Stattdessen schlug Peking im Gegenteil mit einer noch tödlicheren Waffe, dem Nationalen Sicherheitsgesetz, zurück. Die Jugend begreift nun endlich, dass es ein sehr langer Kampf sein wird, und dass es so etwas wie ein „Endspiel“ nicht gibt. Es wird auch ein sehr harter Kampf werden, denn Pekings Agenda ist es, diese Generation zu vernichten. Das haben sie schon einmal getan, 1989.
Zusammenfassend kann man sagen, dass der Beitrag der Jugendlichen darin besteht, dass sie, wie der Junge, der lautstark darauf hinwies, dass „der Kaiser keine Kleider anhat“, in der Lage waren, zu erkennen, wo das eigentliche Problem liegt. Sie versuchten auch, es zu lösen, auch wenn die Ereignisse bewiesen, dass es sich um eine Aufgabe handelte, auf die sie noch nicht vollständig vorbereitet waren.
IF: Wir haben kürzlich einen Artikel von Anita Chan veröffentlicht 1), in dem es um das außerordentliche Anwachsen der Gewerkschaften in Hongkong im vergangenen Jahr ging. Auch Sie widmen diesem Phänomen einen Teil Ihres Buches. Könnten Sie bitte etwas ausführlicher auf die Rolle der Arbeiter*innen während der Proteste eingehen? Wie sind die Aussichten für diese im Entstehen begriffene Arbeiter*innenbewegung unter dem neuen Sicherheitsgesetz?
ALY: Vergleicht man den Aufstand des letzten Jahres mit der Regenschirmbewegung, dann wird man Zeuge eines Fortschritts für die Arbeiter*innen. Der pro-demokratische Gewerkschaftsbund (CTU) wurde 1990 gegründet und behauptet heute, 95 Mitgliedsgewerkschaften zu haben, die 190.000 Mitglieder vertreten. Er folgt immer der politischen Linie der Pan-Demokraten, was die junge Generation schließlich befremdete, was einer der Gründe dafür ist, dass er während der Regenschirmbewegung fast überhaupt keine Rolle spielte. Sie rief zum Streik auf, aber ich pflegte zu sagen, dass nur zweieinhalb Gewerkschaften dem Aufruf folgten, weil die Lehrer*innengewerkschaft nur halbherzig darauf einging. Es war ein Spiegelbild der grundlegenden Schwäche der Arbeiter*innenbewegung in Hongkong zu jener Zeit. Im vergangenen Jahr, als die Bewegung gerade erst Anfang Juni und unmittelbar nach dem Zwei-Millionen-Marsch begonnen hatte, rief die CTU zu einem weiteren Streik auf, der jedoch erfolglos blieb. Die Geschichte schien sich zu wiederholen. Aber nein, die Jugend ließ das nicht zu. In den folgenden Monaten kam es zu einer immer stärkeren Mobilisierung, aber die Jugendlichen wurden sich zunehmend bewusst, dass sie allein nicht in der Lage sein würden, Peking zum Einlenken zu bewegen, so dass sie wiederholt zum Generalstreik aufriefen.
Dies war der Moment, als sich neue Teile der Lohnabhängigen als Aktivist*innen herauszubilden begannen. Gemeinsam mit der CTU konnten die vereinigten Kräfte am 5. August 2019 zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten wieder einen erfolgreichen Generalstreik ausrufen. Unter anderem antworteten Pilot*innen und Flugbegleiter*innen in Massen, und die Hälfte aller Flüge wurde am Boden gehalten, so dass der Flugverkehr im Chaos versank. Obwohl spätere Streikaufrufe erfolglos blieben, nachdem Peking als Vergeltungsmaßnahme Cathay Pacific zwang, einige Dutzend ihrer Streikenden zu entlassen, blieb der Auguststreik vielen als Beweis für die Macht der Arbeit*innen in Erinnerung. Damit wurde auch der Grundstein für eine neue Gewerkschaftsbewegung gelegt, in deren Rahmen Dutzende neuer Gewerkschaften gegründet wurden. Die Ausbreitung der Covid-19-Pandemie gab der neu gegründeten Angestelltengewerkschaft der öffentlichen Krankenhäuser die Chance, ihre Stärke zu testen. Damit wurde auch der Grundstein für eine neue Gewerkschaftsbewegung gelegt, in deren Rahmen Dutzende neuer Gewerkschaften gegründet wurden. Die Ausbreitung der Covid-19-Pandemie gab der neu gegründeten Angestelltengewerkschaft der Krankenhausbehörde die Chance, ihre Stärke zu testen. Die Gewerkschaft macht 20 Prozent der 80.000 Beschäftigten aus, und im Februar 2020 trat sie für fünf Tage in den Streik, um die Regierung aufzufordern, die Grenzen zwischen Hongkong und dem chinesischen Festland vorübergehend zu schließen, um eine weitere Ausbreitung der Pandemie in der Stadt zu verhindern. Das Positive an diesem Streik ist, dass man gesehen hat, dass die neue Führung den Mut zum Kampf hat, was bei den örtlichen Gewerkschaften sehr selten ist. Die Kehrseite ist jedoch, dass es bei mehreren Gelegenheiten den Anschein hatte, als seien die Mitglieder nicht bereit, eine kämpferischere Haltung einzunehmen.
Nachdem Peking mit seinem Gesetz zur nationalen Sicherheit einen Gegenschlag versetzt hat, steht diese neue Gewerkschaftsbewegung nun vor der größten Herausforderung seit ihrer Gründung. Die Gewerkschaften sind vielleicht nicht das Hauptziel Pekings, aber die Behörden auf dem Festland mögen eine militante Gewerkschaftsbewegung definitiv nicht. Ich hoffe, dass die jungen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter genügend Zeit haben werden, sich zu konsolidieren, bevor Peking seine nächste Offensive startet.
IF: Ein Aspekt, der in der Medienberichterstattung selten erwähnt wird, ist die Frage, wie sich das Nationale Sicherheitsgesetz voraussichtlich auf die Zivilgesellschaft auf dem Festland auswirken wird. Seit drei Jahrzehnten ist Hongkong das Einfallstor für die Finanzierung eines breiten Spektrums von zivilgesellschaftlichen Organisationen auf dem chinesischen Festland, darunter Arbeitnehmer*innen-NGOs, Menschenrechtsanwält*innen und andere Arten von Aktivist*innengruppen. Da die chinesische Zivilgesellschaft bereits unter beispiellosen Attacken steht, wird Hongkong noch in der Lage sein, eine solche Rolle zu spielen?
ALY: Im Moment ist es bereits sehr schwierig. Einige Gruppen in Hongkong, die chinesische Arbeitskräfte unterstützt haben, mussten entweder ihre Aktivitäten einstellen oder erheblich verkleinern und sich zurückziehen. Je gravierender die Wirtschaftskrise und je mehr der Konflikt mit den Vereinigten Staaten eskaliert, desto wahrscheinlicher wird Peking die völlige Ausschaltung der Arbeiter*innengruppen auf dem Festland anstreben, insbesondere derjenigen, die Verbindungen zu Hongkong haben. Ich erinnere mich, dass wir vor einem Dutzend Jahren in Shenzhen einen Bus mieteten und mit einer ganzen Gruppe deutscher Gewerkschaftsaktivist*innen von der Basis zu Fabriken fuhren, in denen es zu Streiks gekommen war. Wir wagten es zwar nicht, aus dem Bus auszusteigen, aber die deutschen Aktivist*innen waren dennoch beeindruckt von den Geschichten, die wir erzählten, und glücklich darüber, die Fabriken sehen zu können. Das ist heute unvorstellbar. Der enge, aber reale Raum für NGO-Aktivismus im Perlflussdelta ist längst nicht mehr vorhanden.
Wir haben aber immer noch eine andere Form der Hebelwirkung. Jahrzehntelang hat das Bild der Menschen in Hongkong, die für ihre Rechte eintreten, viele Menschen auf dem Festland inspiriert. In dieser neuen Periode der Unterdrückung könnte Hongkong immer noch auf indirekte Weise, d.h. durch seinen eigenen Kampf für Autonomie und Demokratie, eine Bewegung von unten auf dem Festland fördern. Dies ist wichtig, da der Vorteil Hongkongs in seiner „sanften Macht“ liegt und nicht in der nicht existierenden “ harten Macht“, nach der bestimmte “ Wagemutige “ gesucht haben. Es ist selbstmörderisch, die Stadt für das chinesische Festland feindselig zu machen. Leider hat Peking bei der letztjährigen Revolte die Präsenz der rechten Lokalisten in vollem Umfang genutzt, um die gesamte Revolte als eine Revolte darzustellen, bei der es um Unabhängigkeit und China-Bashing geht, ganz zu schweigen davon, dass man für den Aufstand ist. Dies befremdete potenzielle Verbündete auf dem Festland. Das Problem für Hongkong liegt jedoch weniger in der Existenz rechter Lokalpatriot*innen, sondern vielmehr im Fehlen eines starken linken Gewerkschaftsflügels, der, falls vorhanden, den rechten Flügel unter Druck setzen könnte. Die gute Nachricht ist, dass es mit der neuen Gewerkschaftsbewegung nun eine ganz neue Gruppe von Gewerkschaftsaktivist*innen gibt, die für eine Arbeiter*innenlinke gewonnen werden kann, auch wenn dies Zeit brauchen wird.
Zweitens wird die Saat, die von aktiven Gewerkschafter*innenn auf dem Festland und in Hongkong in den vergangenen zwei Jahrzehnten gesät wurde, auch in Zukunft weiter wachsen. Vor zwanzig Jahren hatten die meisten Wanderarbeiter*innen auf dem Land noch keine Ahnung von ihren legitimen Rechten. Durch ihren eigenen Kampf und mit etwas Hilfe von NGOs sind viele von ihnen heute viel besser informiert und bereit, ihre Rechte einzufordern. Im Jahr 2018 zum Beispiel organisierten sich mehr als hundert Silikose-Patient*innen aus Hunan spontan, um nach Shenzhen zu gehen (wo sie sich die Berufskrankheit während der Arbeit zugezogen hatten), und eine Entschädigung zu beantragen. Unter den harten Repressionen können die Arbeiterinnen und Arbeiter keine langfristige Organisierungsarbeit leisten, aber durch diese Art von Abwehrkämpfen können sie immer noch teilweise ermutigt werden.
IF: Wie geht es für die Menschen in Hongkong weiter? Welche Möglichkeiten bleiben den im Ausland lebenden Menschen, ihre Solidarität zu bekunden?
ALY: Seit Sie mir diese Fragen geschickt haben, hat sich die Situation in Hongkong von Tag zu Tag weiter verschlechtert. Die absolute Asymmetrie der Kräfteverhältnisse zwischen Peking und Hongkong bedeutet, dass wir uns auf Jahre hinaus in einer schlimmen Situation befinden werden, es sei denn, die Situation auf dem Festland nimmt eine überraschende Wende. Einige Demonstrant*innen feiern jetzt den Erfolg ihrer so genannten Taktik der „verbrannten Erde“, nachdem die Vereinigten Staaten den Sonderstatus Hongkongs aufgehoben haben. Ich unterstütze ihre Vorstellung von „Erfolg“ nicht, denn Hongkong in ein Schlachtfeld zwischen Peking und Washington zu verwandeln, wird die Dinge nur noch schlimmer machen, nicht einfacher. Ich beabsichtige jedoch nicht, diesen Befürwortern der „verbrannten Erde“ allzu viel Schuld zuzuschieben, da Hongkong von Anfang an zu klein war, um eine Hauptrolle bei der Gestaltung seines eigenen Schicksals zu spielen. Leider wird sein Schicksal immer von äußeren Kräften bestimmt. Wie tadellos unser Widerstand auch sein mag, sobald Peking sich entschließt, unsere Autonomie zu beenden, sind wir in dieser Hinsicht geliefert. Täglicher Widerstand, um zu verhindern, dass sich die Lage weiter verschlimmert, ist nach wie vor notwendig, aber wir müssen uns auf den Tag vorbereiten, an dem die organisierte Opposition von Wahlen ganz ausgeschlossen oder gar ausgelöscht wird. Die Menschen vor Ort sind sich dieser kommenden Katastrophe bewusst und freuen sich daher auf mehr internationale Unterstützung. Als kleine Stadt kann dies jedoch auch bedeuten, dass uns der Kampf zur Verteidigung unserer Autonomie entglitten ist.
Gerade wegen der Einzigartigkeit Hongkongs – klein, aber bedeutend in seiner Geopolitik und seinem internationalen Finanzstatus – ist internationaler Druck für uns lebenswichtig. Aber es muss die richtige Art von Druck sein. Wir alle wissen nur zu gut, dass Regierungen eher eine bewahrende Kraft als ein Motor für progressive Veränderungen sind. Es ist einfach zu gefährlich, die Solidaritätskampagne mit den demokratischen Bewegungen auf dem Festland und in Hongkong allein ausländischen Regierungen zu überlassen, ganz zu schweigen davon, sie an Trump abzutreten. Wir brauchen internationale fortschrittliche Arbeiter*innen- und Bürger*innenvereinigungen und Einzelpersonen, die ihre Regierungen dazu drängen, das Richtige zu tun und sie gleichzeitig davon abhalten, etwas Falsches zu tun. Voraussetzung für dieses Bestreben ist es, die konkrete Realität zu erfassen, die sich hier abspielt. Mein Vorschlag ist, dass wir uns weniger von Ideologie leiten lassen sollten, sondern mehr von objektiver Untersuchung und einfachem Einfühlungsvermögen – und hier meine ich Ideologie im Sinne einer „gesellschaftlich notwendigen Illusion“, die von der Realität losgelöst ist. Was die Massenbewegung vereinte, waren die fünf Forderungen, von denen vier die Opposition gegen das Auslieferungsgesetz betrafen und die fünfte das allgemeine Wahlrecht. Wie kann jemand, der behauptet, links oder fortschrittlich zu sein, diese Forderungen nicht unterstützen?
1.) Anita Chan in https://madeinchinajournal.com/2019/08/18/hong-kong-in-turmoil/
Ivan Franceschini ist Postdoc-Fellow am Australian Centre on China in the World, der Nationalen Universität Australien. Er beschäftigt sich seit über einem Jahrzehnt mit chinesischem Gewerkschaftsaktivismus, und seine aktuelle Forschung konzentriert sich hauptsächlich auf die Präsenz Chinas in Kambodscha.
Au Loong-Yu ist ein in Hongkong ansässiger Schriftsteller. Sein erstes Buch, China Rise: Strength and Fragility, wurde 2012 bei Merlin Press veröffentlicht. Sein jüngstes Buch: Hong Kong in Revolt: The Protest Movement and the Future of China, erschien bei Pluto Books in August 2020. Deutsche Ausgabe: Au Loong-Yu: Revolte in Hongkong – Die Protestbewegung und die Zukunft Chinas Taschenbuch – 27. Oktober 2020 Forum Arbeitswelten e.V. (Herausgeber Verlag Bertz + Fischer (Autor) € 14,–
Das Interview erschien am 10. Sept. 2020 in Made in China Journal https://madeinchinajournal.com/2020/09/10/hong-kong-in-revolt-a-conversation-with-au-loong-yu/
Das Interview erschien am 22. Spetember 2020 auch in International Viewpoint: https://internationalviewpoint.org/spip.php?article6824
Übersetzung aus dem Englischen: Wilfried Hanser