Differenzierte Perspektiven auf den Ukrainekrieg
Im März 2023 fanden im depot Wien zwei Veranstaltungen statt, die sich wohltuend von der derzeit üblichen Kriegspropaganda im Freund/Feind-Schema unterschieden.
von Monika Mokre
Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine
Am 9. März präsentierte der spanische Philosoph und Aktivist Raúl Sánchez Cedillo sein Buch mit dem Titel „Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine. Argumente für einen konstitutierenden Frieden.“ (Wien: transversal 2023)[1]. Die Idee zu dieser Publikation geht auf die ersten Tage nach der Invasion zurück, in denen deutlich wurde, dass die Krise der Pandemie nahtlos in die Krise dieses Kriegs übergehen würde, während zugleich die ökologische Krise den Hintergrund jeglicher zeitgenössischer gesellschaftlicher Entwicklung darstellt. Diese Krisen werden vom globalisierten Kapitalismus und (alten wie neuen) imperialistischen Konflikten ausgelöst und geschürt, und führen zugleich zu neoliberalen und national-chauvinistischen Antworten, die ökologische Probleme ebenso weiter verschärfen wie soziale Ungleichheit und Ausgrenzung. Der Krieg in der Ukraine könnte einen Kipppunkt in dieser Situation darstellen, in Bezug auf zeitgenössische Akkumulationsmodelle (das neoliberale einerseits und das oligarchische der russischen und ukrainischen Eliten andererseits), die globale ökologische Bedrohung und die neuen faschistischen Formen in beiden kriegsführenden Ländern wie auch insgesamt in Osteuropa. Ein Friedensschluß ist nicht in Sicht, würde er doch für die Machthaber in der Russischen Föderation wie auch in der Ukraine eine massive Bedrohung ihrer Position im eigenen Land bedeuten. Zugleich ist dieser Krieg auch ein imperialistischer Krieg, in dem sich die Machtansprüche der USA, der Russischen Föderation und von China konzentrieren. Die Krisen, die im Ukrainekrieg kulminieren, lassen sich durch die Beendigung kriegerischer Handlungen nicht lösen, sondern nur durch einen konstituierenden Frieden, der durch Klassenkampf erreicht werden muss.
Um die Wurzeln des Kriegs zu verstehen, genügt es indes nicht, auf gegenwärtige geopolitische und globalökonomische Verwerfungen zu fokussieren. Vielmehr bedarf es des historischen Verständnisses für die Bestrebungen Russlands und der UdSSR seit der Zeit von Zar Peter dem Großen Teil der zentralen Weltmächte zu werden einerseits. Und andererseits für die durch zahlreiche Katastrophen und Krisen gekennzeichnete Geschichte der Ukraine – von den antisemitischen Pogromen am Beginn des 20. Jahrhunderts über die vom Stalinismus verursachte Hungersnot in den 1930er Jahren, die ungeheuren Verluste an Menschenleben im Zweiten Weltkrieg, die nukleare Katastrophe von Tschernobyl 1986, bis zum Ende der UdSSR und der Zerstörung sozialer Strukturen durch die westliche Schockdoktrin, die unterschiedliche Oligarchien an die Macht brachte, gegen die es mehrere Aufstände gab. Als mögliche Folge des Kriegs sieht Sánchez Cedillo den Aufstieg von Faschismen in beiden kriegsführenden Ländern und darüber hinaus, eine Entwicklung, die der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entsprechen würde.
Eine positive Wende nach diesem Krieg ist also nur über eine grundlegende Gesellschaftsveränderung möglich, die des Klassenkampfes bedarf. Im Unterschied zur marxistischen Verwendung dieses Begriffs versteht Sánchez Cedillo diesen allerdings nicht als Kampf des Proletariats, sondern als Zusammenführung aller Kämpfe gegen Ausbeutung und Diskriminierung – von Landarbeiter*innen im globalen Süden bis zu sexuellen Minderheiten. Gemeinsam ist diesen Kämpfen, dass es ihnen um die Reproduktion des Lebens geht, die auf lebendiger Arbeit beruht. Nachhaltige Reproduktion des Lebens ist indes nur in einer kommunistischen Gesellschaft möglich, die laut Sánchez Cedillo direkt aus den Kämpfen um das Gemeinsame entstehen muss, ohne den Weg über eine Form des Staatssozialismus zu wählen, der die Ausbeutung der Natur unter anderen Eigentumsverhältnissen fortsetzen würde.
Dazu ließe sich auf theoretischer Ebene viel und durchaus kontroversiell diskutieren; zugleich bleibt aber auch die (tatsächliche und mögliche) revolutionäre Praxis, die zu einem konstituierenden Frieden führen kann, weitgehend offen.
Widerstand in der Russischen Föderation
Praktiken des Widerstands standen hingegen im Mittelpunkt der Veranstaltung von Arbeiter*innenstandpunkt und SOAL, die eine Woche später, am 16. März, unter dem Titel „Russlands Krieg. Wo bleibt der Widerstand?“ stattfand. Am Podium saßen drei russische Aktivist*innen – Lolya aus der feministischen Anti-Kriegsbewegung, Maria aus der Bewegung „Russ*innen gegen den Krieg“ und Vlad von der Russländischen Sozialistischen Bewegung (RSD). Die Präsentationen verdeutlichten, dass es trotz Repression und erheblicher Gefahr für die Freiheit und das Leben von Aktivist*innen durchaus Widerstand gegen den Krieg gibt, der sich in legalen und gewaltsamen Aktionen äußert und oft auch zu Emigration führt: Etwa eine Million großteils eher wohlhabender und gebildeter Russ*innen hat das Land bisher verlassen.
Doch Putins Regime verfügt über erhebliche Repressionsmacht und auch nach wie vor über eine gewisse Legitimität, insbesondere in der sehr mächtigen Oligarchie, die zwar aufgrund des Kriegs erhebliche Profiteinbußen hinnehmen muss, aber keine Alternative zum derzeitigen Regime sieht. Der Krieg bietet auch die Möglichkeit, auf Kosten der Autonomie und finanziellen Ressourcen der Republiken Macht weiter zu zentralisieren, sowie gegen jede Art von Kritik mit erheblicher Brutalität vorzugehen.
In der russischen Bevölkerung findet nur langsam eine Politisierung statt, zumal der Krieg die Armut im Land reduziert hat, da die Löhne beim Militär vergleichsweise gut sind und die Angehörigen von verwundeten und getöteten Soldaten eine hohe Entschädigung erhalten. Trotzdem sinkt die Unterstützung für den Krieg laut Umfragen. Und es formieren sich Bewegungen gegen den Krieg, was etwa Brandstiftungen in mehr als 50 Rekrutierungsstellen der russischen Armee und die Zerstörung von Bahngleisen zeigen. Diese Aktionen werden als terroristische Angriffe gewertet und führen zu Gefängnisstrafen von bis zu 13 Jahren.
In Burjatien, einer autonomen Republik an der Grenze zur Mongolei, hat sich die Bewegung „Burjat*innen gegen den Krieg“ formiert. Burjat*innen sind immer wieder in der Russischen Föderation rassistischer Verfolgung ausgesetzt, die sich auch in der Armee fortsetzt, was sich an den weit überdurchschnittlichen Zahlen burjatischer Kriegstoter ablesen lässt. Aufgrund ihrer Erfahrung mit rassistischer Ausgrenzung lehnen Burjat*innen Putins Narrativ der Befreiung der Ukraine vom Faschismus entschieden ab.
Die zahlenmäßig sehr schwache linke Opposition unterstützt diese Aktivitäten, während die liberale Opposition darauf nur zögerlich oder gar nicht reagiert. Ihr sogenanntes „Revival“-Projekt will eine Rückkehr zur früheren Bedeutung von Russland als Teil der zivilisierten Welt, die sie etwa zur Zeit von Peter dem Großen und Katharina verorten.
Nach dieser Einführung zur allgemeinen Lage von Vlad berichtete Maria über die Bewegung gegen den Krieg, die sich enormer Repression gegenübersieht. Im Jahr 2022 fanden 20.500 Verhaftungen aus politischen Gründen statt und 210.450 Webseiten wurden blockiert. Während es im Jahr 2012 zu 36 strafrechtlichen Verurteilungen wegen politischen Aktivismus kam, waren es 378 Fälle im Jahr 2022. Alle Proteste werden von der russischen Nationalgarde genau beobachtet und zumeist sehr schnell beendet. Die Nationalgarde beschäftigt 340.000 Personen – in einem armen Land wie Russland stellen das Militär und die Polizei für viele Personen die einzige Karrieremöglichkeit dar. Eine andere zentrale repressive Institution ist das „Zentrum zur Bekämpfung von Extremismus“, das 2008 als Abteilung des Innenministeriums gegründet wurde und Aktivist*innen systematisch überwacht, verfolgt und schikaniert
Eine dieser Anti-Kriegs-Aktivist*innen ist die 78jährige Malerin Elena Osipova, die für ihre Aktivitäten persönlich attackiert wurde und deren Bilder von der Polizei bei einer Ausstellung konfisziert wurden. Ein anderer Aktivist, der Arzt Dmitry Kolker, der an Krebs im Endstadium litt, wurde wegen Verdachts der Spionage für China verhaftet und starb im Gefängnis.
Als Beispiel für oppositionelle Gruppen kann das Projekt „gulagu.net“ dienen, das Korruption und Folter in Russland dokumentiert. Obwohl Folter in Russland verboten ist, wird insbesondere in Gefängnissen systematisch gefoltert, was zu massiven Gefängnisprotesten bis zu Massensuiziden führt.
Die feministische Anti-Kriegs-Bewegung wurde von Lolya vorgestellt. Diese setzt sich aus feministischen Initiativen in unterschiedlichen Regionen der Russischen Föderation wie auch im Exil zusammen, die zu Beginn des Krieges begannen zu kooperieren – bei politischen Aktivitäten, aber auch im Bereich der humanitären Unterstützung. Auch diese Bewegung sieht sich mit massiver Repression und einer Reihe von Verhaftungen konfrontiert, sodass öffentlichkeitswirksame Aktivitäten nur außerhalb des Landes umgesetzt werden können. Viele der Aktivistinnen im Land müssen anonym bleiben; für manche ist es auch zu gefährlich, an Protesten auf der Straße teilzunehmen. Der Geheimdienst versucht, die Kommunikationskanäle zwischen den Frauen im Land und denen im Exil zu blockieren.
In der Bewegung engagieren sich in erster Linie Frauen im Alter von 20 bis 40 Jahren. Sie setzen Zeichen des Protests im öffentlichen Raum – Graffiti, Flugblätter, QR-Codes – und in digitalen Medien, um die Informationsblockade in Russland zu durchbrechen, und sie unterstützen ukrainische Vertriebene in der Russischen Föderation wie auch russische Staatsbürger*innen, die das Land verlassen wollen, um der Mobilisierung zu entgehen, oder die wegen ihres Aktivismus verfolgt werden.
Die beiden Veranstaltungen haben verdeutlicht, dass die Linke einen differenzierten und zugleich effektiven Zugang zum Krieg in der Ukraine entwickeln muss. Dies betrifft einerseits die genaue Analyse des Geschehens und der unterschiedlichen Interessen, die diesen Krieg fördern, und andererseits die Unterstützung von denjenigen, die Widerstand leisten. Der Aufruf der russsischen Genoss*innen, in diesem Sinne Waffenlieferungen an die Ukraine zu unterstützen, führte zu einer kontroversiellen Debatte. Einigkeit herrschte aber darin, dass es gilt, den russischen Widerstand zu unterstützen und dass Druck auf die EU-Staaten ausgeübt werden muss, russische Migrant*innen, die sich dem Kriegsdienst verweigern oder wegen Aktivismus verfolgt werden, aufzunehmen.
[1] Buchbestellung freier Download hier: https://transversal.at/books/dieser-krieg-endet-nicht-in-der-ukraine?hl=cedillo Das Buch kann aber auch in gedruckter Form gekauft werden.