Diese Auszeichnung ist für die Katz

(Redaktion von „Posle“) Die Wiedereinführung des Titels „Heldenmutter“ reiht sich ein in die Bestrebungen Russlands, den Überfall auf die Ukraine in die Uniform des Großen Vaterländischen Kriegs zu kleiden. Welche Idee lag der sowjetischen Version dieses Ordens zugrunde? Und in welchem Kontext steht die aktuelle „Neuauflage“? Die Gender-Forscherin Sascha Talawer analysiert Geschichte und Bedeutung dieser Auszeichnung.

Am 15. August 2022 unterzeichnete Wladimir Putin einen Erlass über die neuerliche Aufnahme des früher legendären Ordens für „Heldenmütter“ in die Liste der staatlichen Auszeichnungen. Gemäß dem Erlass des Präsidenten wird dieser Titel an Frauen verliehen, die zehn oder mehr Kinder zur Welt gebracht und großgezogen haben. Zudem ist eine Pauschalzahlung von einer Million Rubel vorgesehen. Angesichts der Tatsache, dass laut einer Studie von Rosstat [dem Föderalen Staatlichen Dienst für Statistik] die durchschnittlichen monatlichen Ausgaben pro Person in einer Drei-Kind-Familie im Jahr 2020 10.148 Rubel betrugen, erscheint die Höhe dieser Einmalzahlung an „Heldenmütter“ exorbitant. Aber weit mehr verstört die Tatsache, dass dieser Orden unter den heutigen Umständen buchstäblich niemandem zugutekommt. Die Wiedereinführung hat also praktisch keine materiellen Auswirkungen, sondern ist lediglich Ausdruck der leicht zu durchschauenden Absicht, eine symbolische Verbindung zwischen dem gegenwärtigen imperialistischen Krieg und dem Großen Vaterländischen Krieg herzustellen. Auch wenn mit diesem Orden ein bestimmtes reproduktives Verhalten gefördert werden soll, handelt es sich dabei nicht um eine bevölkerungspolitische Maßnahme, sondern um einen Rückgriff auf ein historisches Modell. Umso mehr verdeutlicht das Ansinnen, typisch sowjetische Symbole auf das postsowjetische Russland zu übertragen, die Kluft zwischen sozialistischen Grundsätzen und dem modernen neoliberalen Kapitalismus, dem auch Putins Sozialpolitik weitgehend unterworfen ist.

Jede bekommt, was ihr zusteht

Der Erlass zur Wiedereinführung dieser Auszeichnung entspricht in keiner Weise den realen Verhältnissen im modernen Russland. Denn im Durchschnitt hat eine „Großfamilie“ [Anm.: „Mehrkindfamilie“ oder многодетная семья auf Russisch] 3,3 Kinder, und in ganz Russland gibt es bei einer Gesamtbevölkerung von 144 Millionen nur 100.000 Familien mit fünf oder mehr Kindern. Allerdings sind laut Aussage von Wissenschaftler:innen die staatlichen statistischen Daten wenig zuverlässig sind. Parallel dazu wird in Russland bereits seit 2008 der „Staatsorden für elterlichen Ruhm“ an Familien verliehen, die fünf oder mehr Kinder großziehen. Damit folgt Russland dem Beispiel anderer postsowjetischer Staaten, die ebenfalls Auszeichnungen aus der Sowjetzeit für Mütter, die viele Kinder zur Welt bringen, wiedereingeführt haben. So gibt es in Weißrussland seit 1995 einen „Mutterorden“ [ордэн Маці] für fünf oder mehr Kinder, und in Kasachstan erhalten Mütter von sechs bzw. sieben Kindern seit 1996 den „Goldenen Anhänger“ [Алтын алқа] bzw. „Silbernen Anhänger“ [Күміс алқа]. In der Ukraine wurde im Jahr 2004 der Orden „Heldenmutter“ [Мати-героїня] für Eltern von fünf oder mehr Kindern wiedereingeführt. Darüber hinaus werden Eltern in vielen Regionen Russlands mit diversen Auszeichnungen auf regionaler Ebene bedacht.

Doch selbst angesichts der äußerst geringen Zahl von Familien, die fünf (oder mehr) Kinder großziehen, erhielten im Zeitraum von 2009 bis 2021 nur ganz wenige der in Betracht kommenden Zielgruppe den „Orden für elterlichen Ruhm“ (494 Familien bzw. 0,5 %). Hingegen wurden in der UdSSR von 1944 bis 1991 mehr als 18,5 Millionen Frauen mit verschiedenen Auszeichnungen für fünf oder mehr Kinder geehrt. Der „Heldenmutterorden“ ging an mehr als 400.000 Frauen, der Orden „Ruhm der Mutter“ (in verschiedenen Abstufungen für sieben bis neun Kinder) an mehr als 5,5 Millionen und die „Medaille der Mutterschaft“ (in verschiedenen Abstufungen für fünf bis sechs Kinder) an mehr als 13 Millionen Frauen. Zum Vergleich: Laut Volkszählung 1989 lebten in der UdSSR etwa acht Millionen Frauen „zahlreicher Nationalitäten“ mit fünf oder mehr Kindern. Während in Russland im Jahresdurchschnitt nur 38 Personen mit dem „Orden für elterlichen Ruhm“ ausgezeichnet werden, waren es in der UdSSR im gesamten Zeitraum, in dem es Auszeichnungen für die Aufzucht von fünf oder mehr Kindern gab, durchschnittlich 383.333 Frauen pro Jahr. (In den ersten Monaten nach der Einführung der Orden „Heldenmutter“ und „Ruhm der Mutter“ erhielten 88 Frauen die jeweiligen Auszeichnungen.)

Es ist davon auszugehen, dass diese Zahlen nicht nur auf die Unterschiede zwischen den kaum vergleichbaren Reproduktionsstrategien und Programmen zur sozialen Absicherung (auf die weiter unten eingegangen wird) im heutigen Russland und in der Sowjetunion zurückzuführen sind. Zum einen geht daraus klar hervor, dass der Anteil der Empfängerinnen an der Gesamtzahl der Anspruchsberechtigten (basierend auf der Zahl der aufgezogenen Kinder) im postsowjetischen Russland gesunken ist. Zum anderen veranschaulichen die Zahlen aber auch, dass die Programme zur Unterstützung von Müttern im neoliberalen Russland der Logik des Marktes folgen, die durch das Selektionsprinzip, nur die „Besten der Besten“ auszuwählen, die Bevölkerung gegeneinander ausspielt. Es reicht nämlich nicht mehr aus, fünf Kinder aufzuziehen, was an sich schon eine außergewöhnliche Reproduktionsleistung erfordert. Heute müssen Antragstellerinnen zusätzliche Kriterien erfüllen, um eine Beihilfe zu erhalten: So müssen sie „eine sozial verantwortliche Familie gründen, einen gesunden Lebensstil führen, ein angemessenes Maß an Verantwortung für die Gesundheit, die Erziehung, die körperliche, geistige und moralische Entwicklung der Kinder bieten, die volle und harmonische Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit garantieren sowie bei der Aufwertung der Familie als Institution und bei der Erziehung der Kinder mit gutem Beispiel vorangehen“.

Heldentum – ja, Unterstützung – nein

Verglichen mit dem heutigen Russland, wo etwa 100.000 Familien fünf oder mehr Kinder großziehen, gab es unter den zahlreichen Nationalitäten der UdSSR 3.620.555 Familien dieses Typs. Diese Zahlen deuten nicht nur auf eine Revolution bei den Verhütungsmitteln hin, sondern signalisieren auch Veränderungen im Fortpflanzungsverhalten aufgrund der wirtschaftlichen Unsicherheit potenzieller Eltern.

Im heutigen Russland ist die Zahl Kinderanzahl ein Indikator für die Armut einer Familie. Von 2013 bis 2019 machte laut Rosstat der Anteil der von Armut betroffenen Familien (das sind jene, in denen das Einkommen pro Familienmitglied unter dem Existenzminimum liegt) bei Familien mit drei oder mehr Kindern fast die Hälfte aus, nämlich 46,7 %. Es ist auch festzustellen, dass Mehrkindfamilien eine der größten Gruppen unter den Armen bilden und dass ihr Anteil an allen von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppen von 2013 bis 2019 stetig zugenommen hat.

Vor diesem Hintergrund steht die Wiedereinführung des „Heldenmutterordens“ durch Putin im Widerspruch zu seiner demonstrativ zur Schau gestellten Sorge um das Kindeswohl. Die aktuelle Aus­zeichnung sollte zum Anlass genommen werden, den historischen Hintergrund der Annahme des sowjetischen Dekrets in Erinnerung zu rufen. Der vollständige Titel des Erlasses gibt unmissverständlich Auskunft über seinen Inhalt: „Über die Erhöhung der staatlichen Hilfe für schwangere Frauen und alleinerziehende Mütter, den verstärkten Schutz von Mutterschaft und Kindheit, die Einführung des höchsten Grads der Auszeichnung – des Titels ,Heldenmutterʻ – und die Einführung des Ordens ,Mütterlicher Ruhm’ und der ,Medaille der Mutterschaft’.“ Das [sowjetische, Anm. d. Ü.] Dekret zu dem Heldenorden zielte in erster Linie auf eine „Erhöhung der staatlichen Hilfe“ ab: Dieser Aspekt der gleichnamigen historischen Auszeichnung wird von dem gegenwärtigen russischen Regime verschämt verschwiegen.

Dennoch wäre es verlogen, das Dekret von 1944 als Inbegriff einer legitimen Anerkennung der Arbeit von Müttern darzustellen. Mit diesem Dekret (das bemerkenswerterweise ursprünglich von Chruschtschow verfasst wurde) sollte die Geburtenrate gesteigert werden, unter anderem durch die Befreiung der Männer von der finanziellen Verantwortung für Kinder, die außerhalb einer eingetragenen Ehe geboren wurden. Während die frühere Gesetzgebung im Geiste des sozialistischen Feminismus gleiche Rechte für eheliche und außereheliche Kinder vorsah, nahm das Dekret von 1944 Frauen die Möglichkeit, inoffiziellen Partner (denen stillschweigend die bürgerliche Bezeichnung „Liebhaber“ verpasst wurde) die Vaterschaft zuzuerkennen; das würde sie zur Zahlung von Alimenten verpflichten und Scheidungsverfahren erschweren. So entstand in der sowjetischen Sozialpolitik der Status der „alleinerziehenden Mutter“, der sich vor allem in der Nachkriegs-UdSSR durchsetzte und die Verantwortung für Kinder und Familie ausschließlich auf die Frauen abwälzte. Diese reaktionäre Tradition – die Vorstellung, dass allein die Frau für die Familie verantwortlich ist – wird vom modernen russischen Staat fortgesetzt, indem er die so genannten „traditionellen Werte“ hochhält.

Vor dem Hintergrund des neuen sozialen Typs der alleinerziehenden Mutter könnte man die im Dekret von 1944 vorgesehenen staatlichen Beihilfen auch als Zynismus interpretieren. Dennoch enthielt dieses Dekret mehrere Neuerungen zur Unterstützung von schwangeren Frauen sowie von kinderreichen und von „alleinstehenden“ Müttern. Ein Vergleich des Dekrets von 1944 zum Schutz von Alleinerzieherinnen mit der modernen russischen Gesetzgebung läuft auf eine unerhörte sozialpolitische Farce hinaus. So waren die Beihilfen für alleinerziehende Mütter nach dem sowjetischen Dekret weder vom Familienstand noch vom Wohnort oder vom Einkommen abhängig und wurden bis zur Vollendung des zwölften Lebensjahres des Kindes ausbezahlt: 100 Rubel pro Monat und Kind, 150 Rubel für zwei Kinder und 200 Rubel für drei oder mehr Kinder, und das bei einem Durchschnittslohn von 442 Rubel im Jahr 1945. Hingegen differenziert die moderne russische Gesetzgebung nach sozioökonomischem Status: Wenn etwa das Gehalt einer Mutter das Doppelte des Mindestlohns beträgt, hat sie nicht einmal für Kinder unter sieben Jahren Anspruch auf finanzielle Unterstützung. Auch die Höhe der Beihilfen ist verblüffend, obwohl sie erst kürzlich angehoben wurde: Seit 2021 beträgt die Zahlung für einen alleinerziehenden Elternteil mit einem Kind im Alter von 8 bis 16 Jahren 5.650 Rubel – bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von 56.545 Rubel im Jahr 2021.

Ungeachtet der paternalistischen Anwandlungen von Putin werden die letzten Überreste des sowjetischen Systems zur Förderung der Reproduktionstätigkeit beseitigt – sowohl auf gesetzlicher Ebene als auch hinsichtlich der Beihilfen und der Infrastruktur. Obwohl die UdSSR in der Nachkriegszeit ihre erklärten Ziele bei der Schaffung der notwendigen Voraussetzungen für die Umsetzung ihrer Bevölkerungspolitik regelmäßig verfehlte (so wurden die Normen für den Bau von Krippen und Kindergärten, Kantinen, Wäschereien usw. nicht erfüllt), waren Fragen des Alltagslebens zumindest bis zur Perestroika ständiges Thema in Frauenzeitschriften. Die russische Regierung hingegen versucht hartnäckig, die Zuständigkeit für die Reproduktion der Bevölkerung auf die Schultern der Frauen abzuwälzen, indem sie sich auf die „traditionellen Werte“ und den Stellenwert der familiären Erziehung beruft – in der Hoffnung, dass sie sich mit symbolischen Anerkennungen anstelle einer echten wirtschaftlichen Umverteilung aus der Verantwortung stehlen kann.

Die Militarisierung der Mutterschaft

Der neue Orden „Heldenmutter“ hat mit einer tatsächlichen Unterstützung für Mütter absolut nichts zu tun. Vielmehr ist er Mittel zum Zweck im Rahmen einer Symbolpolitik, indem er auf die vom russischen Regime angestrebte Kontinuität mit der stalinistischen Regierung und dem Großen Vaterländischen Krieg anspielt. Zudem handelt es sich um einen Schritt in Richtung Militarisierung der Mutterschaft.

Wie Cynthia Enloe einmal bemerkt hat, „kann alles militarisiert werden“, und die Mutterschaft ist da keine Ausnahme. Seit einigen Jahren kann man beobachten, wie anlässlich des 9. Mai [in Russland „Tag des Sieges“] Kinder in Militäruniformen gesteckt und Kinderfahrräder oder Kinderwagen mit militärisch-patriotischen Utensilien geschmückt werden. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar hat der Kult um die Mutterschaft im Sinne eines Beitrags zur Aufzucht künftiger Soldaten jedoch andere Dimensionen angenommen und immer mehr an Dynamik gewonnen. Die spektakuläre Werbekampagne „Schütze mich heute, und ich kann dich morgen schützen“ weist den Frauen unmissverständlich die Rolle als Produzentin von Kanonenfutter zu, wobei gleichzeitig die reproduktiven Rechte im Namen der Sicherheit Russlands beschnitten werden. Die Rückbesinnung auf die Werte aus der Zeit des Großen Vaterländischen Kriegs ist Teil dieser paternalistischen PR-Strategie. Im Extremfall werden Frauen durch die versuchte Steuerung ihres reproduktiven Verhaltens dazu gedrängt, ihre einzige Berufung in der Mutterschaft zu sehen. Somit fügt sich die Auszeichnung „Heldenmutter“ nahtlos in die Logik der Anti-Abtreibungskampagnen, da den Frauen für die Geburt einer großen Menge künftiger Soldaten der Orden der „Held der Russischen Föderation“ in Aussicht gestellt wird. Die Stalinjahre, aus denen der Orden stammt, der jetzt seine Wiederauferstehung feiert, waren von der Rückkehr zum Verbot und der Kriminalisierung von Abtreibungen geprägt. Das gegenwärtige russische Regime schafft trotz seiner Beteuerungen, wie wichtig es ist, „das Volk zu retten“, permanent die Voraussetzungen für einen Bevölkerungsrückgang. Der derzeitige Krieg in der Ukraine – mit seinen schweren Verlusten, den negativen wirtschaftlichen Folgen und sozialen Umwälzungen – wird zu einem weiteren Bevölkerungsrückgang führen, den das Regime anscheinend mit lächerlichen Anordnungen und Versuchen, das Fortpflanzungsverhalten von Frauen zu regulieren, ausgleichen möchte. Vor diesem Hintergrund erscheint ein möglicher künftiger Vorstoß, Abtreibungen aus der verpflichtenden Krankenversicherung zu streichen, immer realistischer – und immer beängstigender. In diesem Sinn lässt sich die Rückkehr des „Heldenmutterordens“ nur als Bedrohung der reproduktiven Rechte der Frauen interpretieren.


Aus dem Englischen übersetzt von EF. Anmerkungen der Redaktion der Online-Publikation Posle und von der Übersetzerin ins Deutsche sind durch eckige Klammern kenntlich gemacht.

Quelle: https://posle.media/language/en/a-reward-for-nobody/
Original: https://posle.media/nagrada-dlya-nikogo/


Sascha Talawer ist Gender-Forscherin, Aktivistin der Russländischen Sozialistischen Bewegung (RSD) und hat an feministischen Antikriegsinitiativen teilgenommen. Sie arbeitet an einer Dissertation über „The role of the Soviet Women’s Committee in gender policy-making in the Soviet Union (1945-1991)“. Am 8. März 2020 erschien ein Artikel über die Entkriminalisierung der Abtreibung in der Sowjetunion im Jahr 1955 von ihr auf Jacobin. (Es gibt auch eine deutschsprachige Ausgabe von Jacobin)